von Nina Schneider

In kaum einem anderen Land der Welt war soziale Ungleichheit traditionell so kennzeichnend wie in Brasilien. Das Musterbeispiel für soziale Ungleichheit ist ein interessanter Ausgangspunkt, um aufzuzeigen, dass selbst historisch verwurzelte soziale Ungleichheit wandelbar ist und reduziert werden kann. Die sozialpolitischen Entwicklungen in Brasilien und Deutschland sind derzeitig gegenläufig; Brasilien war traditionell durch seine Geschichte und Finanzpolitik der sozialen Ungleichheit geprägt.

Seit Mitte der 90er Jahre und verstärkt seit der Amtsübernahme von Luiz Inácio da Silva (2002-2010), genannt Lula, wurden jedoch aktiv Maßnahmen ergriffen, um die absolute Armut zu bekämpfen (vgl. Greve 2010). Brasilien führt vor, wie Ungleichheit auf friedliche Weise reduziert werden kann: Wenn der politische Wille da ist, können Einnahmen in dementsprechende Programme investiert und finanzpolitische Maßnahmen ergriffen werden, so dass die Steuerlast ─ nicht wie es traditionell geschah ─ auf den Ärmeren lastet und die Ungleichheit damit noch zuspitzt. Brasilien dient hier als Kontrastfolie zur derzeit stark zunehmenden sozialen Ungleichheit in Deutschland. Deutschland galt traditionell weltweit als Pionier des Sozialstaats und als Land relativer sozialer Gleichheit. Jahrzehntelang war die soziale Marktwirtschaft ein deutsches Aushängeschild, nicht zuletzt im Wettstreit mit dem Sozialsystem der DDR. In jüngster Zeit jedoch hat die soziale Ungleichheit in keinem Mitgliedsstaat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) so stark zugenommen wie in Deutschland (vgl. Horn 2011; Frick und Grabka 2009). Kurzum – die klassischen Rollenmuster beider Länder befinden sich im Wandel, und dieser Beitrag beleuchtet diese gegenläufigen Entwicklungen und reflektiert über ihre Bedeutung.

Sozialwissenschaftler haben sich seit langem sowohl mit den Ursachen als auch den Auswirkungen von sozialer Ungleichheit in Brasilien beschäftigt. Diese aktuellen Debatten sind Gewinn bringend, können sie doch potentielle, sehr langfristige gesellschaftliche Konsequenzen einer zunehmenden sozialen Ungleichheit – wie wir sie in Deutschland derzeit erleben – aufzeigen. Während die Definition von sozialer Ungleichheit im medienpolitischen und gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland stark auf die ökonomische Bedeutung begrenzt bleibt, wird soziale Ungleichheit von Brasilianisten sehr viel umfassender konzeptionalisiert. Wenn in Deutschland über fünf Euro mehr oder weniger debattiert wird, diskutieren Brasilianisten inwiefern soziale Ungleichheit zu Mängeln in der demokratischen Ordnung führt, zu einer Zwei-Klassengesellschaft, zur Missachtung von Menschenrechten und zur Ungleichheit brasilianischer Bürger vor dem Gesetz. Auch wenn sich Brasilien ohne Zweifel nicht problemlos mit Deutschland vergleichen lässt – wie ich im Folgenden ausführen werde – und ein Kontrast daher auf den ersten Blick sowohl kühn als auch theoretisch anmutet, lohnt sich daher eine Auseinandersetzung mit Brasilien. Der Kontrastfall Brasilien soll genutzt werden, um die in Deutschland derzeit stark zunehmende soziale Ungleichheit kritisch zu beleuchten.

