von Serge Embacher

Ein Gespenst geht um in der politischen Debatte! Es hört auf den schaurig-schönen Namen „Liquid Democracy“, was wörtlich soviel wie „Flüssige Demokratie“ bedeutet. Flüssige Demokratie? Ist das nicht tautologisch? Müsste Demokratie nicht immer im Fluss sein? Soll hier mal wieder ein neues Wort um des Wortes willen erfunden werden?

Nein! Man mag den Anglizismus beklagen, doch die Sache hat einen seriösen Grund: „Liquid Democracy“ stellt den Versuch dar, die repräsentative Demokratie durch direktdemokratische Elemente beweglicher oder eben: flüssiger zu machen. Der Einzelne soll mehr Einfluss bei der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung erhalten, indem er selbst Themen setzen und bestimmen darf, wo er sich durch Repräsentanten oder Delegierte vertreten lassen will und wo nicht.

Die Idee von „Liquid Democracy“ ist einer mittlerweile bekannten Krisendiagnose entsprungen: Während das Interesse an Politik und politischen Fragen ungebrochen ist, erodiert die Zustimmung zur offiziellen Politik der Parteien in Parlamenten und Regierungen. Die Wahlbeteiligung in Bund, Ländern und Kommunen sinkt – mit Ausnahmen – seit vielen Jahren beständig.

Das öffentliche Ansehen der Parteienpolitik ist auf einem historischen Tiefstand. Die Demokratie in Deutschland droht immer stärker in eine Legitimationskrise zu geraten. Ob Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, soziale Spaltung, Integrationsprobleme oder auch „nur“ die steigenden Mietpreise – das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik bei den drängenden Fragen der Gegenwart ist in den letzten Jahren bedenklich gesunken.

Auf zahlreichen Podien, in Leitartikeln und Talkshows ist das Thema „Politikfrust“ und „Demokratiedistanz“ schon längst angekommen; ebenso auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, wo mündig gewordene Bürger lautstark für ihre Interessen und Anliegen streiten. Immer mehr Menschen haben verstanden, dass Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit machtvolle Instrumente sind, die sie mit gewachsenem Selbstbewusstsein nutzen. Die Reaktion auf die Krise der Demokratie ist die eigene und selbst organisierte Aktion. Und so stehen neben den Frustrierten und Abstinenten, die zu keiner Wahl mehr gehen und sich von Politik nichts mehr erhoffen, die Wachen und Engagierten, die den Parteien ebenfalls misstrauen und ihre politischen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen wollen.

Die politischen Parteien, die vom Grundgesetz den Auftrag erhalten haben, an der politischen Meinungsbildung des Volkes mitzuwirken, drohen in dieser Lage zu den großen Verlierern zu werden. Viele, viele Wähler wandern ab, und nach wie vor gehen auch immer mehr Mitglieder für das parteipolitische Engagement verloren. In den Parteien redet man zwar über diese Phänomene. Doch anscheinend sind sie viel zu sehr mit dem Alltag der Politik beschäftigt, um die Zeichen der Zeit richtig lesen zu können.

Parolenhafte Antworten auf die Krise

Die bisherigen Antworten auf die Krise klingen parolenhaft und sind es auch. Losungen wie „Jetzt Geschlossenheit zeigen!“ und „Nah bei den Menschen sein!“ nützen wenig und verstellen den ehrlichen Blick auf eine Diagnose, der man sich eigentlich nicht länger entziehen darf: Mehr und mehr Menschen haben keine Lust mehr, sich an den eingefahrenen und nicht auf Beteiligung, sondern auf Machterhalt ausgerichteten Formen der politischen Kommunikation (PR, Wahlkampf, inszenierte Parteitage, Plastiksprache) zu beteiligen.

Sigmar Gabriel hat das Problem für die SPD gut erkannt und auf dem Dresdner Parteitag Ende 2009 auch eindringlich beschrieben. Es fiel den Delegierten dort leicht, seine Analyse zu beklatschen. Umso bezeichnender sind jetzt die Reaktionen auf die konkreten Vorschläge zur Parteireform: Verkleinerung der Gremien auf Bundesebene? Teufelszeug! Wie sollen wir da den Proporz retten? Migrantenquote? Um Gottes willen, keine Quotenmigranten! Öffnung von Entscheidungen über die Besetzung von öffentlichen Ämtern und Mandaten für Nicht-Mitglieder? Hilfe! Die Funktionäre könnten doch keinen Parteitag mehr richtig „steuern“!

All dies gehört in den Kontext von „Liquid Democracy“, weil es sich bei den skizzierten Phänomenen nicht um „menschliches Versagen“, sondern um systembedingte Verhärtungen demokratischer Strukturen handelt. Die Strukturen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung sind – nicht nur in den Parteien – ins Informelle abgerutscht, d. h. immer weniger die offiziellen und demokratisch legitimierten Gremien bestimmen, sondern verborgene Zirkel, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Dinge sortieren.

