von Siegfried Heimann
Im Jahre 1997, anlässlich des 80. Jahrestages der Oktoberrevolution, waren Fotos von einer großen Demonstration in Moskau in der Presse zu sehen Die Demonstranten trugen ein großes Bild voran, auf dem Stalin und Lenin zusammen zu sehen waren. Und in der Tat: Wer Stalin sagt, muss auch Lenin sagen, wer von stalinistischen Verbrechen spricht, muss auch von der Oktoberrevolution reden.
Freilich: auch hier steckt der Teufel im Detail und nicht alle teuflischen Details können benannt werden, um den Zusammenhang von Oktoberrevolution und Stalinismus zu verdeutlichen. Ein Blick auf die Urteile der deutschen Arbeiterbewegung, nicht zuletzt auf das Urteil von Karl Kautsky über die Oktoberrevolution kann helfen, diesen Zusammenhang zu erklären.
Im Folgenden geht es daher nicht um die Geschichte Georgiens. Es geht um das Schicksal der Ersten Republik Georgiens 1917 bis 1921 aus der Sicht eines deutschen Sozialdemokraten, aus der Sicht von Karl Kautsky und um das sich wandelnde Urteil der deutschen Sozialdemokratie über die Oktoberrevolution. Während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg war dieses Urteil vor allem von Karl Kautsky geprägt. Seine Sicht auf die in Georgien zwischen 1917 und 1921 regierende „menschewistische“ Sozialdemokratische Arbeiterpartei“, die „Bruderpartei“ der deutschen Sozialdemokratie und auf die „sozialdemokratische Bauernrepublik Georgien“ und deren trauriges Ende war für Kautsky ein beispielhafter Beleg für die Richtigkeit seiner vernichtenden Kritik an der Oktoberrevolution, am bolschewistischen Oktoberputsch, der die Errungenschaften der Februarrevolution zunichte gemacht habe.
Die deutsche Sozialdemokratie und Russland vor 1917
Die Sicht deutscher Sozialdemokraten auf die Oktoberrevolution war natürlich mitbestimmt von der Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber Russland und gegenüber der russischen Arbeiterbewegung schon lange vor der Jahrhundertwende. Deutsche Sozialdemokraten - von Bebel bis Bernstein - sahen in Russland vor allem den despotischen Zarismus. Sie betrachteten die russische Arbeiterbewegung mit Wohlwollen und die verfolgten russischen Sozialdemokraten erfuhren solidarische Unterstützung nicht nur mit Worten, sondern auch durch Taten. Gelder, Zeitungen und Bücher wurden nach Russland geschmuggelt, nicht zuletzt wurde 1902 Lenins Schrift "Was tun" im Dietz-Verlag auf Russisch gedruckt und nach Russland gebracht. Aber letztlich war das alles weit weg. Die Spaltung der russischen Sozialdemokratie 1903 wurde in Deutschland erst spät registriert und bald auch von den, Bewunderung auslösenden, Nachrichten über die russische Revolution im Jahre 1905 überlagert.
Die erste, die genauer und kritischer über die russischen Verhältnisse und besonders über die Parteientwicklung in Russland informierte, war die Sozialdemokratin Rosa Luxemburg. Ihr berühmter Artikel über „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie" aus der Iskra, der Zeitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, war im Sommer 1903 von Kautsky in der "Neuen Zeit" nachgedruckt worden. Sie sah in der von Lenin geschaffenen Organisation "eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen", die aus der besonderen russischen Situation erklärlich, aber keineswegs ein Vorbild für eine revolutionäre Arbeiterpartei sein könne. Diese - wie Peter Lösche dazu schrieb - "schärfste, weitsichtigste und fundierteste Kritik am Bolschewismus ... bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution" blieb allerdings in der deutschen Sozialdemokratie ohne großen Einfluss.
Auch Kautsky, der anfänglich noch im Konflikt mit Lenin vermitteln wollte, ließ sich im Urteil über die Bolschewiki eher von der Kritik der Menschewiki leiten, die den Bolschewiki Anarchismus vorwarfen. Ein Vorwurf, der dann 1918 von Sozialdemokraten noch weniger begründet wiederholt werden sollte.
