von Walter Edenhofer

Wie schon 2009 gehören Gute Arbeit für alle, flächendeckender Mindestlohn, Gleiche Bildungschancen, Leistungs- und Einkommensgerechtigkeit, flexible Rentenübergänge und Bekämpfung von Kinderarmut zu den Eckpunkten des Wahlprogramms der SPD. Doch reicht das aus, um eine solidarische Mehrheit zu gewinnen?

In der Diskussion um die Ziele und Handlungsfähigkeit der Partei darf die Frage nach ihrer Kontinuität und Identität nicht ausgeblendet werden. Alle Gesellschaften, Parteien und Organisationen müssen bestrebt sein, ihre Identität, also Kontinuität zu wahren und zu verdeutlichen. Das entspricht einem wachsenden gesellschaftlichen Verlangen nach Verlässlichkeit, Vertrautheit und Solidarität. Kontinuität erfordert, daß Grundsätze und Erfahrungen über Generationen hinweg in die Gegenwart vermittelt werden. Eine Partei, die auf Wahrung von Kontinuität und Identität bedacht ist, lebt insofern von einem Vorschuss an historisch abgesichertem Vertrauen. Wo dieses Vertrauen fehlt oder es in Misstrauen umschlägt, büßen soziale Bindungen und Beziehungen an Kalkulierbarkeit ein. Die Sozialdemokratie war in ihrer Geschichte immer dann stark und erfolgreich, wenn sie sich ihrer Identität als Partei der Arbeiterbewegung und der sozialen Gerechtigkeit bewusst war und danach handelte.

Die soziale Frage lösen

2008 erinnerte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck in seiner Rede am 25. Mai anlässlich der Gründung der SPD vor 145 Jahren in Leipzig an das damalige Selbstverständnis der Sozialdemokraten, für die Demokratie und die Emanzipation der Arbeiterschaft zu kämpfen. Es sei von Anfang klar gewesen, dass die soziale Frage nur in einer Demokratie gelöst werden könne. Diese müsse sich die Arbeiterschaft, unterstützt von demokratisch gesinnten Bürgern, selbst erkämpfen, wie es damals hieß. "Die Kraft der deutschen Sozialdemokratie bestand und besteht darin, dass sie tatsächlich die Vertreterin des politisch denkenden Arbeiters ist", schrieb damals Ignaz Auer, der langjährige Parteisekretär im "Sozialdemokrat", dem Zentralorgan der Partei. An diesem Grundsatz hielt die SPD auch nach dem zweiten Weltkrieg fest. So hieß es in dem vom Parteitag 1952 in Dortmund beschlossenen Aktionsprogramm: "Die Sozialdemokratie ist aus der Partei der Arbeiterklasse, als die sie erstand, zur Partei des Volkes geworden. Die Arbeiterschaft bildet dabei den Kern ihrer Mitglieder und Wähler. Der Kampf und die Arbeit der Sozialdemokratie aber liegen im Interesse aller, die ohne Rücksicht auf engherzig gehütete Vorrechte für soziale Gerechtigkeit, für politische und wirtschaftliche Demokratie, für geistige Freiheit und Toleranz, für nationale Einheit und internationale Zusammenarbeit eintreten."