Historische Wurzeln der sozialen Ungleichheit in Brasilien

Brasiliens extreme soziale Ungleichheit wurzelt in komplexen historischen und politischen Faktoren (vgl. Skidmore 2004). Brasilien war von der Entdeckung durch Cabral im Jahr 1500 bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1822 – also mehr als drei Jahrhunderte lang – portugiesische Kolonie. Es unterscheidet sich von den spanisch-amerikanischen Kolonien durch zwei wesentliche Punkte: Erstens, eine gezieltere Politik der Abhängigkeit an die Metropole Portugal; so waren beispielsweise eigenständige Universitäten auf brasilianischem Boden bis ins 19. Jahrhundert hinein verboten, während Spanisch-Amerika bereits seit dem 16. Jahrhundert eigene Universitäten gründete (Skidmore 2004: 138; Carvalho 1982). Zweitens, Brasilien erreichte seine Unabhängigkeit nicht nach blutigen Kriegen wie es in Spanisch-Amerika zwischen 1808 und 1826 der Fall war, sondern sie wurde eigens durch den Sohn des portugiesischen Königs ausgerufen, der sich als Pedro der Erste zum brasilianischen Kaiser proklamieren ließ. Durch die vergleichsweise friedliche Unabhängigkeit kam es in Brasilien zu noch deutlich schwächeren Umverteilungsprozessen.

Eine weitere Wurzel von Ungleichheit ist die Institution der Sklaverei, welche in Brasilien seit etwa den 1520er Jahren existierte und erst 1888 formell abgeschafft wurde. Brasilien war das letzte westliche Land, welches die Sklaverei verbot und von den geschätzten 12 Millionen transatlantischen Sklaven wurde der Großteil – zirka 38 Prozent – nach Brasilien importiert. Die Größenangaben an Sklaven variieren, jedoch ist unbestritten, dass Brasilien die größte Zahl an Sklaven importierte (Klein 1986: 21, 81). Die Kolonial- und Sklavereigeschichte haben nicht nur zu einer persistenten sozialen Ungleichheit geführt, sondern auch die Rolle in der Weltwirtschaft bestimmt, die durch eine starke Ausfuhr von Primärgütern und entsprechenden Abhängigkeiten vom Weltmarkt gekennzeichnet ist (Skidmore 2004: 134, 146).

Zudem hat es in Brasilien nie eine wesentliche Redistributionspolitik wie beispielsweise eine Bodenreform, einen bemerkenswerten Volksaufstand oder eine starke Arbeiterbewegung gegeben. Anarchistische, sozialistische und kommunistische Ideen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert durch europäische Migranten in die brasilianischen Städte gelangten, wurden seit den 20er Jahren unterdrückt (Maram 1977). Anfang der 60er Jahre kam es zu einer ersten großen Mobilisierung der Arbeiterschaft, aber ein Militärputsch verhinderte 1964 ein Reformpaket, welches eine Bodenreform anstrebte. Während der Militärdiktatur (1964-1985) vergrößerte sich die Armutsschere trotz hoher Wachstumsraten, dem sogenannten brasilianischen Wirtschaftswunder (1969-1973) (Draibe 1994). Traditionell betrieb der Staat eine Finanzpolitik zugunsten der besitzenden Oberschicht. Die ärmere Bevölkerung wurde durch hohe Einkommens- und Mehrwertsteuern stärker belastet (Skidmore 2004: 136). Durch diese »regressive Redistributionspolitik« wurde die historische Einkommen- und Vermögensschere noch weiter geöffnet (Skidmore 2004: 134).

Erst Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) und insbesondere Lula sorgten seit den 90er Jahren für einen Rückgang der absoluten Armut (Skidmore 2004: 134, 146). Es ist daher keine Übertreibung, von einer tief verwurzelten sozialen Ungleichheit in Brasilien zu sprechen. Deshalb bietet sich Brasilien eher als Kontrastfolie zu Deutschland an denn als Vergleichskategorie. Dass ein Wandel in Brasilien in den letzten Jahrzehnten möglich war, zeigt, dass eine historisch verwurzelte Ungleichheit auch wieder ›abgebaut‹ werden kann, wenn die Erlöse aus dem Wirtschaftswachstum gezielt für die Bekämpfung sozialer Ungleichheit eingesetzt werden. Viel zu oft fließt dieses Geld in andere Kanäle, wie wir im ›brasilianischen Wirtschaftswunder‹ beobachten konnten. Dem hat die brasilianische Regierung nun entgegengewirkt, indem sie gezielt Sozialprogramme finanzierte und Reformen wie etwa die Rentenreform durchführte, so dass die sozial Schwachen entlastet wurden.

Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie in Brasilien

Die meisten lateinamerikanischen Länder wurden zwischen den 60er und 80er Jahren von Militärregimes regiert. Viele Forscher haben untersucht, wie der Transitionsprozess von der Diktatur zur Demokratie im einzelnen ablief und welche autoritären Erbschaften in den jungen lateinamerikanischen Demokratien fortleben. In aktuellen wissenschaftlichen Studien über die Qualität von Demokratie im post-autoritären Lateinamerika wird die Definition von Demokratie nicht mehr auf freie, allgemeine und unabhängige Wahlen und einen regelmäßigen Machtwechsel begrenzt, sondern im erweiterten Sinne verstanden, einschließlich der tatsächlichen Gewährleistung von Bürger- und Sozialrechten (Kingstone und Power 2000: 5). Dem Thema soziale Ungleichheit wird zunehmend mehr Gewicht zugesprochen, wenn es darum geht, Demokratiemängel in Lateinamerika zu erklären.

Der argentinische Politikwissenschaftler Guillermo O’Donnell (2001: 601, 609), emeritierter Professor der Universität Notre Dame, sagt, lateinamerikanische Demokratien sind durch eine schwache Staatsbürgerschaft gekennzeichnet (citizenship of low intensity). Hierfür macht er den »sozialen Autoritarismus« verantwortlich, ein »durchgängiges Verwehren von Bürger- und Sozialrechten«, welches auf sozialer Ungleichheit fuße (O’Donnell 2001: 607-09). In ähnlicher Form kritisiert der Politikwissenschaftler Anthony W. Pereira (2000: 222), Leiter des Brazil Institute am King’s College in London, dass brasilianische Bürger vor dem Gesetz nicht gleich seien. Die soziale Ungleichheit in Brasilien habe dafür gesorgt, dass einige Bürger ─ die armen und nicht weißen ─ härter bestraft würden als weiße und wohlhabende Brasilianer (Pereira 2000: 217). Eine vergleichbare Position bezieht der brasilianische Politikwissenschaftler Sérgio Pinheiro (1994: 237, 243), welcher von einem »sozial verwurzeltem Autoritarismus« (socially rooted authoritarianism [sic]) spricht, um die ungleiche Behandlung brasilianischer Bürger vor dem Gesetz zu beschreiben.

Alle Forscher betonen, dass soziale Ungleichheit dazu geführt habe, dass es Menschen erster und zweiter Klasse gäbe, da die formelle Rechtsgleichheit praktisch nicht umgesetzt werde. Soziale Ungleichheit bedeutet in Brasilien: Ungleichheit vor dem Gesetz, Diskriminierung durch Staats- und Verwaltungsorgane, und die politische und gesellschaftliche Missachtung von Menschenrechten. Wenngleich ich hier nicht näher darauf eingehen kann, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass soziale Ungleichheit in Brasilien nicht nur mit dem puren Einkommen verflochten ist, sondern die Hautfarbe, die berufliche Position, der Besitz, das Geschlecht und die Region ebenfalls eine Rolle spielen (vgl. Beato 2004). Obwohl Brasilien offiziell als Demokratie gilt, so die Schlussfolgerung, ist eine umfassendere Demokratisierung (deepening of democracy) im weiter gefassten Sinne des Begriffs noch nicht erreicht.

Soziale Ungleichheit und der Umgang mit Menschenrechtsverletzungen

Besonders interessant ist der Spezialfall Brasilien hinsichtlich des geringen Werts, welcher Menschenrechten zugewiesen wird. Dies lässt sich symptomatisch anhand der Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) zeigen. Hier unterscheidet sich Brasilien stark von anderen lateinamerikanischen Ländern, allen voran Argentinien, denn es ist das einzige postautoritäre Land, welches weder eine Wahrheitskommission hatte noch ehemalige Agenten der Repressionsorgane bestrafte (Heinz 2008: 56).

