von Peter Brandt

 Die Aufgabe politischer Parteien besteht nicht in erster Linie darin, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen – zumal die früher viel berufenen ›Lehren aus der Geschichte‹ in der Regel nicht auf der Hand liegen. Selbst da, wo Fachhistoriker bei der Rekonstruktion des faktisch Geschehenen und bei der Analyse der Ursachen und Wirkungszusammenhänge weitgehend übereinstimmen, werden sie sich bei der Formulierung politischer Schlussfolgerungen ihrem jeweiligen weltanschaulichen Standort gemäß unterscheiden, sofern sie es überhaupt für vertretbar halten, solche zu ziehen.

 

Nur eine gewisse Ähnlichkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen erlaubt es, Analogien herzustellen und über diese zu gegenwartsrelevanten Aussagen zu gelangen, die über die Feststellung zu allen Zeiten zu beobachtender Regelmäßigkeiten hinausreichen, wie etwa die, dass Intentionen und Funktionen jeweiligen Handelns oftmals erheblich differieren. Die vormoderne, in der Wissenschaft seit der Aufklärungshistoriographie des späten 18. Jahrhunderts überwundene Geschichtsauffassung ist statt irgendwelcher Entwicklungsmodelle tatsächlich im Wesentlichen noch von der Wiederkehr des immer Gleichen ausgegangen und hat gerade deswegen die Geschichte die ›Lehrmeisterin des Lebens‹ (historia magistra vitae) genannt.


Sogar bei naheliegenden Perioden ist hinsichtlich der ›Lehren aus der Geschichte‹ Vorsicht geboten, wenn man gedankliche Willkür vermeiden will. Natürlich braucht jede parteipolitische Formation (wie jedes Gemeinwesen) die Pflege der spezifischen, als wertvoll erachteten Traditionen, historisch-politische Bildung ihrer Mitglieder und die Fähigkeit, ›geschichtspolitisch‹ zu intervenieren. Dabei können professionelle Historiker nützlich sein; es handelt sich aber nicht um ein Feld eigentlich wissenschaftlicher Betätigung. Auch die (selbst)kritische Auseinandersetzung einer Partei mit der eigenen Geschichte und Vorgeschichte, quasi die Kehrseite der Traditionspflege, gehorcht eher politischen (manchmal tagespolitischen) Erfordernissen als fachhistorischen Problemstellungen zu folgen.
Die PDS bzw. die Linkspartei steht seit 1989/90 unter starkem Druck von außen, sich mit ihrer Vorgängerpartei SED kritisch auseinanderzusetzen. Einem großen Teil der Öffentlichkeit kann die Partei es nicht Recht machen – außer sie würde eine Selbstkritik leisten, die von der eigenen Vergangenheit schlechterdings nichts mehr übrig ließe und, mehr noch, jedem Bemühen um eine Alternative zum Kapitalismus abschwörte. Es ist verständlich, dass viele Mitglieder der LINKEN das Bedürfnis verspüren, angesichts des massiven Delegitimierungsfeldzugs der Medien vor allem die tatsächlichen oder vermeintlichen Leistungen der DDR (wie des ›real existierenden Sozialismus‹ überhaupt) zu würdigen. Würde sich eine solche Herangehensweise durchsetzen, läge der Schaden indessen hauptsächlich bei der Linkspartei, weniger kurzfristig und taktisch als bezüglich der mittelfristig-strategischen Option eines neuen linken Projekts in Deutschland. Die guten Ansätze während der 90er Jahre zur kritischen und selbstkritischen, durchaus differenzierten Aufarbeitung mit der vergangenen Epoche, nicht zuletzt angestoßen durch die Historische Kommission der PDS, aber auch von anderer Seite, sind in der Partei nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit aufgenommen und weitergetrieben worden.

Diese Debatte, deren Streitlinien nicht mit dem inneren Konflikt zwischen ›Antikapitalisten‹ und ›Reformern‹ identisch sein müssen, ist für die Linkspartei substanziell und sollte sich nicht in freundlichen oder demütigen Gesten gegenüber der Außenwelt erschöpfen. Denn es geht nicht um diese oder jene einzelnen Fehler, die zur Zeit der SED begannen wurden, sondern um die strukturellen Barrieren ökonomischer Effizienz und emanzipatorischen Fortschritts unter der Herrschaft der Nomenklatura, wie immer der soziale Charakter des dahinter stehenden Systems passend zu bezeichnen wäre. ›Staatssozialismus‹, ›kommunistischer Etatismus‹, ›bürokratisch deformierter Arbeiterstaat‹, ›Staatskapitalismus‹ oder ›bürokratischer Kollektivismus‹. Die Debatte betrifft den Kern des Selbstverständnisses der Partei der LINKEN, weil diese sich, in juristischer Nachfolge der SED und deren Erbe schon im Hinblick auf die Mehrzahl der ostdeutschen Mitglieder nicht verleugnend, in Absetzung vom Scheitern des ›real existierenden Sozialismus‹ als PDS neu konstituiert und programmatisch verortet hat. Der Anspruch, eine Partei des ›demokratischen‹ Sozialismus zu sein, zielte nicht auf eine Schönheitskorrektur, sondern bezeichnete einen Wesensunterschied zur SED in der Epoche davor.
Die in monströser Weise menschenvernichtende Diktatur Stalins, die die kommunistische Weltbewegung wie die Kräfte des Sozialismus und der Demokratie überhaupt mehr verheert als ihr Nutzen gebracht hat, sogar wenn man einen machtimmanenten Maßstab anlegt, verlangt mehr als eine ohne Ergründung der Ursachen oberflächlich bleibende Distanzierung von den Massenverbrechen. (Nicht einmal das scheint ja völlig unstrittig zu sein, wie die wiederholten Vorfälle um den bescheidenen Gedenkstein für die »Opfer des Stalinismus« auf dem Friedhof Berlin-Friedrichsfelde gezeigt haben.)

