von Heinz Theisen
Wir befinden uns – so formulierte es Peter Scholl-Latour im Jahre 2009 – in der absurden Lage, dass die letzten Staatswesen der ›weißen Menschheit‹, die notfalls noch in der Lage wären, ein mächtiges Militärpotential gegen die geballte Wucht Asiens aufbieten zu können, einen »stupiden Bruderkrieg« untereinander austragen, unter Vernachlässigung ihrer existentiellen geostrategischen Interessen. (Peter Scholl-Latour, Russland im Zangengriff, Putins Imperium zwischen NATO, China und Islam, Berlin 2009, S.399) Die Zwischenrolle der Ukraine zwischen West und Ost hätte durch dritte Wege eines Föderalismus nach innen und der Neutralität nach außen überwunden und sogar ins Positive eines Brückenbaus gelenkt werden können.
Der amerikanische Hegemonismus
Der Westen – bald alleine zu Hause?
Der Ukraine-Krieg als Übergang zu einer multipolaren Welt
BRICS als Bündnis der Schwellenländer gegen westliche Hegemonie
Gegenseitigkeit und Gleichgewicht
Die multivektorielle Politik Ungarns
Die Selbstbehauptung Europas in der multipolaren Weltordnung
Koexistenz und Dezentralität
Aus der moralischen und völkerrechtlichen Perspektive liegen Schuld und Täterschaft des Ukraine-Krieges allein bei Russland. Damit wird allerdings die gesamte Vorgeschichte der Nato-Osterweiterung bis an die Tore Russlands ausgeblendet. In der Logik dieser Moral liegen maximale Waffenhilfen für die Ukraine und maximale Sanktionen gegenüber Russland.
Aus der geopolitischen Perspektive sieht die Beurteilung des Krieges anders aus. Felix Dirsch verweist darauf dass der alte Engpass von Mensch, erdgebundenem Körper und Macht dafür sorgt, dass der Napoleon zugeschriebene Ausspruch ›Geographie ist Schicksal‹ jenseits der Errungenschaften moderne Techniken stets von neuem aktuell ist. (Felix Dirsch, Geographie ist Schicksal, in: Junge Freiheit vom 11.8.2023) Aus dieser Perspektive hat demnach der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg Russlands provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Krieges auf sich geladen. (Vgl. Thomas Röper, Die Ukraine Krise. 2014 bis zur Eskalation. Wie der neue Kalte Krieg begann, Gelnshausen 2022, 3. Aufl.)
Russland empfindet sich, und dabei handelt es sich zumindest um eine psychologische Tatsache, durch seine Mittellage zwischen China und dem Westen als eingedämmt und eingekreist. Seine aggressive Vorwärtsverteidigung in Georgien und der Ukraine verstärkt wiederum die historisch begründeten Ängste der Balten und Polen und hat die Eindämmungspolitik des Westens weiter verstärkt, insbesondere durch den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands.
Es soll keineswegs bestritten werden, dass es sich in Russland um einen oligarchischen Staat handelt mit teils verbrecherischen Zügen. (Vgl. Gerd Koenen, Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland, München 2023, 2.Aufl.) Nur dürfte dies für einen erheblichen Teil der Regime auf der Welt gelten, mit dem wir dennoch zumindest in Koexistenz leben und auch oft kooperieren müssen.
Nur 37 Staaten haben sich der westlichen Sanktionspolitik angeschlossen. Selbst die als westlich orientiert geltenden Mächte Indien und Brasilien beteiligen sich nicht an den Sanktionen. Im Gegenteil signalisiert der Zustrom zu dem bisherigen Staatenbündnis BRICS (Brasilien, Russland, China, Indien, Südafrika) eine Abkehr vom Westen, die das Ende der westlichen Welthegemonie und die Heraufkunft einer multipolaren Welt anzeigt. Es ist ungewiss, ob es gelingt, sie in eine multipolare Weltordnung zu überführen.
Der amerikanische Hegemonismus
Mit 750 Militärstützpunkten in 80 Ländern, außerhalb der USA und Großbritannien mit immerhin noch 145 Stützpunkten, ist der Westen global aufgestellt, Russland verfügt über 36 und China über fünf Stützpunkte. Diese ›Pax Americana‹ wird jedoch von immer mehr Staaten abgelehnt.