Diese Sonderstellung wurde jüngst durch zwei Ereignisse bestärkt: Der Bestätigung des Amnestiegesetzes und dem Eklat um die Wahrheitskommission. Im Jahr 1979, noch während der Diktatur, wurde in Brasilien ein Amnestiegesetz verabschiedet, welches ehemaligen Menschenrechtsverbrechern der staatlichen Repressionsorgane uneingeschränkte Straffreiheit gewährte. Als die Vereinigung der brasilianischen Richter (OAB) vor dem brasilianischen Bundesverfassungsgericht gegen die Amnestie klagte, lehnte das Gericht die Klage ab und bestätigte das Amnestiegesetz erneut (Folha Online 2010). Im Gegensatz dazu sind in Argentinien und Uruguay die Amnestien aufgehoben worden. In Chile wurde es zwar nicht formell aufgehoben, aber so interpretiert, dass Strafverfolgungen dennoch möglich waren, indem man internationale Menschenrechtskonventionen über chilenisches Recht stellte (Lafontaine 2005). Allein der Vorschlag für eine Wahrheitskommission führte im Dezember 2009 zu einem Regierungseklat (Schneider 2011). Als der damalige Präsident Lula den Gesetzesvorschlag bereits unterschrieben hatte, reichten der Verteidigungsminister und die höchsten drei Militärführer ihr Entlassungsgesuch ein, um so eine Modifizierung der Wahrheitskommission zu erpressen (Éboli 2009: 4).

Forscher haben versucht, Brasiliens Sonderweg hinsichtlich der Menschenrechtsverbrechen zu verstehen. Dabei sind sie immer wieder auf die Erklärung gestoßen, dass die soziale Ungleichheit in Brasilien für eine Gesellschaft mit Bürgern erster und zweiter Klasse gesorgt habe. Menschenrechtsdebatten sind also vielsagend über die Werte und Normen auf denen die junge brasilianische Demokratie aufgebaut ist. Im Gegensatz zu Brasilien hat sich die Bevölkerung in Argentinien für Menschenrechte mobilisiert und ist dabei aktiv von einzelnen Präsidenten unterstützt worden. Dieser aktive zivil-politische Kampf hat entscheidend zur Stärkung von Menschenrechten beigetragen. Nach der argentinischen Soziologin Elizabeth Jelin (2008: 347) sind Menschenrechte sogar zu einem »Gründungselement der neugeborenen politischen Demokratie« in Argentinien avanciert. Warum Menschenrechte dort eine größere Rolle spielen, hat vielfältige und komplexe Gründe. O’Donnell (1984) verweist darauf, dass eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit in Argentinien sehr viel stärker ausgeprägt sei als in Brasilien (vgl. auch Pereira 2000: 222).

Menschenrechte zu einem Grundpfeiler der jungen Demokratie zu erheben ist im postautoritären Brasilien nicht gelungen. Die Gleichheit aller Menschen sowie Menschenrechte sind keine sozial verankerten und rechtlich umgesetzten Grundwerte. Im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht hat nach Ansicht des Brasilienexperten von Amnesty International, Tim Cahill, die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechern sogar noch ›juristisch besiegelt‹, als es sich weigerte, das Amnestiegesetz zu kippen (Reuters/Folha Online 2010). Hauptbegründung für diese Entwicklung ist die historisch verwurzelte mehrdimensionale soziale Ungleichheit.

Historische Wurzeln der relativen sozialen Gleichheit in Deutschland

Im Gegensatz zu Brasilien galt Deutschland traditionell weltweit als Pionier des Sozialstaats und als ein Land mit einer relativen sozialen Gleichheit. Bereits vor dem 19. Jahrhundert leisteten Genossenschaften, Betriebe, Kommunen und insbesondere die Kirchen den Armen in Europa fürsorgliche Hilfe. Dennoch gilt insbesondere Deutschland als Pionierland sozialstaatlicher Sicherungssysteme (Schmid 2006: 105; Butterwegge 2006: 37). Im Jahr 1871 wurde das Haftpflichtgesetz verabschiedet, welches Unternehmer bei Arbeitsunfällen in die Haft nahm. Dieses Gesetz war die weltweit erste Gesetzesinitiative zur Sozialversicherung (Pierson 1991: 108). 1883 folgte die Krankenversicherung und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung. Weitere Länder folgten Deutschland; das Haftpflichtgesetz wurde 1881 von der Schweiz und 1887 von Österreich eingeführt und die Krankenversicherung übernahm Italien 1886 und Österreich 1888 (Pierson 1991: 108).

