von Heinz Theisen
Überdehnt – aufgelöst – ungeschützt. Europa in der neuen Weltunordnung
Die prekäre Lage der Europäischen Union resultiert aus der Ungeklärtheit ihrer Grenzen nach Osten, Westen und Süden. Nach Osten sind sie bis in die Ukraine und den Kaukasus hinein überdehnt, nach Westen sind sie aufgrund der einseitigen Abhängigkeit von den USA nahezu aufgelöst, nach Süden sind sie vor Islamismus und Völkerwanderung ungeschützt.
Eine neue außenpolitische Strategie muss auf diese Grenzfragen eine zusammenhängende Antwort geben. Anders kann weder der Krieg in der Ukraine in einen neuen Frieden münden noch können die Bedrohungen aus dem Nahen Osten und Afrika beherrscht werden. Von kontrollfähigen Grenzen nach Süden hängen auch – bis in Bildung, Infrastruktur und innere Sicherheit – die Selbstbehauptungsfähigkeit Deutschlands und der Europäischen Union ab. Die EU wird gegenüber den USA erst wieder ein handlungsfähiger Akteur sein, wenn sie sich selber schützen kann.
Die Staaten der EU sind alleine weder dem globalen Wettbewerb noch Konflikten mit den drei Weltmächten und der islamischen Welt gewachsen. Die EU braucht starke Nationalstaaten und die Nationalstaaten brauchen eine starke Europäische Union, um sich gegenseitig behaupten zu können.
Die Entgrenzung des Westens und Europas
Das Unheil des Ukraine-Krieges resultiert auch aus der mangelnden Einsicht in die Grenzen zwischen dem noch westlichen und dem schon russisch geprägten Teil Osteuropas. Die westliche Überdehnung in die russische Macht- und Einflusssphäre erwuchs aus den Annäherungen der NATO und der Europäischen Union an die vorher bewusst neutral gebliebene Ukraine. Sie wurde unter Missachtung geopolitischer Vorsicht nach Westen gezogen und damit zerrissen.
Die NATO rief die Ukraine 2008 zum zukünftigen Mitglied aus, ohne ihr den Beistandsschutz eines Mitgliedsstaates zu gewähren. Darüber geriet die Ukraine in eine Falle. Selbst im Krieg wurde sie mit den vom Westen genährten Phantasien vom Endsieg und eines ›gerechten Friedens‹ um die Chancen auf einen Waffenstillstand gebracht.
Kulturelle Unterschiede zwischen West- und Osteuropa ergeben sich aus der immerhin tausendjährigen Trennung des orthodoxen Christentums vom säkularen Westchristentum. Die theologischen Unterschiede sind inzwischen irrelevant, aber das unterschiedliche Verhältnis von Staat und Kirche prägt die Gesellschaften bis heute. Auch in der exzessiven Korruption in den orthodoxen Gesellschaften kommt die mangelnde Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft zum Ausdruck.
Die Grenzen zwischen West- und Ostchristentum verlaufen mitten durch die Ukraine und hätten entweder die Neutralität oder die Teilung des Landes erfordert. Ironischerweise verläuft die derzeitige Frontlinie etwa entlang der kulturellen Scheidelinie. Das Verhältnis Westeuropas zu Russland ist auf unabsehbare Zeit beschädigt. Statt eine NATO-Russland-Sicherheitspartnerschaft zu pflegen, gehören beide Seiten heute zu unterschiedlichen Lagern.
Die grenzenlose Erweiterungspraxis der EU nach Osten – angedacht sind nebst der schon lange geplanten Aufnahme von sechs Balkanstaaten derzeit Ukraine, Moldawien und Georgien – droht die Institutionen der EU bis zur Zahlungs- und Handlungsfähigkeit zu überdehnen und zu zerreißen. Auch danach wäre immer noch kein Ende in Sicht, weil es keine Klärung über die Grenzen Europas nach Osten gibt. (Vgl. Heinz Theisen, Die Grenzen Europas. Die Europäische Union zwischen Erweiterung und Überdehnung, Opladen 2006. Vgl. vor allem S. 174ff. ›Die Grenzen des westlichen Europas vor den russischen Ländern.‹
Aufgrund ihrer mangelnden Wehrfähigkeit haben sich die Europäer in Abhängigkeit von den USA begeben und mussten ihnen auf weltpolitischem Wege folgen. Die gemeinsame Ideologie von der Universalität westlicher Werte verstrickte sie in die Konflikte des Orients und Nordafrikas.
Indem die EU den USA auch in die Ukraine hinein folgte, verlor sie den Energie- und Wirtschaftspartner Russland. Die Sprengung der North-Stream Pipeline besiegelt die Beförderung vom Partner zum Vasallen der USA. Die USA pflegen ihre Interessen auch gegenüber Verbündeten robust durchsetzen. Die Europäer sind gegenüber den USA kaum in der Lage, ihre spezifischen eigenen Interessen zur Geltung zu bringen. (Siehe: Klaus von Dohnanyi, Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, München 2022, 4. Aufl., S. 87ff.)
Die Rolle des Weltpolizisten ist selbst in den USA heftig umstritten. Nach den nächsten Wahlen könnte es zu einem Paradigmenwandel, zum Rückzug auf die eigene Hemisphäre kommen. Sofern Trump seine Ankündigung wahr macht, die USA aus der NATO herauszunehmen, stünde Europa allein zu Hause. Dieser Zwang zur Eigenständigkeit könnte auch als Chance verstanden werden.
Die nach Europa zuwandernde islamische Kultur stellt nicht nur für die europäische Kulturen sowohl des Christentums als auch des Relativismus eine Herausforderung dar, sondern auch für die Strukturen der Zivilisation – vom Bildungssystem bis zum Wohnungsbau. In Deutschland werden rund 50 Milliarden Euro jährlich für die Integration ausgegeben, gleichzeitig fehlen 430 000 Kitaplätze.
Die profanierten Eliten des Westens hegen mehrheitlich einen ausgeprägten Kulturrelativismus. Ihre Identität finden sie in der Globalität. Grenzen sind demnach als ›offene Grenzen‹ zu denken. Religion spielt in diesem relativistisch-globalistischen Denken keine Rolle. Darüber wurden sie nahezu blind gegenüber der nun als größte Gefahr erkennbaren islamistischen Herausforderung. 70 Prozent der Asylbewerber in Deutschland sind Muslime.
Gemäß den Regenbogenfantasien ist dies kein Problem. Der Islam – und damit auch die Scharia – gehören ihnen zufolge zu Deutschland. Wenn von den 50 Millionen Muslimen, die heute in Europa leben, nur jeder zehnte ein Islamist ist, haben wir uns damit ein massives Sicherheitsproblem ins Haus geholt. Im Nahen Osten und großen Teilen Afrikas will der politische Islam seine Grenzen weiter nach Norden verschieben.
