von Karl-Heinz Niedermeyer
Der Grundwert der Freiheit bildet zumindest in den öffentlichen Erklärungen der Repräsentanten des NATO-Bündnisses und der USA als seiner Vormacht den Eckstein des gemeinsamen Wertesystems der westlichen Demokratien. Bis zur Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA waren auch die deutsch-amerikanischen Beziehungen geprägt von der gemeinsamen Zielsetzung einer möglichst weitgehenden Verwirklichung des Grundwerts „Freiheit“, der ja auch an erster Stelle der Trias der Grundwerte aller sozialdemokratischen Programmatik steht. Freiheit gibt es aber nicht absolut, es ist immer die Frage „Welche Freiheit“ und „Freiheit für wen?“ und bezogen auf letztere Frage leider auch allzu oft „Freiheit gegen wen?“, aber auch „Freiheit wovon?“.
Im Kalten Krieg ging es um die Befreiung der im Sowjetsystem gefangenen Menschen und Völker vom totalitären Sowjetkommunismus. Im „Krieg gegen den Terror“ kämpfen die USA mit ihren Verbündeten in aller Welt gegen auf eine religiös motivierte Ideologie zurück greifende Terrornetzwerke mit einem totalen Regulierungsanspruch für alles menschliche Leben. Und dann gibt es – vor allem im Kontext der Auseinandersetzungen um die neuartigen Handelsabkommen wie TTIP und CETA – den Kampf gegen die staatlichen, vor allem sozialstaatlichen, gewerkschaftlichen und tarifvertraglichen Beschränkungen der Entfaltungsfreiheit des Individuums und des freien Unternehmertums, dem sich die USA in hohem Maße verschrieben haben.
Spannend und widerspruchsvoll ist in diesem Zusammenhang, dass ein ganz wichtiger Teil der Entfaltungsfreiheit des modernen Individuums – die Freiheit der Kommunikation – im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, den Erzfeind aller persönlichen und politischen Freiheiten in unseren westlichen Demokratien, unter die Räder zu geraten droht. Und ein anderes „Grundrecht“ wird heute gleich kostenlos mitgeliefert: Die Chance, dass die in die Welt geblasenen privaten Ergüsse, nicht nur von hunderten von sog. „Freunden“, sondern auch von den Diensten, welche unsere privaten Freiheiten, vor allem unsere unbegrenzte Konsumfreiheit, vor dem Terrorismus schützen, zur Kenntnis genommen und für lange Zeit der verdienten Vergessenheit entrissen werden. Der Grundwert Freiheit ist für uns so zentral, dass wir sehr wohl einen Unterschied machen, ob sich ein „freiheitsfeindliches“, gelegentlich auch als „Schurkenstaat“ gebrandmarktes Land vom Expansionsstreben anderer Staaten bedroht fühlt oder ein Staat wie die USA, in dem „die Freiheit“ zu Hause ist. Freiheitsliebende Groß- und Weltmächte finden auch eher Verständnis, wenn sie versuchen, das Prinzip der Wechselseitigkeit und Gleichgewichtigkeit in internationalen Beziehungen außer Kraft zu setzen, um die der eigenen Freiheit und der Verwirklichung der Menschenrechte dienenden politischen Ziele uneingeschränkt durchzusetzen und freiheitsfeindliche Regime zu verdrängen.
Nach dem durch einen vom Westen gewonnenen Rüstungswettlauf erfolgten Zusammenbruch des Ostblocks als konkurrierendem Weltsystem hat sich ein solches Politikverständnis entwickelt. Das Gleichgewicht des Schreckens und die Verwendung von Atomwaffen im System von MAD (Mutual Assured Destruction = Garantierte wechselseitige Vernichtung) zur Aufrechterhaltung eines Zustands, in dem sie niemals eingesetzt werden müssten und könnten, waren gestern. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks setzten sich auch die Ideologie des Neoliberalismus und die Deregulierung der Devisen-, Finanz-, Arbeitsmärkte durch, gefolgt von einer Privatisierungswelle für öffentliche Güter und Dienstleistungen. Einzig die Grenzmauern für die Opfer dieser Art von Globalisierung in den reichen Ländern werden immer höher gezogen.
Zusammenhang zwischen militärischer und wirtschaftlicher Macht
Zu denken geben muss der Zusammenhang zwischen militärischer und wirtschaftlicher Macht und insbesondere zwischen Modernisierungsschüben im Bereich der Waffen- und Militärstrategie einerseits und der Modernisierung der Instrumente der Finanzmärkte, der Strategien international tätiger Unternehmen und der von ihnen erzwungenen „Modernisierung“ der Wirtschafts- und Sozialpolitik der immer noch bestehenden Nationalstaaten und Staatenverbünde wie der EU im Zuge dieser Art von Globalisierung. Es geht also um die „Mittel zur Verteidigung der Freiheit“.