Warum Reichskanzler Bismarck die Sozialversicherungssysteme zu dem Zeitpunkt einführte wird debattiert. Angeführt wird einerseits, dass Bismarck revolutionäre Tendenzen und erstarkte Sozialdemokraten verhindern wollte und einen potentiellen Klassenkonflikt auf Staatsebene anheben wollte (Butterwegge 2006: 40; Schmid 2002: 105). Andererseits wird argumentiert, dass die Sozialversicherungen aus privatkapitalistischer Sicht notwendig waren und sich auf unternehmerischen Druck hin durchsetzten (Butterwegge 2006: 42-43). Auch dienten die Sozialversicherungssysteme dem Zweck der Herrschaftsausübung, wurde doch der Einfluss des Staates dadurch erhöht (Butterwegge 2006: 40).

Tatsache bleibt, dass zumindest die ersten drei Sozialversicherungen zunächst in Deutschland eingeführt wurden, um sich dann weiter auszubreiten. Nach 1945 wurde der deutsche Wohlfahrtsstaat rekonstruiert und ausgebaut, nicht zuletzt aufgrund der Konkurrenz mit der sozialistischen Wirtschaft im Osten (Butterwegge 2006: 41, 63). Mitte der 70er Jahre wurde der Wohlfahrtsstaat in Deutschland wie auch den meisten OECD-Ländern wieder um- und abgebaut (Butterwegge 2006: 41, 63; Pierson 1991: 177). Angeführt vom US amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher setzten sich weltweit neoliberale Ideen durch. Der Finanzmarktkapitalismus behauptete sich sukzessive. Obwohl in diesem sozio-politischen Zusammenhang die soziale Ungleichheit in allen Ländern der nördlichen Hemsiphäre in den letzten dreißig Jahren zunahm, so waren lange Zeit die deutschen Einkommensunterschiede im internationalen Vergleich relativ gering. Deutschland ist von dieser Entwicklung besonders stark seit dem letzten Jahrzehnt betroffen. Jüngste OECD Studien belegen, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland drastisch zunahm.

Reduktion von Armut in Brasilien, Zunahme in Deutschland

Seit der Regierungsübernahme der Arbeiterpartei im Jahr 2002, hat sich die aufstrebende Wirtschaftsnation Brasilien darum bemüht, die absolute Armut zu bekämpfen. Laut der Getúlio Vargas Stiftung (FGV), einem angesehenen Forschungsinstitut in Rio, ist die arme Bevölkerung von 31,8 Prozent im Jahr 1993-1995 auf die Hälfte (15,3 Prozent) im Jahr 2009 gesunken. Als ›arm‹ definiert sind hier Personen, die weniger als 144 Reais im Monat beziehungsweise $2,5 am Tag zur Verfügung zu haben, um den gesamten Lebensunterhalt bestreiten zu können (Lula’s legacy 2010). Alleine in den zwei Legislaturperioden unter Lula, also von 2002 bis 2009, sank der Anteil der armen Bevölkerung von 26,7 auf 15,3 Prozent, d.h. um etwa 40 Prozent. Der Gini Koeffizient, Maßeinheit für die Einkommensungleichverteilung, sank zwischen 2002 und 2009 von 0,59 auf 0,54 und erreichte 2010 den niedrigsten Stand seit Beginn der Messungen im Jahr 1960 (Lula’s legacy 2010; Gaier 2009). Empirische Untersuchungen des Laboratorium für wirtschaftliche, historische, soziale und statistische Analysen von ›Rasse‹-Beziehungen haben ergeben, dass insbesondere die ärmste, ländliche und schwarze Bevölkerung von seiner Regierung profitiert habe. Marcelo Paixão, der Leiter des Laboratoriums, stellte dieses Ergebnis auf der Latin American Studies Association (LASA) Konferenz im Juni 2009 in Rio vor. Im gleichen Zeitraum (2002-2009) stieg das monatliche Durchschnittseinkommen von 507 auf 630 Reais, die Schulzeit verlängerte sich um ein Jahr, die Anzahl an Haushalten mit einer Waschmaschine stieg von 33 auf 44 Prozent und der Bevölkerungsanteil, der in Gebäuden mit Abwasserentsorgung lebte, nahm von 44 auf 51 Prozent zu (Lula’s legacy 2010). Die absolute Armut geht zurück und die brasilianische Mittelschicht nimmt zu.