Schon das über Jahrzehnte hinweg eng verbündete Saudi-Arabien zeigt, dass es den USA in ihrer Bündnispolitik nicht nur um Freiheit, sondern primär um strategische Interessen geht. Die USA haben weltweit durch Interventionskriege und Regimewechsel serienweise gegen das Völkerrecht verstoßen.
Der Research Service des amerikanischen Kongresses listet zwischen 1991 und 2022 mehr als 250 militärische Eingriffe der US-Streitkräfte weltweit auf. Die Militäreinsätze der USA haben seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 mindestens 38 Millionen Menschen in und aus Afghanistan, Irak, Pakistan, Jemen, Somalia, den Philippinen, Libyen und Syrien vertrieben. (Stefan Luft, Die Grünen und der Krieg, in: Sandra Kostner, Stefan Luft (Hrsg), Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Frankfurt 2023, S.277f.) Gleichwohl sehen Atlantiker in Deutschland die USA ausschließlich in der Perspektive der Eindämmung gegen die Sowjetunion, in der in der Tat Macht-, Markt- und politische Interessen sowie kulturelle Werte zusammenfielen.
Anders als die beiden anderen Großmächte Russland und China verbinden sie ihre Macht- und Handelsinteressen mit einem ideellen Universalismus, der westliche Werte wie Individualität, Freiheit und Demokratie als Exportgüter betrachtet und damit Interventionen legitimiert.
Die Schwerpunkte zwischen den Kategorien wechseln mit jeder Regierung, was Verwirrung und Ermüdung unter Freund und Feind sät. Mit den sogenannten Neokonservativen unter George W. Bush gewann die ›Wolfowitz-Doktrin‹ an Bedeutung, wonach keine andere Macht so stark werden dürfe, dass sie der amerikanischen Hegemonie gefährlich werden könne.
Aus diesem Hegemoniestreben ist auch die aggressive Strategie gegenüber Russland zu erklären. Seit jeher wollen amerikanische Strategen vor allem ein Zusammenwachsen zwischen Westeuropa und Russland zu einem eurasischen Block verhindern, der die Vorherrschaft der USA bedrohen könnte. In diesem Kontext steht die Politik der USA seit 2002, die Ukraine aus ihrem bis dahin neutralen Status herauszureißen und dem eigenen Hegemonie-Imperium anzuschließen.
Die sogenannte Herzlandtheorie des Geographen Herald J. Mackinder wurde von Zbigniew Brzezinski und George Friedman in den letzten Jahrzehnten erneuert. Sie formuliert ein zentrales Ziel: einen Keil zwischen Russland und Deutschland zu treiben. Die Sprengung der Nord-Stream Pipeline 2022 kann als Abschluss dieses Projektes gewertet werden.
Überraschenderweise erhebt die deutsche Regierung dagegen keine Einwände. Insbesondere die früher einmal anti-imperialistische Linke und ihr ›Frieden schaffen ohne Waffen‹ steht heute fest an der Seite der USA. Die geforderte Universalität der Menschenrechte dient als moralisches Bindeglied zwischen US-Hegemonismus und links-grünem Idealismus. In diesem ideologisierten Globalismus fallen humanitäre und wirtschaftliche Interessen zusammen.
Der Westen – bald alleine zu Hause?
Gemäß der universellen Werte des Westens gelten Einflusssphären als völkerrechtswidrig, vorgestrig und unmoralisch – allein, weder Russland noch China teilen diese Werte. Wie auch die islamische Welt sehen sie im Universalismus des Westens den Anspruch, die ganze Welt als westliche Einflusssphäre zu betrachten.
Die Hoffnung auf ein globales Gemeinwohl – die nur im Westen existiert – lässt sich leicht durch den Verweis auf die sogenannte ›Tragödie der Allmende‹ widerlegen. Die freien Güter werden diesem historischen Narrativ zufolge schon deshalb übernutzt, weil es sonst andere täten und die Konkurrenznachteile ruinös würden.
Bei der Gleichheit der Staaten und der Gültigkeit von Recht und Verträgen handelt es sich um regulative Ideen, die mit den realen Machtverhältnissen abgeglichen werden müssen. Schon im innerwestlichen Verhältnis – etwa zwischen den USA und Deutschland – entsprechen sie nicht der Realität. Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge können von niemand sanktioniert werden, auch nicht vom Sicherheitsrat der UN, in dem die Großmächte jede Verurteilung ihrer selbst blockieren.