Parteitage „vorbereiten“ heißt heute nicht in erster Linie Argumente sammeln, sondern Delegierte zählen. Klar sind wir vom Delegiertenprinzip überzeugt, selbstverständlich läuft alles statutengemäß. Aber jeder, der sich länger in der Binnensicht der Partei aufhält, weiß doch, wo die Probleme liegen. Denn wie sieht das typische „Alltagsgeschäft“ der Partei aus? Wir ver-abschieden Programme und wählen Personen zu Kandidaten; anschließend (also immer nach der Wahl) zerbrechen wir uns den Kopf darüber, warum die gute Programmatik der SPD nicht gewürdigt und die Arbeit unserer Spitzenleute nicht anerkannt wurde. Dabei übersehen wir (zumindest bislang), dass der demokratische Prozess heute nicht mehr von Programmen oder Personen oder Parteitagen, sondern von Themen bestimmt wird.

Hört sich trivial an, ist es aber nicht. Denn während die „Programm- und Mitgliederpartei“ SPD immer noch auf der Suche nach einer modernen Programmatik und nach neuen Mitgliedern ist, hat die gesellschaftliche Avantgarde (Internet-Aktivisten, Wissenschaftler, Künstler, aber auch Millionen bürgerschaftlich Engagierter und Organisationen wie Greenpeace u. a.) längst damit begonnen, die politische Kommunikation mittels elektronischer Medien entlang thematischer Fragen neu zu organisieren.

Es reicht, die grobe Richtung zu kennen

Greenpeace, um bei dem Beispiel zu bleiben, kommt es nicht darauf an, seinen Anhängern ein Programm zur Rettung des Planeten vorzulegen – es reicht, dass man die grobe Richtung kennt. Stattdessen erhalten Engagierte und Interessierte mit der Plattform greenaction.de ein handfestes Instrument der Themensetzung, Vernetzung und Kampagnenorganisation, in die die Zentrale niemals eingreifen würde. Dennoch profitiert Greenpeace von der Bereitstellung von Partizipationsinstrumenten, wird doch dadurch die Identifikation mit „der Bewegung“ gestärkt und ein „Wir-Gefühl“ erzeugt.

Die traditionellen Institutionen und Organisationen – nicht nur die SPD, sondern auch die anderen Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände usw. – hinken dieser Entwicklung hinterher und sind tatsächlich zu „alten Tanten“ geworden, weil sie das Prinzip des gesellschaftlichen Wandels nicht verstanden haben. Menschen wollen sich in für sie wichtigen Fragen nicht länger vertreten lassen, sie wollen selbst handeln und gestalten. Das ist das Credo einer neuen Generation von Bürgergesellschaft.
Ohne dass man sagen könnte, wann es begonnen hat, sind wir Zeugen einer gesellschaftlichen Machtverschiebung geworden: Es fällt vielen Menschen zunehmend schwerer, einem Wahlprogramm von 50, 70 oder mehr Seiten Umfang zuzustimmen und einer Partei für volle vier oder fünf Jahre die politische Handlungsvollmacht abzutreten. Stattdessen wollen sie dort, wo sie besonders interessiert, engagiert oder betroffen sind, auch bei einzelnen Fragen, mitbestimmen.
Und genau hier setzt die Idee von „Liquid Democracy“ an. Dabei geht es nicht darum, die repräsentative Demokratie infrage zu stellen oder gar abzuschaffen, wie von Kritikern unterstellt wird. Vielmehr sollen umfassende Beteiligungsmöglichkeiten das Prinzip der Repräsentation durch direkte Mitbestimmung ergänzen.

Was früher nach Utopie oder Chaos klang, ist heute dank der technischen Potentiale des Internet möglich geworden. Das Internet und die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten des WEB2.0 ermöglichen ein grundsätzliches Neudenken demokratischer Prozesse. Die Prinzipien Transparenz und Beteiligung stehen dabei im Vordergrund. Das ist eine große Herausforderung für Parteien, die ja zugleich immer auch „das Spiel der Macht“ spielen müssen (oder spielen zu müssen glauben).

Was in der „realen Welt“ Zukunftswerkstätten, Runde Tische oder Foren sind, das stellen im WEB2.0 „Wikis“, Blogs, Online-Partizipation und Plattformen dar. Der Unterschied besteht in der Vielfältigkeit der Kommunikationskanäle. Nicht eine Parteiführung lädt zur Diskussion an einem Tag an einem Ort ein, um sich ein Meinungsbild zu machen, sondern viele kommunizieren mit vielen über selbstgewählte Themen. Die Agenda wird nicht von Parteitagen und Gremien gesetzt, sondern von der „Weisheit der Vielen“, welche Themen erst Relevanz verleiht.