Zudem müssten kontrollfähige Grenzen nach Süden auch eine Unterscheidung nach wünschenswerter Einwanderung und ungeregelter Zuwanderung ermöglichen. (Vgl. Gerald Knaus, Welche Grenzen brauchen wir? München 2020)
Verlust der Geopolitik: die Ukraine zwischen Ost und West
Der in der Ukraine ausgetragene Großmächtekonflikt zwischen Russland und den USA wäre nur über geopolitische Kategorien beherrschbar geblieben. Aus ihnen hätte sich die Neutralität der Ukraine aus Rücksicht auf die russische Macht- und Einflusssphäre ergeben. Aus ihnen würde auch deutlich, dass Russland als eine der drei Weltmächte (diejenigen, die die Welt vernichten können), eine eigene Interessensphäre zugestanden werden sollte. [1]
Die Ukraine hat nach 2014 eine Neuausrichtung zum Westen vollzogen, die durch massive Unterstützung des Westens herbeigeführt worden war. Die Ukraine wurde nach Westen gezogen und damit im Ergebnis zerrissen. Als Begründung lässt sich dafür leicht die Kategorie der nationalen Souveränität heranziehen. Aber in Fragen der Weltordnung sollten geopolitische Kategorie ausreichende, den Frieden erhaltende Aufmerksamkeit finden.
Bei der Überdehnung des Westens nach Osten vermischte sich die hegemonial-unipolare Weltpolitik der USA mit dem europäischen Moraluniversalismus und dem ukrainischen Nationalismus. Im Ergebnis haben wir heute eine geteilte Ukraine und ein von den russischen Energieressourcen abgekoppeltes Europa. Diese wirtschaftliche Schwächung Europas mag dem wirtschaftlichen Wettbewerber USA womöglich als Erfolg gelten.
Auf der weltpolitischen Bühne sind die USA jedoch auch Verlierer. Die Rolle des Welthegemons ist endgültig dahin. Die neue Staatengruppe BRICS dient dem Ziele, sich von den USA unabhängiger zu machen. Selbst befreundete Staaten wie Brasilien und Indien verweigerten dem Westen hinsichtlich der Russland-Sanktionen Solidarität. Die Mehrheit in den meisten Ländern des globalen Südens möchte in einer ›Welt à la carte‹ leben. Obwohl viele die demokratischen Werte des Westens befürworten, möchten sie aus Elementen der verschiedenen Systeme auswählen können. Sie wollen sich ihre Außen- und Handelspolitik nicht mehr nach dem Gegensatz von autoritären und demokratischen Ländern vorschreiben lassen.
Die der europäischen Industrie abverlangte moralische Durchleuchtung von Lieferketten schwächt deren Wettbewerbsfähigkeit. Dieser moralische Overkill könnte zu einer De-Globalisierung überleiten, in der nach dem Verlust Russlands auch noch China als Handelspartner verloren zu gehen droht. Der Klima-Moralismus isoliert Europa wiederum, weil andere Mächte nicht bereit sind, ihren Wohlstand allzu globalen Prognosen zu opfern. Geopolitisch droht sich der Westen aufgrund seines ideellen Universalismus zu isolieren.
Dem Scheitern des Westens nach außen entspricht der Mangel an Selbstbehauptung im Innern. Das Drama der Migration über die offenen Grenzen Europas erweitert sich über den Zustrom von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und findet sich – in gemilderter Form – an den Grenzen der USA nach Süden. Die USA haben schon mehr als 75 Milliarden Dollar an humanitärer, finanzieller und militärischer Unterstützung für die Ukraine bereitgestellt.
Es ist ungewiss, ob die derzeit von der amerikanischen Regierung beantragte Zustimmung zu weiteren 61,4 Milliarden Dollar erfolgen wird. Der Tenor der Ablehnung lautet: ›Wie kann es sein, dass wir die Grenzsicherung anderer Länder mit Milliarden finanzieren, aber unsere eigene Grenze völlig ungesichert lassen?‹
Die Ost-Ukraine ist für die Selbstbehauptung Europas nicht wirklich wichtig, wohl aber der Kampf zwischen Israel und dem Islamismus, der darüber mitentscheidet, ob der Islamismus nach Europa vorrückt. Die vergleichsweise marginalen Unterschiede zwischen den korrupten Oligarchien der Ukraine und Russlands werden vom Westen für wichtiger erachtet als der Kulturkampf im Nahen Osten. Der politische Konflikt zwischen nationaler Souveränität der Ukraine und imperialen Ansprüchen der Russen gilt demnach als bedeutsamer als der geokulturelle Kampf mit dem Islamismus, der Autoritarismus als gefährdender als der religiös motivierte Totalitarismus.
Israel als Metapher für den Hass auf den Westen
Aus Sicht der arabischen Führer – so Robert von Loewenstern – darf es mit Israel nur ein bisschen Frieden geben. Und immer ein bisschen Krieg. Würde das ›Palästina-Problem‹ gelöst, egal ob durch Auslöschung der Juden oder Einigung mit den Juden, entstünde für arabische Autokraten und Feudalherrscher ein viel größeres Problem. Fällt Israel als Endgegner weg, ist es mit dem Sündenbock-Feature vorbei. (Robert von Loewenstern, Ein Herz für Mörder, in: Achgut.com v. 23.11.2023)
Zudem richtet sich aber der im Islam zumindest immer potentiell angelegte Islamismus schon seit 1300 Jahren gegen alle ›Ungläubigen‹. In seiner Hemisphäre verstößt deren Herrschaft gegen die Vorgaben der koranischen Lehre. Lange vor der Gründung des Staates Israel gab es immer wieder offene Judenfeindschaft in der islamischen Welt, bis hin zu Pogromen.
Die Verfolgungen gegen und das Dahinschwinden der Christenheit in der islamischen Welt wird wenig beachtet. (Vgl. dagegen Bat Ye`or, Der Niedergang des orientalischen Christentums unter dem Islam, Gräfelfing 2002) Die einst noch als ›Schutzbefohlene‹ zur Ausbeutung Freigegebenen können heute nur noch in Reservaten überleben. Seltsam ist auch das Missverhältnis zwischen der berechtigten Klage über die Vertreibung der Palästinenser im Zuge des israelisch-arabischen Krieges 1948 und der zeitgleichen Vertreibung der Juden aus der arabischen Welt nach Israel. (Stefan Grigat, Arabische Juden. Eine vergessene Fluchtgeschichte, in: Die Tageszeitung v. 30.11.20023)
Dieses Missverhältnis ist nur damit zu erklären, dass der Islam nicht nur weitaus mehr Gläubige, sondern auch mehr Freunde in Europa hat als das Judentum. Zu seinen Freunden gehören jene kulturrelativistisch-globalistischen Kreise, die den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nur als Streit um Land ansehen und das tieferliegende religiöse Problem nicht wahrnehmen. Den Kurden wird in gleich vier islamischen Ländern ein eigener Staat verwehrt. Aber an diesem Unrecht sind keine Juden beteiligt.