Paradoxerweise isoliert sein Universalismus und Globalismus den Westen immer mehr. Seine woken Werte stoßen ab und seine Interventionen haben vor allem Zerstörung hinterlassen. Statt einer weltweiten ›Allianz der Demokratien‹, die die Biden-Regierung auf den Weg bringen wollte, scheinen sich die meisten Länder der nichtwestlichen und selbst der halb westlichen Welt eher als für den alten Systemkonflikt und auch als für den moralisch-militärischen Konflikt gegenüber Russlands für ihre Energie- und Handelsinteressen zu engagieren.
Für andere Staaten scheint es aus ihrer Nähe zu Russland und China geboten, sich den USA näher anzuschließen. Nicht umsonst drängen so unterschiedliche Staaten wie Finnland und Schweden, die Ukraine und Georgien, Vietnam und die Philippinen an die Seite der USA. Es ist verständlich, dass kleine Mächte in Nachbarschaft zu Großmächten Schutzgarantien von andern großen Mächten wollen. Washington sollte dabei im Sinne einer multipolaren Weltordnung Zurückhaltung walten lassen und sicherlich nicht – wie in der Ukraine und Georgien – auch noch Anwerbung und Nachhilfe auf dem Weg nach Westen erteilen. Gemäß der regelbasierten Weltordnung hat die Ukraine das Recht auf souveräne Bündniszugehörigkeit, gemäß der Geopolitik in einer multipolaren Welt hätte sie sich neutral verhalten müssen.
Auf deutscher Seite werden in einem Akt der Unterwerfung selbst die Terroranschläge des Verbündeten auf die deutsch-russische Pipeline übergangen. Zugleich werden die russischen Ängste vor der Nato, dem mit Abstand größten militärischen Bündnis der Welt, als irreal abgetan. »Es ist offenbar, dass die Nato angesichts ihrer militärischen Sklerose, der Uneinigkeit nach innen sowie Störungen im transatlantischen Verhältnis weit davon entfernt ist, eine Bedrohung für Russland darzustellen.«(Thomas Beck, Ukraine. Von der Orangenen Revolution über die Annexion der Krim bis zum russischen Angriffskrieg. Jahrbuch für öffentliche Sicherheit, Frankfurt 2022, S.42 )
Die amerikanischen Beweggründe für eine imperiale Hegemonie werden auf den Kampf für die Freiheit reduziert, was doch allenfalls die halbe Wahrheit sein dürfte. Auch – so Thomas Beck – wenn sich Menschenrechte nicht universal durchsetzen ließen, so ändere dies nichts an der grundsätzlichen Richtigkeit dieser Werte, bzw. der Notwendigkeit, diese mit friedlichen Mitteln auszubreiten. (ebd. S. 96 )
Mit der Verabsolutierung von Freiheit und Menschenrechten übersehen die Atlantiker, dass andere Kulturen andere Menschenbilder und ein anderes Freiheitsverständnis hegen. Diese idealistische Argumentation erklärt die Verabsolutierung etwa eines ›Selbstbestimmungsrechts der Völker‹. Damit werden, zumal in multiethnischen Gebieten wie eben der Ukraine, differenzierte Dritte Wege wie Autonomie der Regionen und Neutralität übersehen. Finnland konnte seine militärische Neutralität im Kalten Krieg mit politischer Freiheit verbinden.
Der westliche Universalismus steht einer multipolaren Ordnung im Wege. Für die Diplomaten der multilateralen Welt ist die multipolare Welt ein Schreckgespenst. Sie würde – so Rüdiger von Fritsch – volle Souveränität nur wenigen mächtigen ›Polen‹ zugestehen, die ihre Interessen mit ihresgleichen abgleichen. Damit wäre der zentrale Grundsatz der Gleichheit aller Staaten aufgegeben. Das Gewaltverbot des Völkerrechts gelte nicht mehr. Die großen Staaten würden kleineren Ländern die Regeln diktieren. Auch der Westen würde zurück in eine Zeit fallen, in der Macht das Recht bestimmt und nicht mehr das Recht die Macht einhegt. (Michael Koch, Volker Stanzel, Putin hat sich ins weltpolitische Abseits begeben, Neue Zürcher Zeitung v. 12.6.23. Auf der Seite der Spitzendiplomaten verteidigt Rüdiger von Fritsch die multilaterale deutsche Außenpolitik, vgl. ders., Welt im Umbruch. Was kommt nach dem Krieg?, Leipzig 2023, 2.Aufl.)