Ihr programmatischer Durchbruch als Volkspartei gelang der Partei mit ihrem Godesberger Grundsatzprogramm 1959, indem sie auf weltanschauliche und theoriengeschichtliche Festlegungen verzichtete und sich mit einer neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik für neue Wählerschichten öffnete. Diese Entscheidung wirkte sich, auch infolge des allgemeinen sozialen Wandels der Gesellschaft, auch auf die soziale Schichtung der Partei aus: 1962 wurden noch fast 55 Prozent aller neuen Mitglieder als Arbeiter registriert; im Jahre 1972 waren es nur noch 28 Prozent, während die Zahl der Angestellten und Studenten sprunghaft zunahm. Die Partei zählte inzwischen fast eine Million Mitglieder, wie Willy Brandt als Parteivorsitzender und Bundeskanzler auf dem Parteitag in Hannover im April 1973 berichtete:
"Die Zusammensetzung unserer Partei hat sich also in einer Zeit stark gewandelt. Von einer Klassenpartei im strengen Sinne - die SPD war es übrigens nie - kann schon aufgrund der Statistik nicht die Rede sein..... Tatsache bleibt - und dies ist wichtig - dass wir in erster Linie eine Partei der Arbeitnehmer sind und daran auch nichts ändern lassen wollen. Wer Arbeitnehmer ist, soll sich bei uns zuhause fühlen; gleichviel, welchem Beruf er nachgeht, ob er an einer Werkbank steht, am Schreibtisch sitzt oder im Labor arbeitet. Die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) und die Arbeitnehmerkonferenzen, die bei uns keine Flügelposition besetzen, sondern zentraler Kraftquell sind, müssen mehr in den Mittelpunkt unserer Arbeit rücken. Dies gilt auch für den Gewerkschaftsrat....Die Kraft dieser Partei liegt in der Stärke ihres inneren Zusammenhalts. Die uns gemäße Disziplin erwächst aus der Solidarität. Vernachlässigen wir sie, so würde aus uns ein Haufen auseinanderstrebender, sich gegenseitig paralysierender Kräfte, bestenfalls ein großer Debattierclub."

Die Zeit des Aufbruchs

1969 war für die Sozialdemokratie in der sozialliberalen Koalition Aufbruch zu einer Politik, die herausführte aus konservativen Macht-und Denkstrukturen, hin zu einer an den Interessen der breiten Schichten des Volkes orientierten Politik der Sozialreformen.  Zahlreiche Gesetze trugen die Handschrift der in der AfA organisierten  sozialdemokratischen Arbeitnehmer. Willy Brandt damals: "Wir haben große sozial- und gesellschaftspolitische Initiativen und Fortschritte erlebt: Lohnfortzahlung, Betriebsverfassungsgesetz, Ausbau der Mitbestimmung und der Arbeits- und Sozialbeziehungen, Humanisierung des Arbeitslebens, berufliche Bildung. Hierzu haben die sozialdemokratischen Arbeitnehmer, gestützt auf die Freunde in den Gewerkschaften, einen entscheidenden Beitrag geleistet."
Ihre Vertreter gehörten nicht nur dem Deutschen Bundestag, den Landtagen und Kommunalparlamenten an, sie übernahmen auch Regierungsverantwortung im Bund und in den Ländern. Es entstand das Bild einer Volkspartei, die sich durch ihre Friedenspolitik, durch soziale Reformen, durch ihre gesellschaftliche Verankerung und politische Beteiligung  das Vertrauen und die Zustimmung breiter Arbeitnehmerschichten und damit der gesellschaftlichen Mitte als Bedingung für politische Mehrheit und Stabilität sicherte.

Das Bild der SPD als Arbeitnehmerpartei verblasste nicht erst in den letzten Jahren: Schon früher änderten sich die innerparteilichen Verhältnisse und Machtstrukturen der SPD. Die in Betrieben und Gewerkschaften verankerte sozialdemokratische Arbeitnehmerschaft verlor nach und nach ihre zentrale Funktion in der Partei, um anderen inhaltlichen Vorstellungen und Interessengruppen Platz zu machen. Tonangebend in den Führungsgremien waren nunmehr die durch den Sozialstaat und die Bildungsreformen geförderten akademisch gebildeten Aufsteiger, die dem früheren Drang zur Kollektivität und Geschlossenheit eher distanziert gegenüberstanden und die "Modernisierung" von Gesellschaft und Politik in den Mittelpunkt ihres politischen Strebens stellten. Traditionen und Erfahrungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerschaft wurden in der politischen Willensbildung als "traditionsbelastet" beiseite geschoben, betriebliche Vertrauensarbeit wurde vernachlässigt. Der wirtschaftliche Strukturwandel trug dazu bei, dass die Partei an ihrer betrieblichen Basis an Boden verlor.