Die Nachrichten über die Revolution 1905 in Russland aber ließen allen Streit in der russischen Arbeiterbewegung als "Emigrantengezänk" erscheinen. Sympathiekundgebungen fanden statt und über eine halbe Million Mark wurde gesammelt. Führende Sozialdemokraten waren sich zwar nicht einig, wie der Charakter der russischen Revolution einzuschätzen sei, aber die Verteilung der gesammelten Gelder dokumentiert, dass man sich letztlich aus dem Streit doch heraushalten wollte: die Bolschewiki erhielten wie die Menschewiki 22,5%, der jüdische Bund und die polnisch-litauischen und die lettischen Sozialdemokraten den Rest. Lediglich in den "Sozialistischen Monatsheften" und im "Correspondenzblatt" der Gewerkschaften war eine Distanzierung von den revolutionären Ereignissen in Russland schon 1905 zu erkennen.
Im Frühjahr 1917 war aber auch diese Distanz zunächst vergessen. Die Nachricht von der russischen Februarrevolution war diesmal auch in Deutschland sofort zur Kenntnis genommen worden und alle der inzwischen zahlreicher gewordenen Fraktionen der deutschen Arbeiterbewegung knüpften daran die unterschiedlichsten positiven Erwartungen. Der Parteiausschuss der Mehrheitssozialdemokratie begrüßte im Mai 1917 mit "leidenschaftlicher Anteilnahme den Sieg der russischen Revolution und das durch ihn entfachte Wiederaufleben der internationalen Friedensbestrebungen".
Eine Partei in der russischen Revolution - die Partei der Bolschewiki - trat besonders für den Frieden ein. Nach der Veröffentlichung der Leninschen Aprilthesen, in denen Lenin zur „Verbrüderung“ an der Front aufruft, um den räuberischen, imperialistischen Krieg zu beenden, wurde die Partei der Bolschewiki für die MSPD wie für die USPD zur eigentlichen "Friedenspartei", die durch ihr Eintreten - damals noch - für die verfassungsgebende Nationalversammlung sogar als Garant eines demokratischen Parlamentarismus in Russland galt.
Die wohlwollende Beurteilung der Politik der Bolschewiki durch die deutschen Sozialdemokraten aller Schattierungen änderte sich auch nach dem 7. November 1917 zunächst nicht. Die mehrheitssozialdemokratische und die unabhängige Presse berichtete über die Machtübernahme der Bolschewiki vor allem unter dem Aspekt des nun möglich scheinenden Friedens im Osten. Die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung in Petersburg Anfang 1918 irritierte zwar einige Kommentatoren, die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk aber schienen wichtiger zu sein. "Frieden ohne Annexionen" war auch für die Mehrheit der Sozialdemokaten die Parole und der den Bolschewiki schließlich aufgeherrschte Gewaltfrieden wurde deshalb auch fast einhellig verurteilt.
Eine der wenigen frühen kritischen Stimmen vonseiten der MSPD kam von Otto Braun, der bereits im Februar 1918 einen endgültigen Trennungsstrich zur „russischen Räterepublik“ zog, nachdem im Januar 1918 die Bolschewiki die erste frei gewählte russische Nationalversammlung gewaltsam gehindert hatten zusammenzutreten. Der spätere preußische Ministerpräsident schrieb in einem Leitartikel im „Vorwärts“, dass die auf Gewalt und Terror bauenden „bolschewistischen Revolutionsmethoden“ für Deutschland kein Vorbild sein können, um den Sozialismus zu erreichen: „Soll er [der Sozialismus] Dauer und Bestand habe, muss er auf demokratischen Wege verwirklicht werden. Dazu ist freilich Vorbedingung, dass die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse reif sind … Was die Bolschewisten in Russland treiben, ist weder Sozialismus noch Demokratie, es ist vielmehr gewaltiger Putschismus und Anarchie. Deshalb müssen wir zwischen den Bolschewiki und uns einen dicken, sichtbaren Trennungsstrich ziehen.“
Der erste Sozialdemokrat jedoch, der schon seit Januar 1918 entschieden Kritik an der seit November 1917 erkennbaren Politik der Bolschewiki übte, war ein Unabhängiger Sozialdemokrat. Es war Karl Kautsky. In mehreren kleinen Broschüren formulierte er seine Einwände gegen die in Russland praktizierte Diktatur. Nach dem Auseinanderjagen der Konstituante im Januar 1918 nannte er es in seiner Schrift "Die Diktatur des Proletariats" eine "kurzsichtige Augenblickspolitik" der Bolschewiki, "wenn sie, um sich an der Macht zu erhalten, zu den Methoden der Diktatur greifen, nicht um die gefährdete Demokratie zu retten, sondern sich gegen diese zu behaupten". Er hoffte aber, dass die "Errungenschaften der Revolution" zu retten seien, "wenn es gelingt, die Diktatur zu ersetzen durch die Demokratie", wie er am Schluss schrieb.