Fritschs Plädoyer für die alte multilaterale Ordnung, in der jeder mit jedem im Sinne des globalen Gemeinwohls auf Augenhöhe verhandelt, entsprach nie der Realität. Gleichheit ist auch zwischen Staaten ein hohes Ideal, aber – wie auch innerhalb der Gesellschaft – ein irreales Ziel.
Die globale Vorherrschaft des Westens ist in Überdehnung umgeschlagen. Spätestens nach dem desaströsen Abzug aus Afghanistan ist die Dominanz der USA im Nahen Osten dahin. Das amerikanische Engagement im Ukraine-Krieg kann als Versuch gedeutet werden, die Hegemonie zumindest über Europa und Eurasien zu festigen. Es ist den USA gelungen, die europäischen Verbündeten unter dem Banner ›Freiheit für die Ukraine‹ wieder fester in die Nato einzubinden und deren Waffenhilfe für die Ukraine und Sanktionen durchzusetzen.
Auch im transatlantischen Rahmen sind die USA der einzige Gewinner des Krieges. Im globalen Kontext handelt es sich jedoch um ein Eigentor auch der USA. Die Ukraine würde als neues Nato- und EU-Mitglied eher eine Belastung als eine Stärkung sein. Russland wurde in die Arme Chinas getrieben und viele Staaten des globalen Südens wenden sich ab.
Wie globalistische Überdehnungen enden, lehrt das Schicksal der Sowjetunion. Sie fühlte sich ebenfalls globalen Visionen verpflichtet und führte damit die Selbstausbeutung Russlands herbei, was die Bereitschaft der russischen Eliten erklärt, sich statt dem Internationalismus des Sowjetimperiums lieber eigenen Interessen zuzuwenden.
Im Ersten Weltkrieg haben die USA zum Ruin der europäischen Welthegemonie beigetragen und ihre Weltmachtrolle eingeleitet. Nach einhundert Jahren werden die Grenzen dieser Herrschaft schon in der innenpolitischen Zerrissenheit der USA deutlich. Der Konflikt zwischen Globalisten, die aus Handelsinteressen an der Beibehaltung der hegemonialen Stellung interessiert sind und Protektionisten, die deren enorme Kosten lieber für die Bekämpfung von sozialen Probleme einsetzen würden, durchzieht die USA, aber in anderen Formen alle westlichen Gesellschaften.
Auch der ideelle Kern des amerikanischen Imperiums bröckelt. Der westliche Universalismus wird umso weniger geachtet als seine christlich-aufklärerischen und liberal-bürgerlichen Wertewurzeln in woke Werte übergegangen sind. Diese verfangen auch bei den Eliten anderer Kulturen nicht mehr.
Die woke Bewegung hat sich wiederum mit ihren Extremen des Moralismus und des Globalismus in ein Dilemma manövriert. Sie wollen mit Mächten, die ihren Regenbogenidealen nicht folgen und deren Lieferketten nicht ihren Reinheitsidealen entsprechen, die Kontakte reduzieren. Moralismus und Globalismus scheinen in der Deglobalisierung in Zukunft getrennte Wege zu gehen. Darüber könnten sich aber auch die Wege der USA und Europas trennen, denn letztere sind auf eine Handelskooperation mit China angewiesen.
Der Ukraine-Krieg als Übergang zur multipolaren Welt
Die von der EU und den USA verhängten Sanktionen werden von den meisten Staaten des globalen Südens nicht mitgetragen. Ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika: Viele Staaten, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine verurteilt haben, weigern sich, die Sanktionen umzusetzen. Dazu gehören Mexiko, die Staaten am Persischen Golf oder die Türkei. Die Sanktionen haben eine globale Verknappungskrise hervorgerufen, die sich aus der zentralen Rolle Russlands als Rohstofflieferant erklärt.
Die Gegensanktionen der russischen Regierung haben besonders die Staaten der EU geschädigt. Das spiegelt die Rolle wieder, die Russland als Exporteur von Rohstoffen und fossilen Brennstoffe spielt. Wenn die Schockwirkung der Gegensanktionen auf die Wirtschaft der EU spürbar wird, dürften auch politische Fragen nach der Zweckmäßigkeit der Politik gegenüber Russland aufkommen. (Jacques Sapir, Wendet sich der Wirtschaftskrieg gegen Russland gegen seine Initiatoren?, in: Sandra Kostner, Stefan Luft (Hg) Ukrainekrieg, a.a.O, S. 177 ff.)
