von Stephan Hilsberg

Die Anhänger des im Grundgesetz festgehaltenen Wiedervereinigungsgebots sahen sich von ihrer ursprünglichen Mainstream-Position im Westdeutschland der 50er Jahre in  den 70er und 80er Jahren zunehmend an den Rand der öffentlichen Debatte gedrängt. So nachvollzieh- und erklärbar dieser Prozess heute erscheint, stellt sich angesichts der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und auch des zu konstatierenden Erfolgs des Prozesses der inneren Einheit die Frage, ob er auch  gerechtfertigt war. In den USA gibt es zu dieser Frage inzwischen einen ganz anderen Diskurs als hierzulande. Jenseits des Atlantiks ist die deutsche Teilung der Schlüssel für das Entstehen des Kalten Krieges und logischerweise ihre Überwindung der Schlüssel zu dessen Ende. In der deutschen Geschichtsdebatte sind indes noch immer zu sehr die Denkmuster der 80er Jahren zu spüren, wirken alte Denkmuster und Tabus noch  heute nach.

Gerade weil die Teilung Deutschlands zu keiner Zeit absolut war und viele Verbindungslinien von einem Staat in den anderen führten, dennoch aber in Ostdeutschland angesichts der Zwangsjacke, in die die SED die öffentlichen Meinung ihrer DDR-Gesellschaft gesteckt hatte, ein Diskurs über das Gebot der Wiedervereinigung nicht stattfinden konnte, ist es gerechtfertigt, die Frage nach der Rechtfertigung des Festhaltens an der Wiedervereinigung damals heute mit einem Abstand von über 20 Jahren als Ostdeutscher zu reflektieren. Solch eine Betrachtung kann gar nicht anders als subjektiv sein, aber mehr als eine Beschreibung eigener Befindlichkeiten. Das bedeutet Subjektivität ja auch gar nicht. Vielmehr ist es ein sich Einlassen auf eigene Empfindungen und Eindrücke, eigene Gedanken, wie sie im Laufe der eigenen Erlebnis-, Bildungs- und Kommunikationsgeschichte entstanden sind und sich darin entwickelt haben. Und so kann ich auch gar nicht nur wiedergeben, was ich zur Zeit der Teilung über sie als Ostdeutscher, zwangsweise DDR-Bürger gedacht und erlebt habe, zumal die Sicht darauf sich im Laufe der beiden zurückliegenden Jahrzehnte selbstverständlich verändert hat.

Ostdeutschen war die Lösung vorbehalten

Meine These zum Verständnis der Überwindung der Deutschen Teilung lautet, dass den Ostdeutschen die Lösung für die Deutsche Frage vorbehalten war. Die wesentliche Schwäche der westdeutschen Einigungsbefürworter war ihre Ratlosigkeit in Bezug auf ein Konzept zur Überwindung der deutschen Teilung aus westdeutscher Handlungsperspektive. Heute sieht es so aus, als hätten die Einigungsbefürworter Recht gehabt, und in der Tat, die historische Entwicklung gibt ihnen selbstverständlich Recht. Doch das ändert nichts an ihrer vorherigen Ratlosigkeit.

Ich muss zugeben, dass ich in dieser Frage auch als Ostdeutscher bis in die 80er Jahre selber ziemlich ratlos war. Subjektiv hielt ich die deutsche Einheit für ein Thema von gestern, wunderte mich aber über ihre faktische Substanz in geheimen Hinterzimmern ostdeutscher Seelen, denen ich mich gleichwohl verwandt fühlte. Sei es der sehnsuchtsvolle Blick eines Kollegen in den frühen Morgenstunden am Ende einer Nachtschicht in den Westen Berlins, damals vielleicht 500 m von uns entfernt, sein Blick nach „zu uns drüben“. Sei es die existenzielle Aufgabe der DDR, die jeder Ausreiseantragssteller in die BRD vollzog. Oder sei es das Wissen um die Parolen des 17.Juni, die so schnell in der Forderung nach Wiedervereinigung gipfelten. Diese Beobachtungen machten deutlich, dass mit der Deutschen Einheit mehr als nur Denkverbote und Verdrängungen verbunden waren. Und natürlich spürte man die Angst der Kommunisten in der DDR vor einem Wiedervereinigungswunsch der Ostdeutschen, warum denn sonst wurde sie so hart geschmäht, und mit Verdikten wie Revanchismus, Kalter Krieg etc. versehen? Selbst harmlose Scherze mit dem 17.Juni als Tag der Deutschen Einheit waren geeignet, einen als Ostdeutschen gegenüber seinen Chefs, bei der Armee gegenüber den Offizieren, in eine arge Bredouille zu bringen.

