von Holger Czitrich-Stahl
Vor ziemlich genau 100 Jahren vollzogen sich in Russland zwei die Welt nachhaltig verändernde Umwälzungen. Im Februar 1917 stürzte der bis dahin autokratisch herrschende Zar Nikolaus II, fiel nach 370 Jahren zumeist absoluter Herrschaft das Zarentum. Nach weiteren acht Monaten der inneren Konflikte und Putschversuche und der Weiterführung des Krieges eroberten die Bolschewiki um Lenin und Trotzki die politische Macht nach einem – zumeist übertrieben heroisierten – Sturm auf das kaiserliche Winterpalais in St. Petersburg. Seitdem hat die internationale Geschichtsschreibung, je nach politischem Standort, die beiden Revolutionen des Februars und Oktobers in eine gute und in eine böse Revolution getrennt. Doch jüngere Forschungen und Deutungen sehen im Jahr 1917 einen zusammen gehörenden Zyklus. Und die Rückschau auf diese die Welt bis 1991 und darüber hinaus prägende Doppelrevolution kann uns noch einiges vor Augen führen. 1918 waren es Karl Kautsky und Rosa Luxemburg, die sich den Vorgängen im vormaligen „zaristischen Völkergefängnis“ näherten. Auf sie, aber auch auf die Veröffentlichungen von Peter Brandt (u.a. hier im Video) möchte ich die nachfolgenden Betrachtungen stützen.
Als sich im Winter 1917 die Kriegslage für Russland verschlechterte, Kriegsmüdigkeit unter den Soldaten breit machte und die Versorgungslage katastrophale Züge annahm, demonstrierten in St. Petersburg die Arbeiter der Putilow-Werke, unterstützt von den Belegschaften der Nachbarwerften. Nikolaus II. aber ließ am 26. Februar auf die Demonstranten schießen, woraufhin ganze Regimenter zu den Demonstranten überliefen. Es kam zu Selbstbewaffnungen, Erstürmungen und Besetzungen. Die Duma, das russische Parlament mit beschränkten Rechten, setzte sich an die Spitze der Bewegung, setzte eine Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow, bestehend aus vorwiegend liberalkonservativen und liberalen Ministern, ein, der auch der Menschewiki Alexander Kerenski angehörte. Nikolaus II. musste abdanken, das Zarentum verfiel am 3. März 1917 endgültig. Doch auch die Provisorische Regierung führte den Krieg an der Seite Großbritanniens und Frankreichs fort und verzichtete auf die Umsetzung durchgreifender, aber notwendiger und eingeforderter Reformen, besonders zu Gunsten der Landbevölkerung und der Arbeiter. Letztere, konzentriert vor allem in St. Petersburg und Moskau, bildeten Arbeiter- und Soldatenräte als Machtorgane der Arbeiterbevölkerung, während es auf dem Lande zunächst noch relativ ruhig blieb. Diese Räte orientierten sich politisch zunächst an den Menschewiki, den gemäßigten Sozialisten, bildeten aber zunehmend eine Gegenmacht gegen die immer unbeliebter werdende Provisorische Regierung aus.
Schon im April hatte W.I. Lenin, nach seiner von der deutschen Obersten Heeresleitung ermöglichten Rückkehr nach St. Petersburg den Bolschewiki aufgegeben, die Provisorische Regierung zu stürzen. Nach dem gescheiterten „Juli-Aufstand“ der „Roten Garden“ und dem zurückgeschlagenen nationalistischen „Kornilow-Putsch“ vom Augustende 1917 trat Alexander Kerenski, bisher Justizminister, an die Spitze der Provisorischen Regierung, fortan richtete sich das Bestreben der Bolschewiki auf seinen Sturz, zumal auch Kerenski den Krieg nicht beenden wollte. Gleichzeitig verbuchten Bolschewiki und „Rote Garden“ einen beträchtlichen Ansehensgewinn in der Bevölkerung, weil sie aktiv an der Niederschlagung des „Kornilow-Putsches“ beteiligt waren. Im September errangen die Bolschewiki und die mit ihnen verbündeten linken Sozialrevolutionäre bei den Neuwahlen der Sowjets in Petersburg und Moskau Mehrheiten, Vorsitzender des Petersburger Sowjets wurde Leo Trotzki. Dadurch gelangten die Bolschewiki an einen wichtigen Schalthebel zur politischen Macht. Ihre Forderungen „Alle Macht den Räten“ und „Brot, Frieden und Land“ machten sich immer mehr Menschen zu eigen, nun auch auf dem Lande. Lenin befand sich zu diesem Zeitpunkt wieder in Finnland.