Die Kritik traf die Bolschewiki im Nerv, wie die heftigen Reaktionen Lenins und auch Trotzkis gegen den "Renegaten Kautsky" erkennen lassen. Kautsky ließ sich freilich nicht beeindrucken, sondern formulierte seine Kritik von mal zu mal schärfer und er benannte damit zugleich die grundlegende Differenz zwischen demokratischen Sozialisten und revolutionären Kommunisten. In seiner Schrift „Demokratie oder Diktatur“ - auch im Jahre 1918 erstmals erschienen und seither in hoher Auflage immer wieder veröffentlicht - schrieb er einige noch heute gültige Sätze:
"Für uns also ist Sozialismus ohne Demokratie undenkbar. Wir verstehen unter dem modernen Sozialismus nicht bloß gesellschaftliche Organisierung der Produktion, sondern auch demokratische Organisierung der Gesellschaft. Der Sozialismus ist demnach für uns untrennbar mit der Demokratie. Kein Sozialismus ohne Demokratie." Dieser Satz wurde zur Essenz der sozialdemokratischen Kritik an der Oktoberrevolution.
Zu der Essenz kam aber - weniger durch Kautsky, aber auch durch ihn - noch allerlei Beiwerk, das dazu führte, dass aus der berechtigten und immer noch gültigen Kritik an der Oktoberrevolution in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein platter "Anti-Bolschewismus" wurde. Zu dem Beiwerk gehörte, dass die kleine Spartakusgruppe bzw. die Kommunistische Partei zu einem gefährlichen Popanz stilisiert werden konnte, der angeblich die bolschewistische Revolution mit all ihren tatsächlichen und propagandistisch übertriebenen Schrecknissen nach Deutschland importieren wolle.
Eine Reise nach Georgien
Für Kautsky war sein Diktum: „Kein Sozialismus ohne Demokratie“ nicht nur ein Postulat, im fernen Georgien sah er ein Beispiel dafür, dass Demokratie und Sozialismus in einem funktionierenden Staatswesen zu einem Erfolgsmodell werden konnte.
Georgien war wie die beiden anderen transkaukasischen Länder lange Zeit ein Spielball der angrenzenden Länder, bis sich im 19. Jahrhundert das zaristische Russland mit seinem Anspruch auf Transkaukasien durchsetzte und jede Regung nach Unabhängigkeit mit brutaler Gewalt im Keim erstickte. Auch in Georgien kam es immer wieder zu Bauernaufständen, zuletzt im Jahre 1905, und zugleich entstand eine – von der Quantität eher bescheidene - Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Georgiens blieb auch nach der Spaltung der russischen Arbeiterpartei mehrheitlich menschewistisch und erhielt bei den ersten Wahlen zur Duma im Jahre 1905 alle Mandate. Mit der russischen Februarrevolution 1917 war auch das Ende der zaristischen Herrschaft in Georgien gekommen. Die Bodenschätze weckten Begehrlichkeiten, deutsche Truppen sollten Georgien vor der Türkei schützen. Am 26. Mai 1918 erklärte sich Georgien zur von Russland unabhängigen Demokratischen Republik, die wenige Tage später von Deutschland, aber auch von der Türkei als Staat anerkannt wurde. Nach dem Abschluss des Friedens von Brest-Litowsk im März 1918 anerkannte auch das sowjetische Russland im August 1918 in einem Zusatzabkommen die Unabhängigkeit Georgiens. Nach Kriegsende im November 1918 wechselte die „Schutzmacht“, englische Truppen sicherten den Zugang zu dem georgischen Schwarzmeerhafen Batumi und damit den Endpunkt einer Erdölleitung aus dem aserbeidschanischen Baku. Die menschewistische Sozialdemokratische Arbeiterpartei blieb weiterhin die stärkste politische Kraft, sie stellte seit Juni 1918 den Ministerpräsidenten, zunächst in einer Koalitionsregierung, nach den Wahlen im Februar 1919 und einem „Erdrutschsieg“, wie es auch in der internationalen Presse hieß, als allein regierende Partei. Eine konsequente Reformpolitik – davon später mit den Worten Kautskys mehr - sicherte ihr die Unterstützung der Mehrheit der Georgier. Aufstandsversuche der georgischen Bolschewiken, aber auch Abspaltungsversuche in Ossetien und Abchasien wurden gewaltsam unterdrückt. Im Februar 1921 gab sich die demokratische Republik Georgien eine Verfassung nach Schweizer Vorbild. Kurz zuvor waren Anfang Februar Truppen der Roten Armee in Georgien einmarschiert, die Georgier Stalin und Ordshonikidse hatten den Einmarsch vorbereitet und zunächst geheim gehalten. Lenin und der Rest des Politbüros, gaben jedoch ihre Zustimmung. Der Widerstand der georgischen „Volksgarde“ war tapfer, aber erfolglos. Am 25. Februar 1921 fiel Tiflis und die „Georgische Sozialistische Sowjetrepublik“ wurde ausgerufen. Der kurze Frühling eines praktizierten demokratischen Sozialismus in Georgien war zu Ende.