Mit Reagan und Gorbatschow wurden diese seelischen Hinterzimmer etwas gelüftet, und es trauten sich mehr Landsleute wie ich es erinnere, selbst an die Deutsche Einheit zu erinnern. Plötzlich tauchte die Perspektive auf, dass Gorbatschow tatsächlich die Mauer aufmachen könnte, wie Reagan es von ihm verlangt hatte.

Ein Zugehörigkeitsgefühl empfunden

Szenenwechsel. Ich weiß noch, wie ich verwundert bei meiner ersten Westreise, das war 1986, durch das glitzernde Westberlin spazierte, allein, und mir den Kopf zermarterte über das, was ich hier empfand. Dieses Westberlin war Berlin, es war mein Berlin wie das Ostberlin auch. Es war ein Teil jenes Deutschlands, das genauso zu mir gehörte, in gewissem Sinne mir gehörte, wie meine Heimat im Osten auch. Natürlich lag die Teilungsgeschichte dazwischen. Aber das ändert ja nichts an meinem Zugehörigkeitsgefühl. Und damals wusste ich nichts von Artikel 23 im Grundgesetz, sicher etwas von seinem Wiedervereinigungsgebot, und der Forderung, Berlin zur Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands zu machen. Doch das schienen Worthülsen zu sein, Phrasen, denen ich keine Bedeutung schenkte, genausowenig wie dem hohlen Pathos vieler Reden zum 17. Juni im Bundestag. Es war die Geschichte, die mich zu diesem Westberlin und später Westdeutschland zugehörig fühlen ließ. Aber es bedurfte erst des persönlichen Erlebens dieser West-Realität, bevor aus dem abstrakten Wissen gemeinsamer Geschichte ein substantielles, ein reales, spürbares Gefühl wurde. Vielleicht war es ja das Vorenthalten der westlichen Realität durch Abschottung und Mauerbau, welches das Gefühl für die Einheit der Deutschen Nation zum Verschwinden brachte.

Mir fielen damals wieder meine Träume ein, die ich als sechs- und siebenjähriges Kind im zuvor durch den Mauerbau geteilten Berlin nachts träumte. Da sah ich mich nämlich in der U-Bahn sitzen, die wie noch vorm Mauerbau zu unseren West-Verwandten nach Zehlendorf fuhr (wohin sie übrigens gar nicht fährt). Diese Träume hörten nach zwei Jahren auf. Und adäquat verlief mein Gewöhnungsprozess an die Mauer. Die Wiederkehr des Wissens um die Gemeinsamkeiten mit dem westlichen Teil Deutschlands erfolgte bei mir mit meinen Westreisen in den 80er Jahren, ein Erfolg westdeutscher Politik, den ich gar nicht hoch genug loben kann. Und so begann mein geistiger Prozess der intellektuellen Wiederaneignung der Deutschen Frage, die ich so lange ausgeblendet hatte.

Ich hatte damals keinen Kontakt mit Westdeutschen, die die Wiedervereinigung thematisierten. Und ich hätte sie wohl etwas belächelt. Doch als mir klar wurde, das war 1988, dass die Wiedervereinigung kommt, da hatte ich eine Begegnung, die mir westdeutsche Denkverbote zeigte, wie ich sie eigentlich nur bei unseren Kommunisten kannte. Denn in einem Gespräch mit Westberliner Gewerkschaftlern, in welchem ich meine Erwartung eines Zusammenbruchs der DDR und einer anschließenden Wiedervereinigung äußerte, die so oder so unausweichlich sei, wurde ich als Revanchist bezeichnet, von einem Westberliner Gewerkschafter (sic!). Schlimmer noch als blind geboren zu sein, ist es, sich selber zu blenden. Nichts anderes tat dieser wackere Kämpfer für den Weltfrieden.

Doch dies alles ist nur die Hälfte der Geschichte, die ich an dieser Stelle zu erzählen habe. Reflexionen bleiben bekanntlich nicht stehen, einmal angefangen, können sie nicht mehr aufhören.