Das oberste Ideal bleibt auch für die Linke nach dem Untergang des materialistischen Marxismus die Gleichheit. Der Übergang zu Identitäten und Kategorien begründete den so genannten Kulturmarxismus. Statt um Klassen und Produktionsverhältnisse geht es um Geschlechter und ethnische Minderheiten. Sie gelten als Opfer. Muslime haben die Rolle als Subjekt der Geschichte vom Proletariat übernommen.
Die dennoch gegebene empirische Ungleichheit wird durch die Dominanz des Stärkeren, der Juden oder des Westens erklärt. Hier entfaltet die postkoloniale Theorie ihre ganze destruktive Wirkung. Der Stärkere ist auch der Böse und die positive Entwicklung Israels gegenüber den umliegenden Staaten beweist dann einmal mehr dessen Bosheit.
Die westliche Humanitarismus richtet seine Gebote fast immer einseitig an Israel und verlangt oft dessen Verzicht auf robuste Selbstbehauptung. Während man von der Ukraine geradezu fordert, statt zu verhandeln sich gegen die Atommacht Russland zu wehren, verlangt man von Israel, sich nicht zu wehren, sondern zu verhandeln.
Gleichheitsideale schließen eine realistische Herabstufung anderer Kulturen als ›unterentwickelt‹ aus. Im Gegenteil muss deren Armut aus der Dominanz der Tüchtigeren, des Westens oder im Nahen Osten der Israelis erklärt werden. Es kommt zu einem umgedrehten Rassismus, der sich gegen die eigene Rasse richtet. Die klassischen Rassisten bekämpfen fremde Ethnien, Völker und Kulturen. Die westlichen Autorassisten bekämpfen die eigene Ethnie, das eigene Volk, die eigene Kultur. (Johannes Eisleben, Denksperren im Nahen Osten, in: Globkult.de vom 4.11.2023)
Israeli gelten als ›Weiße‹ oder ›weiß-angepasste‹, die Palästinenser sind demnach ›People of colour‹. Demnach ist es für die ›Unterdrückten‹ unmöglich, selbst rassistisch zu sein, genauso wie es im Umkehrschluss für einen ›Unterdrücker‹ unmöglich ist, Gegenstand von Rassismus zu werden. Juden können nicht unter Rassismus leiden, weil sie ›weiß‹ und privilegiert sind. Umgekehrt können die Palästinenser wenig falsch machen, weil sie Unterdrückte sind.
Die Palästinenser sind demnach Opfer des westlichen Kolonialismus. Postkolonialisten zufolge sind Israeli ›Kolonialisten‹, obwohl die meisten Israeli von Menschen abstammen, die zwischen 1881 und 1949 in das Heilige Land eingewandert sind. Auch sie waren nicht neu in der Region. Das jüdische Volk hat tausend Jahre lang judäische Königreiche regiert und im Jerusalemer Tempel gebetet und war in den folgenden zweitausend Jahren in geringerer Zahl auch dort präsent. (Simon Sebag Montefiori, Das Narrativ der Dekolonialisierung ist gefährlich und falsch – es beschreibt weder die Gründung Israels noch die Tragödie der Palästinenser richtig, in: Neue Zürcher Zeitung v. 11.11.2023)
Zu dem religiös-kulturellen Hass kommt der Hass auf die israelische Zivilisation hinzu. Dieser ist genährt vom Neid auf die zionistischen Pioniere, die im Gegensatz zu den Arabern die Wüste zum Blühen gebracht hatten und in einem winzigen Land, umgeben von Feinden, wirtschaftlich erfolgreich sind.
Islamismus als Totalitarismus des 21. Jahrhunderts
Der Psychotherapeut Burkhard Hofmann folgert aus seiner Arbeit mit Muslimen am Golf und in Deutschland, dass in diesen Milieus der Fundamentalismus die prägende Kraft über alle gesellschaftlichen Verhältnisse gewonnen hat. Wenn der Primat der Religion einmal etabliert sei, gebe es kaum einen Weg zurück in die gemäßigte Interpretation. Muslime haben keinen Glauben, sie sind der Glaube. Das Leben gilt ihnen als Vorbereitung auf den eigentlichen Moment und Sinn: dem Schöpfer zu begegnen. (Ich folge hier Burkhard Hofmann, Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele, München 2018)
Ein Moslem muss sich seinen Platz im Himmelreich nicht durch Leistung und Arbeit verdienen. Da alle Menschen nach islamischem Glauben als Moslems zur Welt gekommen sind, gelten Andersgläubige als Abtrünnige.
Die Rationalitätsfeindlichkeit drückt sich auch darin aus, dass eine Reflektion des eigenen Erbes, analytisches Denken und Forscherdrang nicht gegeben sind. Während die Aufklärung den Europäer neugierig und tolerant gemacht hat, interessieren sich die meisten Muslime nicht einmal dann für andere Kulturen, wenn sie in ihnen leben. Im Gegenteil wollen sie ab einer bestimmte Größe den Einheimischen ihre Gesetze aufzwingen.
Der Kampf der Kulturen hat sich durch die Ausbreitung des politischen Islam – von Ayatollahs, Taliban, Islamischer Staat, Boko Haram oder in milderer Version der Muslimbruderschaft – globalisiert und intensiviert. Auch autoritäre arabische Staaten stehen vor der Aufgabe, ihre errungenen zivilisatorischen Fortschritte gegen die totalitäre Einheit von Religion und Politik zu verteidigen.
Die anbrandenden islamistischen Gefährdungen zwingen die Europäer, sich einer Realität zu stellen, der Israel seit Jahrzehnten ausgesetzt ist. (Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht, Frankfurt 2015) Israels Kampf um seine Existenz verlängert sich durch die offenen Grenzen Europas gegenüber muslimischen und daher potentiell islamistischen Zuwanderern zu einem Kampf um die Selbstbehauptung der freiheitlichen Demokratie gegenüber dem religiösen Totalitarismus.
Nach den totalitären politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts rückt im 21. Jahrhundert der religiöse Totalitarismus des politischen Islam in den Vordergrund. Im Gegensatz zu den autoritären Regimen in Moskau und Peking ist der Islamismus mit einem unbedingtem Wahrheits- und Herrschaftsanspruch ausgestattet. Er rechtfertigt die Gewalt seiner Anhänger, die sich – schon als kleine Messerstecher – als geheiligte Krieger verstehen.