Aber Georgien zwischen Mitte 1918 und Anfang 1921 blieb – wie Kautsky schrieb- für die Sozialdemokratie in der Welt ein Beispiel dafür, dass ein Staat auf Terror und Gewalt verzichten kann, gerade weil es Demokratie und Sozialismus als zwei Seiten einer Medaille begriff.
Zumindest Kautsky sah es so bereits seit 1918 und er war neugierig, dieses Beispiel aus der Nähe zu sehen. Die georgische Sozialdemokratische Arbeiterpartei war Mitglied der II. Internationale geblieben und hatte Mitte 1920 eine Delegation führender europäischer Sozialdemokraten eingeladen, das Land zu besuchen. Kautsky sollte der Delegation angehören, er erkrankte allerdings bei der Anreise in Rom und kam in Georgien erst an, als die Delegation schon wieder die Abreise plante. Er wurde dennoch zusammen mit seiner Frau Luise sehr herzlich empfangen, führte zahlreiche Gespräche und war von der Gastfreundschaft begeistert. Nach seiner Rückkehr über Rom nach Wien schrieb er in kürzester Zeit, gestützt auf seine Eindrücke und Informationen aus Georgien und auf die umfänglich zu Rate gezogene Literatur über Georgien sein Büchlein „Georgien. Eine sozialdemokratische Bauernrepublik. Eindrücke und Beobachtungen von Karl Kautsky, Wien 1921“. Seine Frau Luise hatte an vielen Gesprächen mit den Genossen in Tiflis teilgenommen, wie Fotos von der Reise belegen. Nach der Rückkehr nach Wien veröffentlichte auch Luise im April 1921 in mehreren Fortsetzungen ihre „persönlichen Erinnerungen“ an Georgien in der Wiener Arbeiterzeitung, dabei war auch ein Beitrag über die georgische Frau.
Für Kautsky war und blieb Georgien, wie er im Vorwort seiner kleinen Schrift – datiert am 18. Februar 1921 - schrieb, „ein Land, das an den Grenzen der europäischen Zivilisation liegt und doch eine sozialdemokratische Regierung und ein Parlament mit starker sozialdemokratischer Mehrheit aufweist; ein Land, ökonomisch noch rückständiger als das benachbarte Rußland, und dessen Proletariat doch die politische Herrschaft oder, wenn man so will, die Diktatur übt ohne jeglichen Terrorismus, mit den Mitteln und Methoden der Demokratie.“ Das Manuskript hatte die Druckerei noch nicht verlassen, als er am 8. März 1921 eine „Nachbemerkung“ anfügen musste. Seine Schrift sei auf beklagenswerte Weise hochaktuell geworden. Die „Schreckensnachricht von dem bolschewistischen Überfall“ auf Georgien hatte ihn erreicht und er musste den Schluss ändern und zwei neue Kapitel über den beginnenden „bolschewistischen Terror“ schreiben. Georgien „kämpfte“ noch dagegen an, Kautsky fürchtete aber zu Recht, dass die Übermacht der Bolschewiken erdrückend sei. Umso mehr müsse nun auf die „historische Bedeutung“ des „ georgischen Sozialismus“ hingewiesen werden, der bewiesen habe, dass Demokratie und Sozialismus sich einander bedingen und gerade darum erfolgreich sein können.