In der Frage der Strategie zur Erringung der politischen Macht zeigten sich die Bolschewiki gespalten. Während eine Mehrheit den demokratischen Weg über die Dominanz in den Räten bevorzugte, drängte Lenin, der Anfang Oktober nach Petersburg zurück kehrte, auf einen schnellen bewaffneten Aufstand. Um diesen aber zu verhindern verschoben die gemäßigten Kräfte den Termin des II. Allrussischen Sowjetkongresses auf den 25. Oktober (julianischer Kalender), somit sollte die Regierung Zeit zum Vorgehen gegen die Bolschewiki bekommen. Doch die Aufstandspläne Lenins, die auf den Umsturz vor Zusammentritt des Rätekongresses bauten, wurden dadurch erst zeitlich möglich. Dies weist einerseits auf die defensive Haltung der menschewistisch geführten Regierung hin, die zögerlich agierte, andererseits auf das Funktionieren der Konspiration innerhalb der Bolschewiki, deren militärisch-organisatorischer Kopf nun Leo Trotzki war. Unter seiner Leitung wurde nun aus den verschiedenen, in und um Petersburg stationierten Truppenteilen das „Militärisch-Revolutionäre Komitee“ (MRK) gebildet, das zunächst die Verlegung von Einheiten aus Petersburg an die Front verhinderte und so der Regierung Kerenski den Befehl verweigerte. Als die Regierung gegen die Druckereien der Bolschewiki vorgehen wollte, gab Trotzki am 24. Oktober (6.November greg. Kalender) den Befehl zur Besetzung strategisch wichtiger Stätten in Petersburg. Als Alexander Kerenski die Unterstützung der Generalität suchte, ließ diese ihn abblitzen, denn sie kalkulierte, die Bolschewiki abzulösen und eine eigene Diktatur zu errichten.
Berühmt geworden ist der Panzerkreuzer „Aurora“, der um 21.40 Uhr am 24. Oktober nach der Eroberung der Nikolausbrücke über die Newa jenen Schuss abfeuerte, der das Signal zum Aufstand gab und die Erstürmung des Winterpalais einleitete. Nahezu widerstandslos ergaben sich die dort anwesenden Minister und wurden schnell frei gelassen. Danach erklärten Lenin und Trotzki vor der Sitzung des Petersburger Sowjets die Absetzung der Regierung Kerenski, die „Aurora“ verbreitete diese Nachricht per Funk, ebenso wie die Bildung einer Sowjetregierung und das „Dekret über den Frieden“. Doch nicht überall verlief der Umsturz friedlich. In Moskau dauerten die Kämpfe drei Tage und forderten viel Blutvergießen.
Doch gerieten die Bolschewiki alsbald selbst in die Defensive, denn in der verfassunggebenden Versammlung, der Konstituante, verfügten die Menschewiki über die Mehrheit, außerdem bröckelte die Koalition mit den linken Sozialrevolutionären und brach schließlich. So entschied sich der Weg Russlands zulasten einer Demokratisierung und zugunsten des Weges in die Diktatur: Am 5. Januar 1918 ließ Lenin die Konstituante auflösen. Im Land entbrannte ein mehrjähriger Bürgerkrieg, der mit gegenseitiger brutaler Gewalt ausgetragen wurde, die „Weißen“, also die Gegner der Oktoberrevolution, wurden von ausländischen Staaten unterstützt. Am Ende siegten die Bolschewiki, Russland aber befand sich ökonomisch und moralisch am Boden, gesellschaftlich und moralisch war es tief gespalten. Von einer Rückkehr zur Februardemokratie war nicht mehr die Rede. Das kritisierte besonders scharf der große Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, der im Deutungskonflikt mit Lenin die unbedingte Zusammengehörigkeit von Sozialismus und Demokratie hervorhob und somit zum Gütesiegel der Sozialdemokratie in der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Parteien machte. Rosa Luxemburg wiederum schrieb ihr berühmtes Freiheitszitat als Kritik an der diktatorischen Praxis der Sowjetregierung und befürchtete vorausschauend, dass deren Weg jenen der Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution nachahmen würde. Weil die Menschewiki die Demokratie nicht sofort sozial ausgestalteten, scheiterten sie schnell. Weil die Kommunisten die Demokratie dem Klassenkampf von oben opferten, scheiterten auch sie. In diesem Sinne gehören der Februar und der Oktober 1917 zusammen. Eine bessere Welt ist dennoch möglich – aber ohne soziale Demokratie ist sie weder besser noch nachhaltig.