Für eine neue Strategie ist die Unterscheidung von autoritären und totalitären Mächten grundlegend. Während erstere auf ihre eigene Stabilisierung ausgerichtet sind, wollen totalitäre Bewegungen nicht nur die gesamte Wirklichkeit erklären, sondern beanspruchen gemäß ihrem Absolutheitsanspruch letztlich auch die Herrschaft, sei es über andere Rassen, den Klassenfeind oder Ungläubige. Gegenüber den autoritären, aber säkularen Regimen auch im Nahen Osten wäre Koexistenz möglich, aber nicht gegenüber der totalitären Dynamik.
Religiöser Totalitarismus droht, wenn es keine weltliche Autorität gibt, die diesen im Interesse seiner eigenen Machtentfaltung klein hält. Sowohl die Beseitigung der autoritären Regime Saddam Huseins oder Gaddafis, die Schwächung Assads, das Fallenlassen des Schah oder Mubaraks, aber auch die Demokratisierung Afghanistans haben dem Westen mehr geschadet als genutzt.
Der totalitäre Iran als Hauptfeind Israels und des Westens
Während die arabische Welt auf dem Weg war, Israel als Zivilisationspartner zu akzeptieren, hat der aus dem Iran genährte Islamismus Israel den Kulturkrieg erklärt. Selbst wenn es Israel gelingen sollte, die Hamas für längere Zeit zu besiegen, wäre dies angesichts von Hisbollah, dem Islamischen Staat und den Ajatollahs im Iran keine Lösung. Der Kulturkampf von Islamisten wird gegen alle Andersgläubigen, ob gegenüber dem Judentum oder zuvor gegenüber dem Christentum oder auch laizistischen Regimen in der islamischen Welt ausgetragen.
Der neuzeitliche Islamismus, Konvulsionen dieser Art hatte es auch in früheren Zeiten gegeben, hat 1979 in der Revolution des Ayatollah Chomeini gegen die Monarchie von Schah Reza Pahlewi seinen Ausgang genommen. Auch damals kämpfte die politische Linke des Iran gemeinsam mit den Ayatollahs, um nach deren Machtergreifung von diesen ermordet zu werden.
Neben der Hamas und anderen Formen der Muslimbruderschaft wird Israel vor allem von der Hisbollah im Libanon unmittelbar bedroht, über deren Kampfbereitschaft der Iran entscheidet. Die nach iranischem Vorbild geformte Hisbollah hat dem einst pietistischen Leidenskult der Schiiten in einen revolutionären Furor verwandelt. Für sie spielt der eigene Tod im Kampf um Gut und Böse sogar eine anfeuernde Rolle. Wer der Beerdigung von Hisbollah-Mitgliedern beiwohnt, wird Zeuge eines finsteren Schauspiels: Hunderte singen voller Trauer, während gleichzeitig die Angehörigen der Märtyrer jubelnd auf den Schultern getragen werden.
Heute verfügt der Iran über weitgehend von ihm abhängige und ihm gefügige Milizen in der Region, die Israel leicht in einen Mehrfrontenkrieg verwickeln können. Nicht nur Israel, auch die Golfstaaten fühlen sich durch Irans Drang zur Hegemonie bedroht.
Zu Recht: Auch wenn sich Teheran aus Furcht vor amerikanischen Gegenschlägen derzeit zurückhält, zeigt nicht nur die Hamas – finanziert, bewaffnet und trainiert vom Iran – eine neue Qualität in Bezug auf militärische Fähigkeiten und Waffensysteme. Mit der Hisbollah im Libanon, mit Milizen in Syrien und dem Irak sowie im Jemen (Huthi) verfügt der Iran über eine Reihe von willigen Vollstreckern, mit denen das Land sowohl Israel wie auch amerikanische Militäranlagen in der Region angreifen kann.
Eine Hoffnung liegt darin, dass gerade dort, wo der moderne Islamismus seinen Ausgangspunkt nahm, im Iran der Ajatollahs, der Wunsch vor allem junger Menschen nach einem zivilisierten Regime offenkundig ist. Wo der Islamismus seinen Ausgang nahm, ist er am verhasstesten und dort könnte er auch, keiner weiß, wie und wann, nach den Gesetzen der Dialektik sein Ende finden.
Die immer neuen Aufstände von Iranern gegen ihre totalitäre Mullahkratie könnten im Erfolgsfall den Islamismus schwächen. Ein Sieg über totalitäre Herrschaft erfordert aber einen gewaltigen Blutzoll oder aber ein ähnliches Wunder wie den friedlichen Zusammenbruch des Sowjetsystems.
Die wirtschaftliche Situation im Iran ist desaströs, aber dennoch investiert das System in den religiösen Totalitarismus. Die Weltanschauung erweist sich auch hier als wichtiger, als die Interessen des Volkes. Die Ayatollahs sind Anti-Nationalisten, sie verachten die weltlichen Interessen und damit ihr Volk, ähnlich steht es um die von ihnen finanzierte Hamas. Die Schäden von Gesundheit und Leben eines jeden Palästinensers, ob in Gaza oder an einem beliebig anderen Platz auf der Welt, sind im Zweifelsfall nur Kollateralschäden im Kampf der Hamas für die ›palästinensische Sache‹, die darin besteht, Israel zu vernichten sowie einen Beitrag zu leisten, den Islam und die Scharia auf der ganzen Welt durchzusetzen.
Auch für die palästinensischen Nationalisten gilt: Der Kampf gegen einen übermächtigen Gegner ist das Gegenteil eines aufgeklärten Nationalismus, der die Interessen des Volkes über die einer Elite an staatlichen Pfründen stellt.
Es ist unwahrscheinlich, dass diese Verachtung aller weltlichen Interessen – mit Ausnahme der eigenen – durchzuhalten ist. Sie widerspricht zu sehr der menschlichen Natur. Der religiös genährte Hass gegenüber Israel kann nur über einen Sturz des totalitären Ayatollah-Regimes enden. Dann erst wäre der Weg des Iran frei für die Rückkehr in eine Zivilisation, die es im Iran vor dem Regime der Ayatollahs gegeben hat.
Selbst-Zivilisierung im Nahen Osten?
Die zivilisatorischen Annäherungen an die arabische Welt zuvor zeigen dagegen den allein möglichen Ausweg: Die von Religionen gespeisten Werteordnungen der Kulturen könnten auf den Ebenen technisch-ökonomischer Projekte zusammenfinden. Indem sich immer mehr arabische Staaten dem Abraham-Abkommen einer zivilisierten Zusammenarbeit mit Israel näherten, gaben sie zu, dass Meerwasserentsalzung, Begrünung von Wüsten, Handel und Tourismus wichtiger seien als heilige Kriege.