Der veränderte Charakter der Partei

Diese Entwicklung schlug sich auch bei der Wahl von Kandidaten für öffentliche Aufgaben nieder. Den Parlamenten gehören heute nur noch wenige sozialdemokratische Betriebsräte und Gewerkschafter an. Sie sind auch auf den Parteitagen der SPD zu Minderheiten geworden. Das veränderte den Charakter der Partei und die Politik. Das zeigte sich auch bei der Wiedervereinigung: Auch in den neuen Landesverbänden der SPD gab es keine nennenswerten Initiativen, Arbeitnehmer und Gewerkschaftsmitglieder für die Partei zu gewinnen, sie in die politische Willensbildung und Verantwortung einzubeziehen und enge Beziehungen zu den Gewerkschaften zu knüpfen. Dieses Versäumnis und die mangelnde Verankerung in der Arbeitnehmerschaft wirkt bis heute bei der Mitgliederentwicklung und bei den Wahlergebnissen der SPD in Ostdeutschland nach.

Willy Brandt hatte schon 1981 vor einer solchen Entwicklung gewarnt: "Der bei unseren politischen Gegnern seit langem beliebte und in der SPD leider auch beliebter werdende Versuch, die Kernwählerschaft der SPD gegen neue Schichten auszuspielen, ist gefährlich. Es ist blanke Illusion, in einer Gesellschaft, in der der Arbeiteranteil sinkt, auf die neuen Schichten verzichten zu können. Und doch bleibt gleichzeitig richtig, dass es nur mit der Arbeiterschaft eine gesunde und kraftvolle Sozialdemokratie gibt. Nur wer sich diese beiden Erkenntnisse bewusst macht, kann mit der SPD erfolgreich sein."

Die Schwierigkeit, die Grundsätze der Partei: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, auch als Grundlage ihres Regierungshandelns zu präsentieren, sind nicht neu, sondern haben die Partei in Koalitionsregierungen schon früher begleitet. Den von Willy Brandt und Helmut Schmidt geführten Bundesregierungen gelang dies durch große Fortschritte vor allem durch eine moderne und fortschrittliche Sozialgesetzgebung noch am besten. Die Probleme, ihr traditionelles, auf die Sicherung und den Ausbau des Sozialstaates ausgerichtetes Politikverständnis auf staatliches Handeln zu übertragen, begannen nach dem Regierungswechsel 1998 verstärkt, als Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung der Auffassung waren, die Modernisierung des Sozialstaates müsse als Auftrag mit der Zumutung zusätzlicher finanzieller Lasten und Einschnitten in das soziale Netz verstanden werden. Die Reaktion der mehrheitlich sozialstaatlich orientierten Wählerschaft erfolgte durch eine Serie von Wahlniederlagen bei

Landtagswahlen und durch massenhafte Parteiaustritte prompt. Vor allem ein großer Teil der Kernwähler, gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer und Gewerkschafter, wandte sich von der Partei mit der Begründung ab, daß diese ihre Identität als Arbeitnehmerpartei verloren habe und sie nicht  mehr die Partei "der kleinen Leute" sei. Die Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2005 und das Entstehen der Linkspartei findet darin ihre Ursachen.

Unter dem Parteivorsitz von Kurt Beck beschloß der Hamburger Parteitag 2007 einige wichtige Korrekturen der Agenda 2010, so durch die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, zur Arbeitsmarktpolitik, zur Ausbildung, zum Mindestlohn, zur Leiharbeit und Vermeidung von Altersarmut. Damit wurden für Arbeitnehmer und Gewerkschaften wichtige Entscheidungen getroffen, um deren Vertrauen zurückzugewinnen. Die vorgelegten Eckpunkte für das Wahlprogramm 2009 stellten mit dem neuen Grundsatzprogramm eine weitere Initiative der Partei dar, politische Antworten auf die großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts zu geben.