Meine Erlebnisse von damals waren erst der Anfang der Betrachtungen über die Deutsche Einheit, rechtzeitig allerdings begonnen für mein politisches Engagement als erster Sprecher der neugegründeten sozialdemokratischen Partei in der DDR. Die friedliche Revolution in der DDR, der schnelle Zusammenbruch der SED-Herrschaft, der Ruf nach der Deutschen Einheit in Leipzig und den anderen Städten in der DDR, traf den westdeutschen Politiker-Mainstream auf dem falschen Fuß. Niemand hatte damit gerechnet. 1989 schuf neue Tatsachen. Diese zur Kenntnis zu nehmen, war die eine Seite. Sie zu verarbeiten, eine andere.

Der Kampf der zwei Lager

Ich kann ja verstehen, welchem Druck sich die Einheitsbefürworter im Westen Deutschlands angesichts der Anerkennungsrhetorik für die DDR ausgesetzt sahen. Hier war etwas passiert, unter dem wir alle zu leiden hatten, und an dem wir noch immer leiden. Es sind die Denkverbote und Irrwege unter alliiertem Vorbehalt.

Der Zweite Weltkrieg hatte zwei Lager verbünden lassen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, die aber mit dem Krieg gegen den deutschen Nationalsozialismus ein gemeinsames Anliegen verband. Die Unterschiede waren verschmerzbar, solange es Hitler zu besiegen galt, sie brachen auf, als dessen Ende nahte. Der Kampf um die Einflußsphären in der Nachkriegsperiode setzte schon in den letzten Kriegsjahren ein, und er führte unmittelbar zur deutschen und Berliner Teilung. Der Kampf der beiden Lager war ein Kampf um Deutschland. Niemand der beiden Lager konnte seinen Anspruch um Deutschland preisgeben. Und ein Krieg um die Lösung dieses Machtkampfes kam wegen der neuartigen Atomwaffen aus Gründen der Selbsterhaltung und der Erhaltung  der menschlichen Art nicht in Frage. So erstarrte der Konflikt  am Eisernen Vorhang und schließlich an der Berliner Mauer.

Deutschland war nicht souverän in diesen Jahren seiner Teilung. Die alliierten Vorbehaltsrechte bedeuteten die Fortsetzung von Besatzungsrecht. Niemals hätten die Amerikaner die deutsche Einheit erlaubt, wenn diese die Ausdehnung des kommunistischen Einflussbereiches bedeutet hätte. Und niemals hätte die SU die deutsche Einheit erlaubt, wenn sie westlich gewesen wäre. Und so konnten die Deutschen völkerrechtlich nicht über ihre Zukunft entscheiden. Und daran hielten sie sich, bis auf zwei Ausnahmen, die eine war der 17.Juni 1953, und die andere die friedliche Revolution 1989. Im Unterschied zu 53 war die SU so schwach geworden, dass es nicht mehr in ihrem Interesse lag, und wohl auch nicht mehr in ihren Möglichkeiten, ihren Einflussbereich in Mitteleuropa aufrecht zu erhalten. Dazwischen gab es die Entspannungspolitik der sozial-liberalen Koalition, die bereits in der großen Koalition Kiesinger/Brandt ansatzweise erkennbar wurde, und nach ihr von der Kohl/Genscher-Regierung fortgesetzt wurde. Doch die Entspannungspolitik veränderte nichts an der Teilung, das wollte und konnte sie auch gar nicht, sie versucht die Teilung irgendwie erträglicher, „humaner“ zu machen, ein historisches Paradoxon.

An ein Ende des Kalten Krieges dachte offenbar niemand. Wohl aber begannen, bezeichnenderweise nach dem Mauerbau die verschiedensten Theorien über die Bedeutung und Zukunft der deutschen Teilung ins Kraut zu schießen. Sie alle ließen die alliierten Vorbehaltsrechte außer Acht. Mancher in Deutschland versuchte aus der Not eine Tugend zu machen, versuchte der Teilung einen Sinn zu geben, manchmal einen theologischen („Die Teilung bedeutet das Abtragen deutscher Schuld“), manchmal einen postnationalen („Deutschland hat den Nationalstaat überwunden.“). Man versuchte sich zu arrangieren, man verklärte die kommunistische Herrschaft, man suchte nach neuen Perspektiven in Ost und West, die heute manchmal lächerlich wirken. Wer denkt noch gerne an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz, an die religiös verklärten Vorstellungen der ostdeutschen Opposition? Wer gesteht sich noch ein, dass die Suche nach einem gemeinsamen Haus Europa ohne die Amerikaner blanke Utopie war, uneinlösbar, und völlig unrealistisch? Es waren nicht nur Sozialdemokraten oder Grüne, die Salzgitter abschaffen wollten, oder die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen.