Seine Schrift will das im Einzelnen belegen, da dieses Beispiel von großer Bedeutung für die „gesamte internationale Sozialdemokratie“ sei. In 13 kurzen Kapiteln beschreibt er – voller Begeisterung – die Schönheiten des Landes, skizziert kurz die Geschichte Georgiens, die Landwirtschaft, die Industrie und die Klassengesellschaft, um dann etwas ausführlicher die aktuelle Entwicklung nach der sozialen Revolution 1917/18, die Probleme des Staates, aber auch die „Festigkeit des sozialdemokratischen Regimes“ zu untersuchen. Der Schluss ist nach der Schilderung des „bolschewistischen Überfalls“ dem „Moskauer Bonapartismus“ gewidmet, der nun in Russland unter Lenin und Stalin bestimmend sei.
Kautsky bestreitet nicht, dass auch die menschewistische Regierung eine „Diktatur einer Minderheit“ ist, aber anders als in Russland werde sie „von allen Klassen willig getragen“ und er fragt erstaunt: „Woher nun die wunderbare Erscheinung einer Diktatur des Proletariats auf demokratischer Grundlage in einem agrarischen Land ohne nennenswerte Industrie?“ Die Antwort Kautskys: „Die georgischen Sozialisten waren sich einig, sie konnten so, obwohl nur die Minderheit des Industrieproletariats repräsentierend, ihren beherrschenden Einfluß auf die Gemüter der revolutionären Bauernschaft“ erlangen.
Kautsky verweist in dem Zusammenhang auf die „volle Selbstverwaltung der Gemeinden und Provinzen“ und auf ein vielfältiges erfolgreich agierendes und gefördertes Genossenschaftswesen (1919: 989 Genossenschaften mit 300000 Mitgliedern), vor allem aber auf eine behutsame Agrarreform, die zwar alle Großgrundbesitzer enteignet, den armen Bauern aber erlaubt, das ihnen zugeteilte Land nicht nur zu pachten, sondern auch zu kaufen.
Kautsky verschweigt nicht die Probleme, die „Verlegenheiten“ des Staates, dazu gehörten die Ernährungsprobleme, die Teuerung und die Abhängigkeit der nicht autarken Industrie vom Ausland. Aber die menschewistische Regierung wisse, dass die Weltrevolution nicht auf der Tagesordnung steht, sie beschneide die Macht des Kapitals, aber mit der „Methode der meisterhaften Beschränkung“. Das sozialdemokratische Regime weise so eine bemerkenswerte „Festigkeit“ auf, die Opposition von links, die Bolschewiken, genösse alle demokratischen Freiheiten, fände aber kaum Anhänger und die Opposition von rechts, einschließlich des Einmarsches „weißer“ Truppen scheitere an dem erfolgreichen militärischen Widerstand.
Dennoch war für Kautsky klar: so stabil das Regime im Innern sei, die „Gefahren“ kämen von außen. So recht Kautsky mit dieser Prognose hatte, die Hoffnung auf eine Welle der internationalen Solidarität für das überfallene Georgien, noch mehr aber die Hoffnung auf einen „baldigen Sieg“ der Opposition und die Überwindung des Bolschewismus in Sowjetrussland erwies sich als bloßes Wunschdenken. Die „bolschewistische Diktatur“, die zunächst mit dem Segen von Lenin und Trotzki 1921 begonnen hatte, nahm unter Stalin seinen Fortgang und sollte Jahrzehnte andauern.
Dabei kam die erste deutliche Kritik an der Art und Weise der Machtausübung noch im Jahre 1917 aus den Reihen der Bolschewiki selbst. Nach dem Sieg der Bolschewiki im bewaffneten Aufstand vom 7. November 1917 wurde die alte provisorische Regierung verhaftet und eine neue, der Rat der Volkskommissare, bestehend aus 15 Bolschewiken, gebildet.
Am 17. November legten fünf Volkskommissare ihr Amt unter Protest nieder: Rykow, Miljutin, Nogin, Teodorowitsch und Schlapnikow. Ihr Protest wurde unterstützt von Sinowjew und Kamenjew. Sie forderten die Bildung einer Regierung aus allen drei die Revolution unterstützenden Parteien: den Bolschewiki, den Menschewiki und den Sozialrevolutionären. Falls das nicht zustande käme, drohe das Ende der Revolution, denn eine rein bolschewistische Regierung „kann sich nur mit Hilfe des politischen Terrors an der Macht halten“.
