
von Jobst Landgrebe
Die Athener Vollbürger des 5. Jahrhunderts waren Freiheitsfanatiker. Sie liebten ihren Stadtstaat, weil es ihnen auf dem Höhepunkt der Demokratieentwicklung gelungen war, ihn durch soziale und rechtliche Normen so zu gestalten, dass der Staat das notwendige Gewaltmonopol innehatte, ohne es wesentlich zu missbrauchen. So waren sie wahrhaft frei, konnten ihren individuellen und kollektiven Willen ausleben, solange sie sich an die sozialen und rechtlichen Normen hielten. Freiheit auszuleben geht mit individueller Risikobereitschaft und kollektiver Wehr- und Opferbereitschaft sowie Dankbarkeit für das Gemeinwesen einher, da Willensentfaltung die Möglichkeit zum Scheitern beinhaltet und nach außen gerichtet zu Konflikten mit anderen Staaten führt. Die Athener waren bereit, diese Risiken zu tragen und im bewaffneten Konfliktfall selbst in den Krieg zu ziehen und sich für ihr Gemeinwesen zu opfern. Sie waren ihren Mitbürgern dafür zutiefst dankbar und ehrten die Opfer ihrer Risikobereitschaft.
von Ulrich Schödlbauer
Wer täglich erfährt, wie sich die spielerische Erprobung der Differenz an den sogenannten ›Realitäten‹ bricht, der bildet leicht einen Respekt vor der Wirklichkeit aus, in dem die Kluft zwischen den Möglichkeiten des Einzelnen, sich zu unterscheiden, und den Unterschieden, die ohne ihn gemacht werden, deren Wirksamkeit er aber am eigenen Leib erfährt, unüberbrückbar geworden ist. Die anonyme Kommunikationsgesellschaft, die dem Bedürfnis nach einer bunteren Welt entgegenkommt, verschärft diese Disposition, weil sie Distanz gleichermaßen aufhebt wie schafft. Die mediale Präsentation von Fernverhältnissen, als seien es Nahverhältnisse, erzeugt jenen Orientierungsraum, in dem alle erdenklichen Optionen zwar gegenwärtig (und insofern real), aber nicht reell sind. Medienkonsumenten geht es da nicht anders als den Lesern historischer Romane, die sich als immaterielle Begleiter im Nahfeld eines Personals einnisten, welches ›in Wahrheit‹ längst verstorben und mitsamt der Konstellation, die sie hervorgebracht hat, im Abgrund der Zeit verschwunden ist.
von Herbert Ammon
Die Wahlunterlagen sind eingetroffen, an den Bäumen und Laternen hängen die Wahlplakate, auf denen sich die Parteien im Wettbewerb um das beim Wahlvolk vermutete niedrigste Niveau geistig übertreffen. Zum 12. Februar 2023 sind wir Bürger (sc. -innen, m/w/d) des Landes Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik, aufgerufen zu wählen. Wir dürfen oder sollen wieder wählen, nachdem das Verfassungsgericht des Landes nahezu einstimmig das Prozedere der zurückliegenden Wahl am Tag des weltpolitisch bedeutsamen Berlin-Marathons am 26. September 2021 sowie den Modus der Stimmenauszählung als gravierende Verletzung demokratischer Prinzipien befand.
von Ulrich Schödlbauer
Wir wissen nicht, wer Uschi, Horst und Babs sind, ihre Spur verliert sich im Dunkel der Geschichte, aber ihr Blumenkübel ist geblieben. Man muss das festhalten (oder erinnern, wie der entsprechende Ausdruck lautet), damit es nicht eines Tages heißt, es habe sie nie gegeben und in Wahrheit hätten Eliza, Bob und Hilary der Welt den Kübel geschenkt… Die Wahrheit ist: Uschi, Horst und Babs sind ewig, weil sie allgegenwärtig sind. Dass sie überdies wahr sind, wie der Künstler lehrt, liegt weniger an Wladimir Iljitsch Lenin, dem die Welt das Original verdankt – natürlich ohne Hinweis auf unser Dreigestirn –, als vielmehr an ihrem Wesenskern. In ihm sind Bekennen und Wissen eins. Das Bekennen kommt vor dem Wissen und bringt es praktisch hervor. Man nennt das seit Kant den Primat der Praxis. Leider vergaß der Königsberger hinzuzusetzen, dass es die revolutionäre Praxis ist, die das Wissen um die wahren Weltverhältnisse hervorbringt. Aber das versteht sich – seit Lenin – praktisch von selbst.
von Ulrich Schödlbauer
Das Risiko unterzugehen wächst im Quadrat einer Erfahrung, die sich in die Worte fassen lässt: Hoppla, wir schwimmen ja! Der Glaube an sich selbst (und seine Sendung) treibt den Menschen hinaus, aber er fühlt sich nicht als Getriebener, sondern als Gestalter. Ein herrliches Gefühl, wenn man mich fragt, aber ein trügerisches. Das macht sich im Unglauben bemerkbar, der still und heimlich an der Wurzel des Glaubens nagt und ihn in immer größere Höhen klettern lässt, während er zäh seinen Fall betreibt. Man kann das gut an den öffentlich-unredlichen Investoren in die Meinungsvielfalt beobachten, deren Gesinnungsstärke stark vom Gewicht der Institutionen abhängt, die sie beherbergen. Im Rudel glaubt es sich besser. Andererseits kennt das Rudel sich selbst genau und weiß, wie wenig es bedeutet, was die Kollegin gerade ihren Zuhörern auftischt, und was dabei alles unter den Tisch fällt.
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Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2023 Monika Estermann: Lascaux