Deutsche Einheit und Ende des Kalten Kriegs

Es war offenbar schwer auszuhalten, dass die deutsche Einheit nur mit der Lösung des Kalten Krieges gemeinsam machbar war, dass sie sich gegenseitig bedingten. Und dass das eigentlich bedeutete, dass die deutsche Einheit nur dann machbar war, wenn die Kommunisten in der DDR abdankten, erschien genauso wenig vorstellbar.

Folgerichtig geriet der Traum von der Wiedervereinigung in die Hinterzimmer der ostdeutschen Seelen und galt zunehmend auch im Westen als Zeichen unverbesserlicher Politiker, die geistig den 50er Jahren verhaftet blieben. Und je stärker sich der westdeutsche Mainstream von der deutschen Einheit verabschiedete, desto mehr Hoffnung auf eine bessere Zukunft erlosch in der DDR. Denn hier glaubten die Massen nicht an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Und wäre er gekommen, wären jemals hier freie Wahlen von einer noch-immer-SED abgehalten worden, sie wäre weg vom Fenster gewesen.

In den 50er Jahren gab es in der DDR noch etliche Widerstandsgruppen, die offen für eine Demokratisierung der DDR und die deutsche Einheit eintraten. Sie bezahlten einen hohen Blutzoll für ihre aktiv gelebten Überzeugungen. Nach dem Mauerbau hörte das alles auf. Der Kalte Krieg hatte eine neue Schlacht geschlagen. An deren Ende erschien er verfestigter denn je. Eine Lösung nicht in Sicht. All dies sah die Entspannungspolitik als die Ultima Ratio in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten. Und so unterstützen selbstverständlich auch viele Anhänger der Wiedervereinigung diese Entspannungspolitik. Gab es denn eine Alternative?

Dieses Einrichten auf die Realität der Teilung und des kommunistischen Regimes erzeugte Denkverbote und Traumata ganz eigener Art. Jeder, der in Ostdeutschland mögliche Veränderungen im Status quo der beiden deutschen Staaten thematisierte, der sich gar für ein Zusammengehen beider deutscher Staaten aussprach, dachte das entweder unter kommunistischen Vorzeichen, das war undiskutabel, oder er dachte es frei, dann war er ein Revanchist, Kalter Krieger und Kriegstreiber für die SED. Dann stellte er die Stabilität des ach so fragilen Gebildes des europäischen Friedens mit den Atommächten auf beiden Seiten in Frage. Das war die politische Grundlage, die Illusionen über die Zukunft Deutschlands in Kraut schießen ließen. Illusionen, Denkverbote, Tabus, Verdrängungen, unterdrückte Schmerzen, waren die politische Realität in Ostdeutschland jener Jahre. Der Traum von der Deutschen Einheit traumatisierte sich. Und in Westdeutschland? Es war hier nicht viel anders. Und es waren nicht einfach die Medien, wie Hubertus Knabe schreibt, die in Westdeutschland für eine Abkehr von der Wiedervereinigungsrhetorik verantwortlich zu machen waren. Es war allgemeine Ratlosigkeit, in Wirklichkeit Zeichen intellektuellen Mangels. Das mag arrogant klingen, wenn ich das heute so schreibe. Aber Karl Jaspers durchschaute, als er 1959 die Frage nach dem Wert  der deutschen Einheit stellte, die Verbindung von Kaltem Krieg und Deutscher Frage eben nicht, sonst hätte er die Frage anders stellen können. Etwa, was bedeutet das Recht auf Selbstbestimmung in Zeiten atomarer Konflikte für ein geteiltes Land wie Deutschland?