Die im Dezember 1917 gewählte verfassungsgebende Versammlung - die Konstituante - zu 85% bestehend aus Mitgliedern der drei oben genannten Parteien, darunter freilich nur 175 Bolschewiki (von 707 Abgeordneten im ganzen) wurde im Januar 1918 bereits durch Soldaten auseinandergejagt. Die Bolschewiki regierten diktatorisch als Minderheitsregierung mithilfe der schon im Dezember 1917 gebildeten Tscheka. Im Juni 1918 wurden auch aus allen anderen regionalen Sowjets, den vielgerühmten Räten der Revolution, alle Mitglieder der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre ausgeschlossen. Die Diktatur der mit politischem Terror regierenden bolschewistischen Partei war bereits ein halbes Jahr nach dem Sturm auf das Winterpalais Wirklichkeit geworden. Von den Warnern vom Novembern 1917 ist nur einer eines natürlichen Todes gestorben, allen anderen wurden Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Wolfgang Leonhard hat auf dieses Vermächtnis der vergessenen Volkskommissare aufmerksam gemacht. Er schließt seinen Zeitungsartikel mit dem Satz: "Weit mehr als dem später einseitig verherrlichten Lenin gebührt ihnen Respekt."
Zur diktatorischen Machtausübung der Bolschewiki gehörte auch von Anfang an die Doktrin, den verschiedenen Nationen im Vielvölkerstaat Russland keine Freiheiten zu gestatten, die ihnen auch die Entscheidung über eine nationale Unabhängigkeit erlaubt hätte. Vor allem Stalin hatte deshalb auch stets alle Versuche Georgiens, selbständig und unabhängig vom zaristischen und sowjetischen Einfluss zu sein, als reaktionär denunziert. [21]
Stalin und Lenin und die Kritik von Rosa Luxemburg
Der 12. Parteitag der KPdSU im April 1923 fand ohne Lenin statt, er war schon sterbenskrank. Stalin war nun schon an der Spitze von Partei und Staat. Der Parteitag war der „nationalen Frage“ gewidmet und der ehemalige Volkskommissar für Nationalitätenfragen erstattete Bericht. Voller Stolz verwies er auf die Sowjetunion als „Vorbild für die Lösung der nationalen Frage“ nicht zuletzt auch in Georgien. Seine Biographen feierten ihn noch 1947 dafür: „Stalin entlarvte die Vertreter der georgischen nationalen Abweichung, die von Trotzkisten unterstützt wurden“.
Lenin sah freilich in seinen letzten Lebenstagen immer deutlicher, welchen bösen Geist er aus der Flasche gelassen hatte und versuchte –freilich vergeblich- Stalin als seinen Nachfolger an der Spitze der Partei der Bolschewiki zu verhindern. In seinen Tagebuchnotizen („Testament“) äußerte sich Lenin auch zum Umgang mit den vielen Nationalitäten im russischen Vielvölkerstaat und zum Problem des sowjetischen Nationalismus. In dem Zusammenhang sprach Lenin auch über das „Recht des Austritts aus der Union“ und „brandmarkte die ‚Verbohrtheit‘ der von Stalin nach Georgien kommandierten Säuberungskommissare“. Lenin zögerte nicht, den Verantwortlichen für diese Politik beim Namen zu nennen: „Ein Georgier … der leichtfertig mit Beschuldigungen des ‚Sozialnationalismus‘ um sich wirft … ein solcher Georgier verletzt im Grunde genommen ,die Interessen der proletarischen Klassensolidarität, weil nichts die Entwicklung und Festigung der proletarischen Klassensolidarität so sehr hemmt wie die nationale Ungerechtigkeit…“ Eine bemerkenswerte Einsicht, freilich zu spät gewonnen.
In Deutschland kam auch aus den Reihen der kleinen Spartakusgruppe schon bald und unerwartet scharfe Kritik an der Partei der Bolschewiki. Die Kritik kam erneut - wie schon 1904/05 - von Rosa Luxemburg. Über ihre Schrift ist viel geschrieben worden, sie ist auch sicherlich oft nur in "Versatzstücken" zitiert worden, die kaum eine wirkliche Auseinandersetzung mit der sozialistischen Theoretikerin zum Anlass hatten. Auf der anderen Seite aber ist die kleine, erst 1922 von Paul Levi – inzwischen wieder auf dem Weg zurück in die SPD – erstmals, allerdings unvollständig, veröffentlichte Schrift "Die russische Revolution" stets eine Herausforderung für die kommunistische Bewegung gewesen, die diese nie angenommen hat. Verschweigen und Verfälschen der historischen Bedeutung Luxemburgs war die einzige Antwort der stalinisierten KPD und – nach 1945- der SED. Die Geschichtsschreibung der DDR musste den Vorwurf des „Luxemburgismus“ fürchten, wenn sie die Sätze von Rosa Luxemburg über die „Freiheit des anders Denkenden“ ohne Vorbehalte veröffentlichte. Die Herausgeber der Schriften Luxemburgs vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED verbannten den Satz deshalb in einer leicht veränderten Fassung in eine Fußnote, da es sich im Manuskript angeblich um eine „Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis“ gehandelt habe. Immerhin blieb dieser wichtige Satz Luxemburgs damit nicht länger unterschlagen und Dissidenten in der DDR konnten sich darauf berufen.