In der deutschen Geistestradition gibt es die begriffliche Unterscheidung zwischen den ideellen Motiven einer Kultur und den eher materiellen Kräften der Zivilisation. Auf der muslimischen Seite werden deren Spannungsverhältnisse durch die Vorherrschaft der Religion unterdrückt.
Aber das ausgeprägte Interesse an den Ergebnissen der westlichen Zivilisation auch in der muslimischen Kultur baut eine Brücke zwischen den Kulturen. Diese wird durch den von Teheran angefeuerten Islamismus angefochten. Hier scheiden sich die Wege. Eine Entscheidung ist gefordert, ob wir die wirtschaftlich-technische Entwicklung oder die völkisch-islamistische unterstützen wollen.
Eine Zivilisation beruht vor allem auf der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die jeweils ihrer Eigenlogik folgen und dadurch erst Leistungsfähigkeit erringen. Die gewaltenteilige Demokratie wäre eine weitere Zivilisationsstufe. Die erste Stufe erreichen auch autoritär regierte Staaten. Sie sind das kleinere Übel gegenüber dem Totalitarismus. Sofern sich autoritäre Staaten zur Trennung von Religion und Politik bereitfinden, sind sie potentielle Bündnispartner. Feind ist hingegen der ›Totalreligiöse‹, der die Ungläubigen verachtet und erobern will.
Die islamische Welt ist über den Islamismus bezüglich Demokratie, Bildung und wirtschaftlicher Lage im Hintertreffen. Dadurch ist ein Teufelskreis entstanden, denn in diesen Kränkungen der Nachrangigkeit erweisen sich islamistische Erzählungen als attraktive Motive für die Verlierer der Modernisierungsprozesse und gewinnen daher nicht zufällig parallel zu den globalen Modernisierungsprozessen an Bedeutung. [2]
Mit den geografischen und völkischen Zuordnungen endet alles in den endlosen Verstrickungen der Argumente über Land und historische Ansprüche, in deren Rahmen es keine Lösung gibt. Hier droht nichts als jene Kausalkettendiskurse, wonach Israel dies getan und jenes nicht getan und die Palästinenser umgekehrt, ein endlos geflochtenes Band der Ausweglosigkeit.
Die säkulare Logik einer Trennung von Religion und Politik ermöglicht die Leistungsfähigkeit einer modernen Gesellschaft und hat dementsprechend, da sie von den meisten Israeli geteilt wurde, zu Fortschritten in der Bewirtschaftung der bis dahin verwüsteten Landschaften, zum Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft und eines leistungsfähigen Bildungs- und medizinischen Systems in Israel geführt.
Diese zivilisatorischen Erfolge hatten immer mehr arabische Staaten veranlasst, kooperative wirtschaftliche Beziehungen mit Israel einzugehen. Dieser Kooperation entgegen steht der vom Iran genährte kulturalistisch-religiös genährte Kampf des militanten Islamismus.
Immerhin gelang es Israel von den Friedensverträgen mit Jordanien und Ägypten bis hin zum Abraham-Abkommen immer mehr arabische Staaten von den Vorzügen ziviler Kooperation zu überzeugen. Das arabische Interesse an Kooperation mit Israel lässt sich heute am leichtesten durch ökonomische Vorteile und durch Erfolge bei der Bekämpfung der Desertifikation legitimieren.
Das Abraham-Abkommen sollte den Kampf der kulturellen Werteordnungen in einen Kampf um die Zivilisation transformieren. Im Nahen Osten und in Europa handelt es sich um nicht weniger als um einen Kampf der verschiedenen Weltkulturen, um die Minima einer gemeinsamen Zivilisation. Das Doppelspiel der Kataris, die zugleich enger Verbündeter der USA und der Hamas sind, lässt sich die Zerrissenheit zwischen religiös-kulturellen und zivilisatorischen Antrieben erklären.
Im Kampf zwischen Israel und dem religiösen Totalitarismus des Nahen Ostens geht es nicht um Moral, sondern um das Überleben und die Existenz Israels. (Heinz Theisen, Es geht ums Überleben, in: Neue Zürcher Zeitung v. 12.11.2023) Die Hamas hat den Anspruch auf die Kategorien Moral und Völkerrecht zweimal verwirkt. Nach dem Abzug der Israeli hat sie die Möglichkeit zum zivilen Aufbau des Gazastreifens ausgeschlagen und stattdessen die Hilfsgelder in Raketenkriege mit Israel investiert.
Auch die Palästinenser lassen sich entlang ihrer Teilhabewünsche an den Erfolgen der Zivilisation differenzieren. Das Westjordanland ist gespalten nach denjenigen, die mit Israel Geschäfte machen und denjenigen, die den Endsieg anstreben. Die annähernd zwei Millionen Palästinenser in Israel sind angesichts der Vorteile des zivilen Lebens in Israel weitgehend loyal. Nach der Beseitigung der Hamas müssten die Bewohner des Gaza-Streifens durch Teilhabe und Hilfestellungen zum Frieden verlockt werden, etwa durch neuen Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt.
Der Umbau zu einem konsequenteren Fördern und Fordern wird erst aus der Abwendung vom identitären Kulturalismus zur Förderung zivilisierter Entwicklungen – von der Berufsausbildung an – erfolgen. Diese Einsichten wären für die Integrationspolitik in Europa fruchtbar zu machen, indem die Bereitschaft zur funktionalen Teilnahme die Voraussetzung zur Teilhabe an deren Ergebnissen wird.
Das Interesse aller Konfliktbeteiligung an ihrer Selbsterhaltung ist naturgemäß größer als das an Wahrheit. Projekte zur Zivilisierung sollen diese Selbsterhaltungstriebe stärken, indem in ihnen die kulturellen Wahrheitsfragen ausgeklammert bleiben.
Gemeinsame Sicherheit von Israel, Europa und der moderaten arabischen Welt
Der Ruf nach einem ›gerechten Frieden‹ ist fast eine Garantie für Unfrieden, da gerade die unterschiedlichen Werteordnungen der Kulturen ganz Unterschiedliches unter Gerechtigkeit verstehen. Friede entsteht – pathetisch gesprochen – durch Vergebung, realpolitisch durch Anerkennung der Realität, demzufolge Schwächere sich dem Stärkeren klugerweise anzupassen haben.
Hätte sich die Ukraine mit den geopolitischen Realitäten abgefunden und wäre sie in der Neutralität verblieben, wäre es nicht zum Krieg gekommen. Würden sich die Palästinenser mit der Überlegenheit Israels arrangieren, könnten sie davon so profitieren wie es die zwei Millionen arabischen Israeli tun. In beiden Fällen fehlt es an Realismus.