Die Deutschen vergaßen, was sie wussten

Und doch hatte Westdeutschland auch Politiker, die mit untrüglicher Sicherheit die Realität Deutschlands empfanden, zumindest habe ich den Satz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin kurz nach Mauerbau: „Die Mauer steht gegen den Strom der Geschichte!“, immer so empfunden. Doch gerade in Berlin geriet dieser Satz immer mehr in Vergessenheit. Die Deutschen vergaßen, was sie wussten. Psychologisch gesehen war für sie die friedliche Revolution 1989 eine Wiederbelebung alten Wissens. Es wäre gut um Deutschland bestellt, wenn sie sich das eingestehen würden.
Dabei ist die Deutschlandpolitik der Westdeutschen keinesfalls eine Aneinanderreihung von Irrtümern. Es gelang ihr die Deutschen im Gespräch miteinander zu halten. Der Gipfel der Entspannungspolitik, der KSZE-Prozess löste mit dem verbindlichen Bekenntnis zu den Menschenrechten einen schleichenden Auflösungsprozess im kommunistischen Lager aus. Und bei Lichte betrachtet, waren die inneren Verflechtungen der beiden deutschen Staaten und ihrer Gesellschaften so dicht, wie zwischen keinen anderen Staaten, so dass man heute die Teilung nicht nur als Teilung begreifen kann, sondern als Bruch.

Sicher in dieser deutschen Teilungsgeschichte hatten die Ostdeutschen den weitaus schlechteren Teil getroffen. Die Westdeutschen hatten ihre offene Gesellschaft, hatten Individualisierung, öffentliche Meinung, Debatte, Demokratie, Freiheit, Entwicklung. Das alles gab es in der DDR nur in Rudimenten. Folgerichtig war die Tristesse hier mit Händen zu greifen. Die Ratlosigkeit, die kommunistische Unterdrückung, das totalitäre System der SED-Diktatur war an sich schon schwer auszuhalten. Die Fluchtbewegung war ihr Symptom. Die eigenen Gefühle mussten so unterdrückt werden, dass die DDR-Bürger mir manchmal als gefühllos, unfähig zur Empathie erschienen.

Erstaunlich, dass sich  hier einige Menschen fanden, die an eine Zukunft glaubten, und sich mit ihrem Leben dafür einsetzten. Es ist hier nicht der Platz, deren Entwicklungen zu schildern. Doch sie führten schließlich dazu, dass die Ostdeutschen den Schlüssel zur Überwindung ihrer eigenen Misere und der deutschen Teilung, der bekanntlich in Ostdeutschland selber lag, fanden und aufhoben. Den Satz, „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ sagte ein westdeutscher Politiker, der es in diesem Moment nicht mehr war, es vielleicht nie gewesen war. Das Schicksal meinte es nicht gut mit den Deutschen solange sie geteilt waren. Doch mit der friedlichen Revolution wurden nicht nur hier lange unterdrückte  Hoffnungen und Identitäten wieder  lebendig, sondern auch die Schalter für das Heben des Eisernen Vorhangs in ganz Europa betätigt.

Ich frage mich immer, was die ungeheure Dynamik der friedlichen Revolution hin zu dem Ruf „Wir sind ein Volk“ bewirkt hat. Wahrscheinlich waren es die unterdrückten Potentiale, die Hoffnung auf Demokratie und auf Selbstbestimmung, die das bewirkten, und eine politische Konstellation, die den Menschen erlaubte, sich wieder zu sich selbst zu bekennen.
In den Jahren davor war es schwer gewesen und geworden, sich zu seiner Hoffnung auf eine Wiedervereinigung zu bekennen. Anfeindungen und Verunglimpfungen, im Osten nicht selten Knast, mussten ausgehalten werden. Und wenn es Lehren gibt, die daraus gezogen werden können, dann fallen mir zwei ein: an seinen Hoffnungen festhalten wie an sich selbst, und seinen Intellekt schärfen, um dem Zeitgeist widerstehen zu können und die Gelegenheiten des Handelns zu erkennen.

Stephan Hilsberg war Mitbegründer der SDP in der DDR und gehörte dem Deutschen Bundestag von 1990 bis 2009 an.

Dieser Text ist das leicht veränderte Geleitwort für die Buchfassung der Dissertation von Lutz Haarmann, erschienen als „Teilung anerkannt, Einheit passé? Status-quo-oppositionelle Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom Grundlagenvertrag bis zur Friedlichen Revolution.“ Mit Geleitworten von Rainer Eckert / Stephan Hilsberg / Detlef Kühn, Berlin: Duncker & Humblot GmbH, 2013, S. 9-15. Die Dissertation wurde  2012 an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn vorgelegt.