Anders als Clara Zetkin später behauptete steht heute fest, dass Rosa Luxemburg ihre Kritik an der russischen Oktoberrevolution nicht für die Schublade geschrieben hatte, sondern dass sie sie veröffentlicht sehen wollte, denn - wie sie an Bratman-Brodowski schrieb - "ganz zu schweigen ist unmöglich" und es steht auch fest, dass ihre Kritik noch schärfer ausgefallen wäre, wenn sie nicht in der Tat etwas auf die Lage der Bolschewiki Rücksicht genommen hätte.
Rosa Luxemburg stand mit ihrer Kritik an der bolschewistischen Revolution in der Spartakusgruppe nicht allein. Einige ihrer engsten Freunde hatten Luxemburg zwar die Veröffentlichung ihrer Abrechnung mit den Bolschewiki ausreden wollen, war doch - wie Leo Jogiches im September 1918 schrieb - das möglich scheinende sozialistische Russland "zwar ein krüppliges, aber immerhin doch unser Kind". Die Skepsis begann aber nicht nur bei Jogiches größer zu werden. Einige sahen schon im Jahre 1918 den Versuch einer sozialistischen Revolution in Russland gescheitert. So schrieb Käte Dunker im September 1918 an ihren Mann: "Die Sache der Bolschewiki muss man ja als verloren betrachten. Die Mittel, durch die sie sich zu halten suchen, beweisen, dass sie verloren sind. Nicht als ob ich ihnen moralische Vorwürfe machen wollte, - aber ein System, das sich nur dadurch halten kann, dass es den Terror als Prinzip erklärt; ein System, bei dem Unbeteiligte als Geiseln erschossen werden, das kann sich nicht halten, das trägt den Todeskeim in sich. Ihr Wille war der beste, aber die Verhältnisse sind stärker als sie, sie haben sie gezwungen, das Gegenteil von dem zu tun, was sie eigentlich wollten."
Deutlicher und auch radikaler in der Konsequenz des Urteil aber war Rosa Luxemburg, wenn sie in ihrer Polemik, die sich gegen Kautsky ebenso wie gegen Lenin und Trotzki richtete, ihren Begriff von der Diktatur des Proletariats definierte: "Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, … Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, …“
Was aber ist mit der Revolution, wenn diese Klasse die Gefolgschaft versagt, wenn sie anders darüber denkt als die Revolutionsführer? Dazu schrieb Luxemburg bis heute gültige Sätze: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird."
Mit diesen Sätzen - aber nicht nur mit diesen - steht Rosa Luxemburg mehr in der Tradition des demokratischen Sozialismus als in der Tradition der von Lenin geprägten kommunistischen Bewegung. Es ist freilich müßig, zu spekulieren, wie ihr Schicksal in der bolschewisierten Kommunistischen Partei ausgesehen hätte, wenn es ihr denn vergönnt gewesen wäre. Rosa Luxemburg wurde von der Konterrevolution ermordet, die Rolle eines Gustav Noske dabei bleibt bis heute fragwürdig. Ihre Ermordung verhinderte, dass ihre Kritik in der eben erst gegründeten Kommunistischen Partei Wirkung zeigen konnte.