Die USA, so meine zentrale These, streben nicht weiter danach, ihre Weltmachtstellung mit Hilfe einer unangreifbaren militärischen Hegemonie aufrecht zu erhalten, wie dies unter Reagan mit der Zielsetzung der Schließung der „Fenster der Verwundbarkeit“ (etwa mit Raketenabwehrsystemen usw.) versucht wurde. Militärbündnisse, militärische Interventionen, Stützpunkte, Waffenlieferungen usw. sollen nur den Sicherheitsrahmen für die globale Aktionsfähigkeit des US-Kapitals schaffen und aufrecht erhalten. Das kann soweit gehen, dass im äußersten Fall auch die Beseitigung von unerwünschten Regimen mit militärischen Mitteln angestrebt oder auch umgesetzt wird, um sozusagen noch durch andere Wirtschaftsregime und ideologische Systeme blockierte Teile des globalen Terrains für das westliche Kapital „freizuschießen“.
Die stärkeren Mittel zur Verteidigung der als unbegrenzte ökonomische Entfaltungsmöglichkeit und maximale Profitmaximierung verstandenen „Freiheit“ sind nicht Atombomben, Raketen, Panzer, Kriegsschiffe und Drohnen, sondern neuartige Finanzprodukte und Börsenstrategien wie Hedgefonds, Derivate, Kreditausfallversicherungen. Der US-Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Joseph Stiglitz schrieb bereits in einem Ende 2013 erschienen Artikel von „finanziellen Massenvernichtungswaffen“.
Sowohl im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wie dem der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende Tendenz in der Politik der USA zu beobachten, unilateral allein im Blick auf die eigenen Interessen zu handeln und sich international festgelegten Regeln und Verpflichtungen aus Bündnissen, Konventionen, internationalen Organisationen und Vertragssystemen zu entziehen. Ein Verhalten, dem sich immer mehr Akteure der internationalen Politik anschließen.
Die schwindenden Restbestände der regelbasierten Zusammenarbeit in der UNO, NATO, OSZE, WTO usw. sind weitgehend lediglich der Einsicht in die Unmöglichkeit geschuldet, alle Faktoren für die eigene politische und wirtschaftliche Wirksamkeit unilateral kontrollieren zu können. Was bedeuten die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und seine vom ersten Tag an aggressiv umgesetzte „America First“-Agenda für die Verteidigung der „Freiheit des Westens“ im neoliberalen Sinne? Ist der „Trumpismus“ in der Diktion Lenins „das höchste Stadium des Neoliberalismus“ oder mit der globalen Wende zu Renationalisierung und Protektionismus der Kipp-Punkt zu einer neuen ökonomischen Ideologie und Praxis?
Die Macht der Finanzmärkte
Trumps Kabinett der Milliardäre, die Milliardengewinne, die gerade die großen Investmentbanken Goldman-Sachs usw., die in diesem Kabinett prominent vertreten sind, sowie die prompte Ausbootung der als energische Reguliererin der Finanzmärkte hervorgetretenen Leiterin der Börsenaufsicht Mary Jo White sprechen eher für die erste Deutung, also für eine weitere Finanzialisierung des Wirtschaftslebens und eine weitere Schwächung der Realwirtschaft, an der auch Importsteuern für im Ausland produzierende Industriebetriebe nichts ändern werden.
Nicht die Superreichen, die Börsenspekulanten und Ölmagnaten werden die Zeche für die von Trump verursachten Störungen des Handelsaustauschs und der internationalen Kooperation in Wissenschaft, Technik und Kultur zahlen, sondern die unter zu geringen Realeinkommen leidenden „hart arbeitenden Menschen“, für deren Besserstellung (auf Kosten ihrer Kolleg/Innen bzw. Konkurrent/Innen) in Mexiko und anderswo er mit seinen Wahlparolen angeblich angetreten ist.
Doch wer nun Populismus, Nationalismus und Autoritarismus, verkörpert in Gestalten wie Trump, Putin, Erdogan, Orban und anderen als Bedrohung unseres in vielen Jahrzehnten erarbeiteten Wohlstands beklagt, muss sich die Ursachen dieser schlimmen Entwicklung bewusst machen. Wer von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Terrorismus spricht, darf vom Neoliberalismus nicht schweigen.
Auch Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen und die ihnen nahe stehenden Gewerkschaften haben mit der Anpassung an den neoliberalen Mainstream, mit der Übernahme der Erzählung vom unvermeidlichen Standortwettbewerb als Folge der Globalisierung, mit dem Gerede von zu hohen Lohn- und Lohnnebenkosten, mit den untragbar gewordenen Kosten des Sozialstaats, der Vernachlässigung des Ausbaus des Bildungswesens, der Mitverantwortung an der Erosion der Finanzbasis des eigenen Landes und der EU sowie dem zu geringen Engagement für eine an sozialer Gerechtigkeit orientierte europäische Integration – zu der Entstehung dieser Gesellschaft beigetragen. Eine Gesellschaft, in der der Gegensatz zwischen Arm und Reich immer weiter ansteigt und ein immer größerer Teil der Wahlbevölkerung sich sozial und politisch abgehängt, mit seinen Anliegen und Bedürfnissen nicht mehr beachtet und mit seiner Stimme nicht mehr gehört fühlt.
Wer zulässt, dass Freiheit einseitig als Recht des Stärkeren verstanden wird, wer nicht weiter oder nicht genug dafür kämpft, dass Freiheit mit Gerechtigkeit und Solidarität verbunden bleibt, wer tatenlos hinnimmt, dass soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt immer mehr ausgehöhlt werden, wacht irgendwann in einer Gesellschaft auf, in der es auch keine Freiheit mehr gibt.