Israel ist eine Vorhut des Westens im Kampf gegen den Islamismus. Damit sind die Grenzen Israels auch die Grenzen Europas. Ihre Überwindung am 7. Oktober ist ein düsteres Menetekel. Israels Zukunft wird unmittelbar in einem besseren Grenzschutz liegen – und selbiges gilt mittelbar für Europa.
Im Rahmen einer gemeinsamen Strategie müssten Israeli und Europäer möglichst viele Verbündete auch unter den autoritär regierten arabischen Staaten suchen. Der Kampf gegen den ›Islamischen Staat‹ in Syrien konnte nur gewonnen werden, weil Russland Assad, einem großen, aber im Vergleich zum Islamischen Staat dennoch kleineren Übel, zu Hilfe kam. Ohne die Kooperation des Westens, Russlands und Chinas dürfte es keine Stabilisierung des Nahen Osten geben.
Bloß autoritäre Regime verweigern lediglich die innere Ausdifferenzierung der Politik, aber wirtschaftlichen und zivilen Freiheiten lassen sie ihren Lauf. Während autoritäre Regime mit uns Geschäfte machen wollen, will der islamistische Totalitarismus uns besiegen. Im Lichte dieser Unterscheidung ist der Kampf gegen das autoritäre Russland ebenso falsch wie die Toleranz gegenüber dem religiösen Totalitarismus.
Es ist möglich, die Grenzen zu sichern, wie Australien, Kanada oder auch Ungarn beweisen. Jenes von Emanuel Macron propagierte ›Europa, das schützt‹, würde dem Staatenbündnis neuen Sinn geben. Europa muss ein positives Verhältnis zu imperialer Stärke in defensiver Absicht finden.
Um wieder Unabhängigkeit von den USA zu erhalten, brauchen die Europäer eine strategische Autonomie. Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament könnten ein dezentraleres Europa der Vielfalt nach innen und der Stärke nach außen hervorbringen. Gegenüber den durchweg autoritär regierten arabischen Staaten ist keine Moral- und Wertegemeinschaft und auch keine feministische Außenpolitik möglich, aber eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft und politische Koexistenz.
Gegenüber dem totalitären Islamismus ist statt einer Beschwichtigungspolitik Eindämmung erforderlich. Gegenüber dem Iran und anderen islamistischen Staaten sollte eine Doppelstrategie gelten. Auf der Staatsebene geht es um die Eindämmung und auf der zivilgesellschaftlichen Ebene um die Förderung der aufbegehrenden Frauen und Freiheitskämpfer.
Die Europäische Union sollte sich aus geopolitischen Gründen sowohl von Erweiterungen in den russischen Raum als auch aus der islamischen Sphäre zurückhalten und sich auf die Behauptung der eigenen Kultur konzentrieren. (Ausführungen hierzu in Heinz Theisen, Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen, Reinbek 2022) Mit dem Desaster des Westens in Afghanistan wurde klar, dass Demokratie dauerhaft auf jene Mächte und Menschen beschränkt bleibt, welche die kulturellen Voraussetzungen dafür mitbringen.
Russland bedroht die Souveränität der Ukraine, aber nicht die freiheitliche Demokratie und Kultur Europas. Insofern ist der Kampf um die territoriale Integrität der Ukraine der falsche Krieg. Ein Waffenstillstand entlang der eingefrorenen Fronten in der Ukraine ist unvermeidlich und könnte zum Wiederaufbau des Landes überleiten.
Die Bedrohung aller Weltmächte durch den Totalitarismus überschreitet die Systemunterschiede zwischen den USA, China und Russland und bietet insofern die Chance, dass diese ihre internen Konflikte zurücknehmen und sich in einer multipolaren Welt gemeinsam dem Kampf gegen die Barbarei widmen.
Eine Nato, die Europas Selbstbehauptung ermöglicht
Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft in und neben der NATO könnte dazu beitragen, dass sich die Nato wieder zu einem Defensivbündnis wie im Kalten Krieg zurückentwickelt. Nach dem Ende des Kalten Krieges wollte die NATO bis hin zu gleichzeitigen Partnerschaften wie mit Aserbaidschan und Armenien zum Global Player mutieren. Sie wird von einem Ausweitungsbündnis der westlichen Welt zu einem defensiven Verteidigungsbündnis schrumpfen müssen.
Die Unterscheidung nach Demokratie und Diktatur ist im Nahen Osten kaum brauchbar und steht hier dem Aufbau einer friedlichen Weltordnung der Koexistenz entgegen. Da die Mehrzahl der Regime zumal im Nahen Osten autoritär sind, führt eine ›werteorientierte Außenpolitik‹ der Universalisierung westlicher Werte in den Kulturkampf.
Auf den Schutz der NATO können die Europäer erst in dem Maße verzichten, wie sie über eine eigene Grenz- und Sicherheitspolitik verfügen. Die Ukraine wird gegenüber diesem weltweiten Kampf des Islamismus gegen die Zivilisation zu einem Nebenkriegsschauplatz. Die Ost-Ukraine hat im Vergleich zum Nahen Osten keine große strategische Bedeutung.
Insofern ist langfristig nicht ein Ost-West, sondern der Nord-Süd-Konflikt entscheidend, in dem Russland und Europa denselben Feind haben. Putin ist geprägt vom Tschetschenienkrieg, er weiß um die Gefahr des islamistischen Terrors. Was 9/11 für die USA, war Beslan für Russland.
Die NATO sollte sich im Rahmen einer Strategie von einem die US-Weltpolitik flankierenden Bündnis zu einem Grenzsicherungsbündnis entwickeln. Waffensysteme, die Raketen in fremde Länder tragen sollen, können wir uns sparen. Unter der Überschrift der Selbstbehauptung ist die Grenzsicherung im Süden wichtiger als 22 globale Partnerschaften, gleichzeitig auch zu Armenien und Aserbaidschan. Armenien hatte sich von Russland abgewandt und seinen Schutz im Westen gesehen. Auch hier hätte ein Blick auf die Landkarte geholfen. Geografie ist Schicksal.
Im Kalten Krieg waren die Grenzen des Westens bis auf den Meter geklärt, was trotz aller ideologischer Feindschaft den Frieden erhalten half. Nach erfolgreicher Abgrenzung und Eindämmung kann der Westen von seiner angemaßten Universalität zu einer Koexistenz der Kulturen und Mächte übergehen. Eine Koexistenz der Politik könnte dann zur Konnektivität bei Wissenschaft, Technik und Wirtschaft überleiten.