Das wäre eine „flüssige Demokratie“: Bürgerinnen und Bürger haben nicht nur die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung von Parteien, Programmen oder Personen; vielmehr dürfen sie bei der Themenwahl selber mitbestimmen. Außerdem dürfen sie bestimmen, bei welchen Themen sie sich vertreten lassen wollen und wo sie lieber direkt mitentscheiden dürfen.

Bin ich zum Beispiel als Vater oder Mutter direkt von schulpolitischen Entscheidungen betroffen, dann will ich bei Schulreformen, bei denen es um meine Kinder geht, direkt gefragt werden und mitbestimmen dürfen. Ein anderer vertraut hingegen die Schulreformen den Bildungspolitikern an und möchte aber stattdessen bei der ökologischen Stadterneuerung sein Wissen und sein Engagement zum Einsatz bringen. Flüssige Demokratie bedeutet, mit den verschiedenen Anspruchsgruppen der Gesellschaft viel intensiver als bislang ins Gespräch und in neue demokratische Aushandlungsverhältnisse zu kommen.

Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger anerkennen

Flüssige Demokratie bedeutet, die spezifische Kompetenz von engagierten Bürgerinnen und Bürgern anzuerkennen. Die Voraussetzung wäre, dass man sich von der liebgewonnenen Welt der Spiegelstrichdebatten und Flügelkämpfe verabschieden müsste. Dafür bekäme die SPD wieder Zugänge in die Mitte der Gesellschaft, die ja in den letzten Jahren immer nur als Sprech-blase in unseren Köpfen („Politik der Mitte“ usw. usf.) anwesend war. Was Sigmar Gabriel in Dresden gefordert hat, lässt sich heute nicht mehr ohne die Beteiligungsformen denken, die dank WEB2.0 möglich sind. Eine ganze Generation von jungen und gut ausgebildeten Menschen bewegt sich heute schon vollkommen selbstverständlich „im Netz“, und mehr und mehr relevante Debatten spielen sich dort ab.

Die SPD darf den Anschluss an diese neue Re-Politisierung nicht verpassen. Sie braucht dringend eine Transformation zur Netzwerkpartei! Keine Sorge: Auch nach der Öffnung für solche neuen Formen von partizipativer Politik bleibt für die Partei noch genug zu tun. Auch künftig brauchen wir Gremien und Akteure, die die Impulse aus der aktiven Bürgergesellschaft und aus den lebendigen Netzen aufgreifen und in Regierungen und Parlamenten in verfasste Politik übersetzen.Die repräsentative Demokratie – das sei noch mal gesagt – soll mit „Liquid Democracy“ nicht verdrängt werden. Was verändert werden soll, ist die legitimatorische Basis, auf der sie sich bewegt. Nicht die „Sonntagsfrage“ oder die Beliebtheitswerte bei „infratest dimap“ sollen Kompass für Politik sein, sondern die Meinungsströme in der wirklichen Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger. An sie müssen Parteien heran, um tatsächlich wieder eine mehrheitsfähige Volkspartei werden zu können.Wenn mehr Beteiligung das politische Ziel ist – und daran kann es eigentlich keinen Zweifel mehr geben –, dann muss es auch eine tatsächliche Öffnung geben. Die Verhärtungen der repräsentativen Demokratie müssen zugunsten einer „Flüssigen Demokratie“ überwunden werden.

Die SPD war als Bewegung „von unten“ immer Teil einer aktiven Bürgergesellschaft. Wenn sie sich neu aufstellen will, muss sie sich wieder viel stärker auch so verstehen. Sie darf sich nicht über den Unterschied von innen und außen, sondern muss sich über politische Themen definieren. Die Pluralisierung des politischen Willensbildungsprozesses durch Internet und WEB2.0 macht Politik liberaler, egalitärer und sozialer. Das sind originär sozialdemokratische Ziele: Freiheit, Gleichheit, Solidarität – worauf also noch warten?

Zum Schluss noch ein praktischer Vorschlag, um mit der Sache in Bewegung zu kommen: Warum nicht bei einem der nächsten Parteitage das Prinzip „Flüssige Demokratie“ ausprobieren? Im Vorfeld könnte eine Online-Partizipationsplattform eingerichtet  werden, auf der von allen Interessierten Themen diskutiert, verschoben und gewichtet werden können. Die Diskussion der Ergebnisse wäre mit Sicherheit spannender (und auch politischer!) als vieles, was Parteitagsgestählte in den Jahren ihres Delegiertenlebens schon haben erdulden müssen...