Folgt man einer weit gefassten Definition von sozialer Ungleichheit, so sind im politischen und sozial-rechtlichen Bereich noch viele Probleme zu lösen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die abnehmende ökonomische Ungleichheit auf diesen Ebenen auswirkt. Armutsbekämpfung muss also nicht automatisch und zeitgleich zu einer rechtlichen und sozio-politischen Demokratisierung führen. Die sozial besser gestellten Schichten in Brasilien bleiben weiterhin unangetastet. Diese starke Konzentration von Vermögen und Einfluss aufzubrechen, gestaltet sich sehr viel schwieriger als die bloße Armutsreduktion.

Dennoch argumentiere ich, dass wir derzeit einen Mentalitätswandel in Brasilien beobachten können. Bei der Präsidentschaftswahl im November 2010 haben alle Kandidaten einschließlich des konservativen Politikers José Serra betont, dass die absolute Armut und tiefe soziale Ungleichheit in Brasilien aktiv bekämpft werden soll. Armutsbekämpfung hat sich zu einem parteiübergreifenden, nationalen Ziel gemausert. Sowohl Politiker als auch die brasilianische Gesellschaft sind für dieses Thema stärker sensibilisiert als es bislang der Fall war. Die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig und es wäre naiv zu meinen, dass nicht auch handfeste ökonomische Interessen wie die Stärkung des Binnenmarktes und ein Anstieg an Konsumenten hierzu beitrugen. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass hier auch Persönlichkeiten eine zentrale Rolle gespielt haben ─ allen voran Lula. Er hat den Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit zu einem dominanten Thema erhoben und wurde dafür durch historische Zustimmungsraten belohnt und legitimiert. Wenn er auch nicht all seine Pläne durchsetzen konnte und im politischen Alltag viele Kompromisse machte, so ist es sein Verdienst, dass diese Themen so schnell nicht wieder von der politischen Bühne verschwinden.

Konträr dazu fand in Deutschland eine entgegengesetzte Entwicklung statt ─ die soziale Ungleichheit nahm im letzten Jahrzehnt stark zu. In keinem der über 80 OECD Ländern ist sie so drastisch angestiegen wie in Deutschland (Horn 2011; Frick und Grabka 2009). Im OECD Bericht von 2008 (vgl. Horn und van Treeck 2011: 24) heißt es: »Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land«. Das Risiko, in Deutschland arm zu werden, ist heute etwa ein Drittel höher als Mitte der 80er Jahre (Horn und van Treeck 2011: 24). Demgegenüber besaßen im Jahr 2007 die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung etwa 90 Prozent des Gesamtvermögens der privaten Haushalte (Horn und van Treeck 2011: 25).

Dabei haben sich die europäischen Länder einschließlich Nachkriegsdeutschland als Musterbeispiel von Demokratie verstanden, selbst im weiter gefassten Sinne. Wie erklärt sich der Wandel? In allen Ländern der nördlichen Hemisphäre hat mit dem Einzug von neoliberaler Wirtschaftspolitik und globalisiertem Finanzkapitalismus die soziale Ungleichheit während der letzten dreißig Jahre zugenommen. Die einzelnen Staaten mit ihren jeweiligen Kapitalismus-Modellen wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten von dieser Entwicklung erfasst. Viele Politiker haben diese Entwicklung in dem Glauben befürwortet, dass sie ihre Nationen im weltweiten Wettlauf konkurrenzfähig machen würden. Wenngleich die schwarz-gelbe Regierung die Lage mit ihrer Finanz- und Sozialpolitik zweifelsohne dramatisiert hat, so wäre es zu kurz gegriffen, sie allein für diese Entwicklung verantwortlich zu machen. Soziale Ungleichheit stieg bereits unter der rot-grünen Regierung an. Außerdem scheint sich eine Gleichgültigkeit in der Bevölkerung breitgemacht zu haben. Sie hat diese Parteien nicht nur gewählt, sondern macht im Kontrast zu ihren europäischen Nachbargesellschaften auch wenig Anstrengungen, ihrem Unmut durch Demonstrationen Ausdruck zu geben. Dabei kann der Staat soziale Ungleichheit bekämpfen, auch ohne radikalen Umsturz.