Wie sich die NATO im Kalten Krieg mit den kleineren Übeln autoritärer Mächte – wie der damals laizistischen Türkei – gegen das totalitäre Sowjetsystem, so könnte sich die NATO heute mit autoritären Mächten wie Russland und China gegen das größtmögliche Übel des Islamismus verbünden.
Geopolitische Konsequenzen: Koexistenz der Großmächte in der multipolaren Welt
Hätte der Westen nach 1991 eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland aufgebaut, wäre ein gewaltiger nördlicher Machtblock entstanden, der sowohl den chinesischen wie den islamischen Einfluss hätte eindämmen können. Stattdessen setzte der Westen auf die Marginalisierung, manche sogar auf den Zerfall Russlands.
Im Nahen Osten lernen wir, dass das Fehlen jeder Ordnung schlimmer ist als selbst eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im Eurasischen Raum hervorrufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern. Schon heute betreiben Mittelmächte wie die Türkei und Aserbaidschan revisionistische Politik. Weder die auf die Ukraine fixierten westlichen Mächte noch Russland können ihnen Grenzen setzen.
Für eine Neuordnung nach dem Krieg bieten sich noch immer die Vorschläge an, die Henry Kissinger 2014 unterbreitet hatte. Kissinger erinnert an die im Gefolge des Wiener Kongresses 1815 entworfene Machtbalance in Europa. (Henry Kissinger, Weltordnung, München 2014, S. 422ff.) In Bezug auf die Ukraine sprach er von ›Finnlandisierung‹, ein Begriff, der zu Unrecht oft negativ konnotiert wird. Sie hat Finnland den Frieden und der Sowjetunion die Gesichtswahrung ermöglicht. Der kulturellen Integration Finnlands in den Westen hat sie nicht geschadet. (»So würde Henry Kissinger den Ukraine-Konflikt beenden«, in: Die Welt v. 9.3.2014)
Ein Friedensabkommen, in dem Russland die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine akzeptiert und die Ukraine die rechtliche Souveränität über den Donbass oder die Krim abtritt, ist schwer vorstellbar. Denkbar ist aber ein dauerhafter, sich selbst verstärkender Waffenstillstand. Nord- und Südkorea haben seit 1954 nie einen Friedensvertrag unterzeichnet. Formal gesehen befinden sie sich im Kriegszustand, aber die koreanische Halbinsel ist seither friedlich. Ebenso haben die Türkei und Griechenland nie ein eigentliches Friedensabkommen für Zypern geschlossen.
Selbst nach dem Kriegsausbruch gab es noch die Möglichkeit, die West-Ukraine militärisch für neutral zu erklären, den Donbass – wie auch im Minsker Abkommen vorgesehen – mit umfangreichen Autonomierechten auszustatten und die Krim ohne völkerrechtliche Anerkennung faktisch Russland zu überlassen. Eine differenzierte Form der Neutralität hätte der Ukraine den Weg in die EU, aber nicht in die Nato eröffnen können.
Deutschlands und Europas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt sich in erheblichem Maße der Einfügung in die sich selbst behauptenden, aber auch selbstbegrenzenden Strukturen des Kalten Krieges. Die Welt hat den Kalten Krieg nur überlebt, weil sich die Mächte zu jener Zeit bis auf den Meter an ihre Einflusssphären hielten und sich selbst dann nicht eingemischt haben, als in Ostberlin, Ungarn und Prag die Panzer rollten. Hätten sie sich eingemischt, hätte es spätere Entwicklungen hin zur Freiheit nicht gegeben. Europa muss sich begrenzen lernen.
Geokulturelle Konsequenzen: Gemeinsame Sicherheit von Israel und Europa
Mit dem 7. Oktober sind die Dämme der Zivilisation gebrochen und selbst das an sich wehrhafte Israel wurde zum Opfer von Illusionen. Der religiös motivierte Hass der Hamas wurde unterschätzt.
In dem jahrhundertelangen Ringen zwischen Islam und dem damals christlichen Europa droht das Judentum immer wieder in eine machtlose Zwischenrolle zu geraten. Auch die heutige Rolle Israels ist tragisch. Es kann eigentlich nichts richtig machen. Angesichts der erdrückenden demografischen Übermacht ist Israel auf eine oft unverhältnismäßig erscheinende Abschreckung verwiesen.
Israels Kampf um seine Existenz verlängert sich im umgekehrten Universalismus der offenen Grenzen gegenüber muslimischen und daher potentiell islamistischen Zuwanderern zu einem Kampf um die Selbstbehauptung der freiheitlichen Demokratie gegenüber dem religiösen Totalitarismus.
Aber auch die Lage Europas ist tragisch. Je mehr Hamas-Brigaden von Israel unschädlich gemacht werden, desto mehr steigt das Risiko von Anschlägen in Europa. Diese sind leichter auszuführen und entfalten eine hohe Propagandawirkung. Gegenüber Terror und Extremismus haben die humanitären Werte Europas einen schweren Stand. Sie hindern die Europäer auch an den vom Gesetz gebotenen Deportationen illegaler Migranten.
Die Entwicklungshilfe an die Palästinenser ist ebenfalls tragisch. 2022 war Deutschland mit 202,05 Millionen Dollar nach den USA der zweitgrößte Geber des Hilfswerkes der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten. Diese Mittel tragen in jedem Fall zu einer Kostenentlastung der Hamas bei. (Vgl. Deutschland zahlt Palästinensern wieder Entwicklungshilfe, in: Jüdische Allgemeine v. 1.12.2023) Bis in die Vergabepraxis von Hilfsgeldern – die EU und Deutschland zahlen die meisten Hilfsgelder an die Palästinenser überhaupt – könnten wir im Kampf für die Zivilisation Einfluss nehmen.
Die deutsche Zuwanderungspolitik gefährdet jüdisches Leben in der Bundesrepublik. Über 70 Prozent aller Erstanträge auf Asyl sind in den vergangenen Jahren von Menschen mit muslimischem Hintergrund gestellt worden. Der Anteil von Personen mit antisemitischen Einstellungen ist in dieser Bevölkerungsgruppe am höchsten. Infolge der jüngsten Eskalation des Nahostkonflikts haben judenfeindliche Äußerungen und Handlungen ein Ausmaß angenommen, wie dies nach 1945 nicht mehr zu beobachten war.
Die militärischen Interventionen des Westens in die islamische Welt hinein, haben sich von Afghanistan bis Mali als Desaster erwiesen. Statt ihrer müssen umgekehrt die Kräfte darauf auszurichten sein, die physischen Grenzen nach außen und die gesetzgeberischen Grenzen in Europas gegenüber Islamisten zu sichern.