Die Verklärung und die Tragödie der Oktoberrevolution
In der kommunistischen Bewegung war nach der Unterwerfung der kommunistischen Parteien unter die Vorgaben der Kommunistischen Internationale die Oktoberrevolution nur noch ein - freilich propagandistisch gerade dadurch sehr wirkungsmächtiger - wichtiger Bestandteil einer "proletarisch-sozialistischen Mythologie". In seiner "Geschichte des Bolschewismus" hat Arthur Rosenberg - und er wusste als ehemals führender deutscher Kommunist, wovon er sprach - den ideologischen Charakter dieser Mythologie und ihrer Wirkung deutlich beschrieben. Dieses mythologische Bild von der Oktoberrevolution verband sich - wie Gert Schäfer im Rückblick auf die Oktoberrevolution zu Recht betonte - mit einer fast religiös zu nennenden "Gewaltverherrlichung", die die Gewaltanwendung in der Oktoberrevolution und in den unmittelbar darauf folgenden Jahren als "notwendig" verklärte und so auch die in der Dimension so viel furchtbarere Gewaltanwendung in der Hochzeit des Stalinismus praktisch von den mythologischen Anfängen her entschuldete. Daraus erwuchs schon gegen Ende der zwanziger Jahre, aber mehr noch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eine sich auf die Oktoberrevolution berufende "weltrevolutionäre Phraseologie" - wie György Konrad es nannte - , die mit der in der Oktoberrevolution immerhin noch aufscheinenden sozialistischen Utopie nichts mehr zu tun hatte, umso mehr aber mit der "konspirativen außenpolitischen Expansion des bestehenden sowjetischen Systems".
Einer derjenigen, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die deutsche Sozialdemokratie - zunächst noch aus dem Exil, später auch als in Westberlin lehrender Politikwissenschaftler - zu einem programmatischen Neuanfang ermuntern wollte, war Paul Sering - später bekannter unter seinem Namen Richard Löwenthal. Er schrieb noch im englischen Exil ein in der wiedergegründeten SPD viel beachtetes Buch, das allerdings wenig unmittelbare Folgen zeitigte.
Mit seinem Buch „Jenseits des Kapitalismus“ wolle er - wie er schrieb - "Schutt aus den Köpfen“ wegräumen und deshalb "auf die ursprünglichen Inhalte der sozialistischen Idee, auf den Ausgangspunkt der sozialistischen Arbeiterbewegung“ zurückgreifen.
Natürlich beginnt er bei Marx, lobt die Methoden der marxistischen Analyse, die hochaktuell seien und verdammt jeden Dogmatismus im Namen von Marx, der leider allzu verbreitet sei - auch in der SPD, von der KPD gar nicht zu reden.
Er kommt in dem Zusammenhang (natürlich) auch auf die Oktoberrevolution zu sprechen. Sering resümiert wesentliche Kritikpunkte, die auch schon Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an der russischen Revolution benannt hatte und er macht deutlich, wie viele der von Luxemburg vorausgesagten Konsequenzen aus den von Anfang an vorhandenen "Geburtsfehlern" der Oktoberrevolution inzwischen eingetroffen seien: der Einparteienstaat, die fehlende Demokratie in Partei und Staat, die Diktatur einer Minderheit in der Partei, die der inneren und äußeren Feinde bedarf.
Aber - so resümiert Sering - das alles ist nicht erst die Folge späterer Fehlentwicklungen, für die allein Stalin und das von ihm geprägte System des Stalinismus verantwortlich zeichnet. Das alles ist bereits von Anfang an in der Oktoberrevolution selbst angelegt.
Mit dieser Einschätzung unterscheidet sich Sering sowohl von den Revolutions-Nostalgikern, die für den Stalinismus immer nur Stalin verantwortlich machen wollen als auch von "platten Antibolschewisten", die während der Oktoberrevolution das Wüten des Antichristen erkennen wollen. Die Stalinsche Terrorherrschaft ist für Sering die Konsequenz aus der Leninschen Oktoberrevolution, aber er nennt das auch zugleich die "Tragödie" dieser Revolution: "Sozialismus und Demokratie. Das ist die wahre Tragödie der russischen Revolution. Sie lehrt uns, dass zwischen dem ökonomisch-sozialen Ziel des Sozialismus und der politischen Form ein notwendiger Zusammenhang besteht. Es zeigt sich, dass der weit verbreitete Glaube eine Illusion ist, als könnten Sozialisten zwischen einer diktatorischen und einer freiheitlichen Form des Sozialismus nach Zweckmäßigkeitsgründen wählen." Damit schließt sich ein Kreis, der sich mit dem Blick Kautskys auf die demokratisch-sozialistische Bauernrepublik Georgien geöffnet hatte.
Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrags während eines Fachgesprächs in der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn am 20./21.1.2017 zum Thema: „Die Russische Revolution und ihre Folgen“.