Zwei Klassiker treten ab? Soziale Ungleichheit ist wandelbar

Brasiliens traditionelle Rolle als Prototyp für extreme soziale Ungleichheit erfährt derzeit einen vielversprechenden Wandel. Seit 1995, und insbesondere seit der Präsidentschaft von Lula, ist die absolute Armut effektiv bekämpft worden, so dass der Kampf gegen soziale Ungleichheit einen beachtenswerten, überparteilichen Aufstieg erfahren hat und die Bürger stärker für das Thema sensibilisiert wurden. Wenngleich auf der politisch-rechtlichen Ebene noch viele Probleme zu lösen sind und insbesondere die Lage für die schwarze, weibliche und ländliche Bevölkerung noch verbessert werden muss, so zeigt sich am Beispiel Brasilien, dass historisch verwurzelte Ungleichheit ohne Gewalt reduziert werden kann.

Brasilien dient hier als Kontrastfolie zur derzeit stark zunehmenden sozialen Ungleichheit in Deutschland. Der Fall zeigt, dass eine wachsende soziale Ungleichheit die Gefahr einer Gesellschaft mit Bürgern erster und zweiter Klasse birgt, welche vor dem Gesetz nicht gleich sind. Eine weit gefasste Definition von Demokratie (und analog dazu von sozialer Ungleichheit) einschließlich politisch-formeller und sozialer Rechte verdeutlicht, dass eine zunehmende soziale Ungleichheit die Demokratie schwächt. Wie schnell dies geht ist nicht absehbar, aber es bleibt die Tatsache, dass Deutschland, was soziale Gleichheit betrifft, in den letzten zehn Jahren kein Vorbild war. Der medienpolitische, aber auch der gesellschaftliche Diskurs hierzulande begegnen dem Thema unsensibel und nehmen die über das Ökonomische hinausführenden Auswirkungen nur marginal in den Blick. Wenn die soziale Ungleichheit in Deutschland weiterhin so stark zunimmt wie in der letzten Dekade, ist es auf längere Sicht absehbar, dass es irgendwann auch hier Menschen erster und zweiter Klasse gibt, dass nicht alle Deutschen faktisch vor dem Gesetz gleich sind, dass demokratische Normen und Werte wie etwa Gleichberechtigung und Menschenrechte nicht anerkannt und nicht gelebt werden.

Es gibt Wege, dies auch ohne radikalen Umsturz zu unterbinden. Anzustreben ist eine Umsteuerung der Finanz- und Wirtschaftspolitik, was aber wohl nur durch massiven Druck von unten durchzusetzen sein wird. Die derzeitige politische und gesellschaftliche Atmosphäre scheint jedoch erstaunlich unsensibilisiert. Woher kommt das? Und ─ warum jetzt? Dies sind wichtige und komplexe Fragen. Man möchte geradezu eine Reise nach Rio empfehlen. Angst vor einem Messer im Bauch haben möchte keiner, egal von welcher Herkunft wir sind oder welcher Partei wir uns zugehörig fühlen. Heute nicht und auch nicht in dreißig Jahren. Und dass Länder mit einer geringen sozialen Ungleichheit die langfristig besten Entwicklungschancen haben, pfeifen die Makroökonomen von den Dächern.


Die Autorin bedankt sich bei den Teilnehmern/innen der Tagung »Was ist soziale Ungleichheit« der Hans-Böckler-Stiftung im Mai 2011 in Berlin, Peter Brandt und Götz Osteroth für hilfreiche Kommentare.

Literatur

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