Israel und Europa sind durch die gemeinsame Demokratie, mehr noch, durch eine erfolgreiche säkulare Zivilisation verbunden. Israel ist gewissermaßen der Frontstaat im Ringen zwischen der säkularen Welt und dem neuen Totalitarismus. Sollte Israel überrannt werden, so wird Europa, wie nach dem Fall Konstantinopels, das nächste Ziel islamischer Eroberung sein. Die Sicherheit Israels ist im unmittelbarem europäischen Interesse. Die deutsche und israelische Staatsräson fallen im Kampf gegen den Islamismus zusammen.
Zunächst den Kulturkampf im Innern bestehen
Huntington ging in den neunziger Jahren noch von einem Clash aus, was zu dieser Zeit stimmig war. Heute droht weniger ein Clash als die freiwillige Selbstauflösung unserer Kultur und die Übernahme mangels Selbstbehauptungswillen. Alle anderen Kulturen lehnen die Relativierung des Eigenen entrüstet ab. Russland betreibt eine aggressive Arrondierung seiner Hemisphäre und China versucht, die wirtschaftliche Globalisierung mit strikter Abgrenzung zu verbinden. Der Islam will die Umma vorantreiben.
Während der alte Westen noch in der Lage war, sich zu definieren und damit auch zu begrenzen und zu behaupten, ist der LBGT-Westen in seinem Kulturrelativismus kaum mehr in der Lage, sich selbst als Kultur wahrzunehmen. Anders als Israel scheint Europa kaum mehr Willens zu sein, einen Kampf der Kulturen zu führen.
Linksradikale und Islamisten verbindet der Hass auf die westliche Kultur, welche die einen auflösen und die anderen erobern, ausnutzen und zerstören wollen. Solange Europa noch eine christliche Leitkultur hatte, konnte es den Islam zweimal vor Wien zurückgeschlagen. Der moralisierende Homo Deus ist dazu nicht mehr in der Lage. In dem einschlägigen Buch von Harari kommt der Kulturkampf seiner Heimat nicht einmal vor, obwohl er ihn aus seinem Fenster an der Jerusalemer Hebrew-Universität vor Augen hat. (Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von morgen, München 2017, 6 Aufl.) Exemplarisch zeigt sich hier das Erkenntnisdilemma der Globalisten und Transhumanisten. Wer zu weit in die Zukunft schaut, verliert den Blick für die Gegenwart.
Die Juden verkörpern für Links- und Rechtsextremisten alle abgelehnten und verunsichernden Elemente der Moderne, Materialismus, Wettbewerb, Wurzellosigkeit, Mobilität. (Klaus Holz, Thomas Haury, Antisemitismus gegen Israel, Hamburg 2021) Der 7. Oktober hat das politische Denken Europas verändert. Der Wahlsieg von Wilders in den Niederlanden ist eine unmittelbare Folge. Die Illusionen von einem interkulturellen Regenbogen und der Globalität sind zerronnen.
Mit Links-rechts-Kategorien bekommen wir weder den Nahen Osten noch die Moderne mehr auf den Begriff gebracht. Die neokonservative Rechte hatte mit ihren Interventionen die ganze Region destabilisiert, nicht zuletzt aus der religions- und kulturfremden Annahme, demokratische Strukturen seien ohne ihre kulturelle Voraussetzungen übertragbar.
Eine ›feministische Außenpolitik‹ wirkt nur noch tragikomisch. Die LBTQ-Bewegten würden die Machtergreifung von Islamisten nicht lange überleben. Unseren postkolonialen Eliten fällt es schwer, die Bedeutung der Religion zu denken, weil es ihr nicht nur an Religion, sondern auch an Bildung über Religion fehlt. In einer Art Hyperliberalismus ist die Toleranz beinahe noch der einzige Wert unserer offenen Gesellschaft. Gegenüber der erklärten Intoleranz des Totalitarismus zerstört sie sich selbst.
Die politische Linke ist angesichts der ihr fremden religiösen Motive argumentativ hilflos. Jüdische Flüchtlinge vor Pogromen gelten ihr als ›kolonialistische Siedler‹ und ihre Rückkehr in das für sie Heilige Land als ›westlicher Imperialismus‹. Die Quadratur des Kreises, sowohl gegen Antisemitismus als auch für die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen zu sein, will ihr nicht gelingen.
Unter ›Rechts‹ kann heute die Selbstbehauptung des Eigenen, von der Familie über den Nationalstaat bis zur europäischen Kultur verstanden werden. Für moderne Rechte ist Israel daher ein Hort der Stabilität und Entwicklung, der Zivilisation gegen die das Land und damit auch Europa umbrandende Barbarei. Da die propagierte Ideologie der ›Weltoffenheit‹ nach außen und innen gescheitert ist, werden die politischen Kräfte an Bedeutung gewinnen, die Abgrenzung für eine Voraussetzung von Selbstbehauptung halten. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Grenzen Europas neu zu ziehen und zu schützen.
Der Weg vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation wird ein weiter sein. Israels unmittelbare Zukunft wird in einem kontrollfähigeren Grenzschutz liegen – und selbiges gilt schon mittelfristig auch für Europa. Im Kampf gegen den Islamismus stünde in Deutschland die ›Wehrhafte Demokratie‹ des Grundgesetzes gegenüber Gewaltverherrlichung bereit. (Ahmed Mansour, Operation Allah. Wie der politische Islam unsere Demokratie unterwandern will, Frankfurt /M 2022) Aber noch drängender sind die physischen Grenzen nach außen, die von ideologischen Glücksrittern geschliffen worden sind. Im Kalten Krieg der Ideologien werden die inkompatiblen Weltanschauungen durch fast unüberwindbare Grenzen getrennt werden.
Die Mauern und Zäune zwischen Israel und den Palästinensern haben erst das Fortbestehen Israels ermöglicht. Ohne neue Grenzziehungen wird auch Europas keine Zukunft haben. Hinter den Grenzen Europas könnten sich dann die Europäer noch zur Genüge der humanitären Hilfe widmen.
Anmerkungen:
[1] Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München, Wien 1997, 4.Aufkage, S. 268. Huntington betont die geopolitischen Aspekte der russisch-ukrainischen Beziehungen, die für Osteuropa seien, was die deutsch-französischen Beziehungen für Westeuropa sind. „Und so wie diese den Kern der Europäischen Union bildet, ist jene der unabdingbare Kern für den Zusammenhalt der orthodoxen Welt.“ Anders hingegen Serhii Plokhy, Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine, Hamburg 2022. Plokhii betont vor allem die gewachsene Unabhängigkeit und den Drang der Ukraine nach Westen.
[2] Auch neuere Erhebungen zeigen, wie über den Islamismus die muslimische Welt bezüglich Demokratie, Bildung und wirtschaftliche Lage ins Hintertreffen geraten ist. Vgl. Ruud Koopmans, Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020.