Die gesellschaftliche Mehrheit

Die Arbeitnehmerschaft, zur Zeit der Gründung der Sozialdemokratie ein knappes Drittel der Erwerbstätigen, ist heute die große gesellschaftliche Mehrheit: 85 Prozent aller Erwerbstätigen sind Arbeitnehmer - Arbeiter, Angestellte und Beamte. Von einem einheitlichen Arbeitnehmerschicksal kann dennoch nicht gesprochen werden. Die Globalisierung und die Deregulierung haben ihre Spuren in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft hinterlassen. Nicht nur am Rande, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft ist eine permanente Beschäftigungsunsicherheit durch zunehmende Zeitarbeit, Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Scheinselbständigkeit, Flucht aus der Tarifbindung und Niedriglöhne entstanden. Die sogen. prekären Arbeitsverhältnisse umfassen heute ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse. Je mehr die Arbeit "dereguliert" und "flexibilisiert" wird, desto schneller verwandelt sich Arbeitsgesellschaft in eine Risikogesellschaft, die weder für die Lebensführung des einzelnen, noch für Staat und Politik kalkulierbar ist (Ulrich Beck in "Schöne neue Arbeitswelt"). Dass heute international agierende Unternehmen und Finanzmärkte zunehmend die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen bestimmen  können, findet keine demokratische Legitimation und unterstreicht die Dringlichkeit nach mehr Mitbestimmung und sozialer Sicherheit.

Die wirtschaftlichen Veränderungsprozesse und Anforderungen setzen Regierungen und Parteien unter einen enormen Handlungs- und Innovationsdruck, um Arbeitsplätze und den Sozialstaat zu sichern. Sie sind dadurch mehr denn je auf gesellschaftliche Unterstützung und Sachverstand für Problemlösungen angewiesen. Für die SPD bedeutet das, sich durch gesellschaftliche Öffnung, durch neue Formen politischer Beteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer brachliegende soziale Kompetenz und Erfahrung für eine moderne Arbeitnehmerpolitik zu erschließen und ein neues Beziehungsgeflecht zwischen Politik, Arbeitswelt und Gewerkschaften zu entwickeln. In einer  Arbeitnehmergesellschaft lässt sich soziale Zukunft nur mit den Arbeitnehmern und deren Engagement gestalten. Dem weit verbreiteten Gefühl politischer Einflusslosigkeit und Ohnmacht als Hindernis für Motivation und Engagement kann nur durch mehr politische Beteiligung begegnet werden.

Arbeitnehmerpolitik ist keine Politik für einen Berufsstand oder einer sozialen Gruppe neben anderen. Sie ist eine Politik für die Mehrheit der Bevölkerung - für Arbeitnehmer in gesicherten und ungesicherten Arbeitsverhältnissen, für Arbeitslose und Rentner, deren Einkommen  aus dem Arbeitnehmerstatus und Arbeitseinkommen abgeleitet werden.
Dieser Grundtatbestand - und nicht die Meinungen einzelner oder innerparteilicher Minderheiten - gibt der Politik ihre Ziele und Inhalte vor Eine Politik, die nicht auf die Interessen der Mehrheit ausgerichtet ist, verliert nicht nur an demokratischer Legitimation, sie führt zum Verlust gesellschaftlicher Unterstützung und Mitgliedschaft.

Die SPD ist als älteste demokratische Partei keine Allerweltspartei. Sie kann ihrer Geschichte nicht entgehen. Aus existentiellen Gründen muß sie sich auch in einer Zeit des Wandels und neuer Herausforderungen, ihrer historischen Verantwortung und Identität als Partei der arbeitenden Bevölkerung und sozialen Gerechtigkeit stets bewusst sein und unverwechselbar danach handeln. Auch für eine Volkspartei mit einem breiten gesellschaftlichen Spektrum gilt zunächst: Identität geht vor Integration.

"Niemand darf seine Wurzeln vergessen. Sie sind der Ursprung unseres Lebens" (Frederico Fellini, italienischer Filmregisseur)