Die Linkspartei wird die kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus im engeren Sinn wie mit dem ›real existierenden Sozialismus‹ generell nicht nach den Vorgaben ihrer politischen Gegner führen. Ihr eigenes Interesse gebietet es jedoch, sich dieser Problematik aus freien Stücken anzunehmen und, statt hinhaltend und abwehrend zu reagieren, neben den einschlägigen marxistischen Analysen auch Deutungsangebote und empirische Forschungsbeiträge von Autoren anderer, sei es strikt antikommunistischer Herkunft einzubeziehen.
Auch wenn weiterhin nachdrücklich auf dem qualitativen Unterschied zwischen der Frühphase der bolschewistischen Herrschaft einerseits, der persönlichen Diktatur Stalins andererseits zu bestehen ist, spricht doch viel für die Annahme einer Fehlentwicklung von Anbeginn, wenn man bedenkt, dass die führenden Bolschewiki überzeugt waren, scheitern zu müssen, sofern die rote Revolution nicht im Westen, namentlich in Deutschland, ihre Fortsetzung fände – ein überaus gefährliches Kalkül. Vom Versuch einer Verständigung mit den anderen sozialistischen Parteien Russlands, den Menschewiki und den Sozialrevolutionären, wie sie an der Basis auch der bolschewistischen Partei populär war, und den damit verbundenen politischen Konzessionen wollte namentlich Lenin nichts wissen, und mit der gleichen Unversöhnlichkeit betrieb er auf internationaler Ebene die Trennung von allen denen, die seine ›weltrevolutionäre‹ Konzeption nicht teilten. Die zutreffende Feststellung, dass die Führung der Bolschewiki nicht im luftleeren Raum operierte, sondern inmitten eines imperialistischen Weltkriegs bzw. eines imperialistischen Weltsystems und im Rahmen eines innerrussischen dialektischen Gewaltgeschehens von Revolution und Konterrevolution, kann sie nicht exkulpieren.

Bereits die Moskauer 21 Bedingungen für den Beitritt zur Kommunistischen Internationale von 1920, die mit der USPD, der SFIO und den italienischen Sozialisten linkssozialistische Massenparteien zerstören halfen, trugen dazu bei, dass der internationale Aufschwung der Arbeiterbewegung 1917-1920 nicht konsolidiert werden konnte. Im weiteren Verlauf entfernte sich die Herrschaft der KPdSU dann nahezu vollkommen von den traditionellen Werten und Zielen der europäischen Arbeiterbewegung, auch ihres radikalen Flügels. Die Übertragung der Stalin´schen Methoden auf die kommunistische Weltbewegung hat deren Ansatz in einer ohne Bruch mit dieser Vergangenheit nicht rückgängig zu machenden Weise moralisch und politisch ruiniert, auch wenn aus der kommunistischen Bewegung selbst immer wieder freiheitliche Impulse erwachsen sind. Versuche ganzer Parteien des Westens, sich frei zu machen, gewannen erst in dem Maß Substanz, wie auch das sowjetkommunistische System und der Moskauer Führungsanspruch in Frage gestellt wurden, so seitens der italienischen Kommunisten seit den 60er Jahren.
Die historische Entwicklung hat das seit dem Ersten Weltkrieg mehr als siebzig Jahre anhaltende große Schisma zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus, sofern es auf die unterschiedliche Haltung zur Sowjetunion und deren innerer Ordnung zurück ging, ad acta gelegt. Auch dort, wo kommunistische Parteien vor 1990 an der Macht waren, hat die Einstellung zum alten Regime als entscheidende politische Markierung gegenüber der Notwendigkeit, plausible Antworten auf die heutigen gesellschaftlichen Fragen zu finden, im Lauf der Zeit an Bedeutung verloren.

Es bleibt das Faktum, dass die den ›real existierenden Sozialismus‹ und die mit ihm assoziierte internationale kommunistische Strömung nicht imstande gewesen sind, die Deformationserscheinungen aus eigener Kraft zu überwinden – einer der aussichtsreichsten Versuche in dieser Richtung, der »Prager Frühling« 1968, wurde von außen gestoppt – und das System demokratisch-sozialistisch zu transformieren. Gorbatschows radikal-reformerische Perestroika kam zu spät und wurde (auf Grund der Machtverhältnisse wohl unvermeidlicher Weise) zu zögernd voran getrieben. Der Umbruch von 1989/90, die (meist) friedliche Revolution in Mittel- und Osteuropa, resultierte somit faktisch in der Wiederherstellung der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der bekannten Asymmetrie des deutschen wie des europäischen Einigungsprozesses, im Triumph des Westens.
Ohne rückhaltlose Abrechnung mit dem poststalinistischen System (auch deshalb, weil es keine taugliche Alternative darstellte) kann es keinen Neuanfang einer Kapitalismus überwindenden sozialen Emanzipationsbewegung geben.

PS: Die anderen Formationen links der Mitte, namentlich die Sozialdemokratie, und das nicht nur auf Grund des jüngsten Wahldesasters, haben ihre eigenen Anlässe zur kritisch-selbstkritischen Rückschau, und es ist Anhängern der Linkspartei natürlich nicht verboten, sich ihrerseits diesbezüglich zu äußern. Der Verfasser dieses Beitrags hat es – auf wissenschaftlicher Ebene wie in der politischen Publizistik – in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt getan.


Auch in: T. Flierl (Hg.), Vordenker. F. André Brie, 2010.