Unwillentlich scheinen die USA mit dem Ausgreifen auf die Ukraine eine geopolitische Zeitenwende eingeleitet zu haben. Offenkundig unerwartet haben sich auch die meisten Mächte des globalen Südens einer Kriegsbeteiligung enthalten, und sich trotz der Mitgliedschaft Russlands schließen sie sich der BRICS an.
Im Ukraine-Krieg müsste anstelle eines Siegfriedens ein Kompromissfrieden gesucht werden. Die europäischen Staaten sollten den USA deutlich machen, dass sie eine Fortsetzung des Krieges nicht länger unterstützen. Nur die USA könnten das Signal für Verhandlungen senden. Erfolgreiche Verhandlungen setzen aber voraus, dass maximale Positionen wie die Wiederherstellung des Status quo vor dem Einmarsch Russlands aufgegeben werden.
Eine an den geografischen und geoökonomischen Realitäten orientierte Politik würde Russland darüber hinaus in eine globale Ordnung einzubinden versuchen. Entweder wird darin die Neutralität der Ukraine gewährleistet oder das Land wird in einen westlichen und einen zu Russland gehörenden Teil aufgeteilt.
BRICS als Bündnis der Schwellenländer gegen westliche Hegemonie
Die Uno spielt in den derzeitigen Debatten zur Weltordnung nahezu keine Rolle. Auch die G20, die 19 reichsten Industrieländer und die EU, können sich nicht einmal mehr auf eine konkrete Verurteilung des Angriffskrieges einigen. Dies zeigt den Utopismus einer Global Governance. Spätestens mit der Aufnahme der Afrikanischen Union, die 51 Staaten repräsentiert, werden sich west- und östliche , nord- und südliche Interessen nur noch in Sprechblasen zusammenfinden.
Im Herbst 2023 nahmen erstmals Putin und Xi Jinping nicht an den Beratungen der G20 teil. Sie wollen sich künftig auf die BRICS-Staaten konzentrieren. Bisher war die BRICS allerdings vor allem eine Projektion, denn anders als von vielen erhofft, wurde der Klub nie ein kohärenter Block oder ein echter Machtfaktor auf der internationalen Bühne. (Ich folge hier Ulrich Speck, Wie China versucht, die Brics-Staaten zu einem Machtinstrument auszubauen, in: Neue Zürcher Zeitung v. 6.9.2023 )
Statt des alten West-Ost Konfliktes ist die Welt heute von den Beziehungen zwischen Westeuropa und Nordamerika auf der einen Seite und den Schwellenländern mit hohem Wirtschaftswachstum auf der anderen Seite geprägt. Dabei teilt sich die Welt nicht mehr einheitlich in Blöcke. Vielmehr sind gerade in den Schwellenländern die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Unterschiede so groß, dass sie keine einheitliche Gruppe bilden.
Dem Anspruch des Westens gegenüber stehen heute die große Zahl der Schwellenländer, die sich von Osteuropa über Zentralasien, Südasien, Ostasien, Südostasien, Afrika bis nach Lateinamerika erstrecken. Sie sind von einer weitaus größeren Dynamik geeint als sie der Westen erreicht. (Christian Hiller von Gaertringen, Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens, München 2022)
Die in der neuen BRICS vertretene Systemvielfalt, in der sich autoritäre, demokratische und halb-demokratische Staaten sammeln, steht der alten Zweiteilung der Welt nach Demokratie und Diktatur entgegen. Die Abwendung von der westlichen Hegemonie gilt unabhängig davon, ob es sich um autoritäre, halb- oder teil-demokratische Regime handelt.
Vor allem auf Betreiben Pekings wurden auf dem BRICS-Gipfel in Südafrika Ende August Einladungen für sechs neue Mitglieder ausgesprochen: Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien. Diese Erweiterung dürfte den Charakter des bislang exklusiven Klubs von regional führenden Ökonomien grundlegend verändern.
Mit der beschlossenen Erweiterung um sechs Staaten wird knapp die Hälfte der Weltbevölkerung in der Brics (oder wie sich die Gruppe künftig nennen wird) leben. Der Anteil der Mitgliedstaaten am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt erhöht sich auf 37 Prozent und liegt damit höher als jener der G-7-Industrienationen (rund 30 Prozent). Zahlreiche weitere Staaten, darunter selbst die Nato-Mitglieder Türkei und Griechenland bewerben sich um eine Mitgliedschaft in dem neuen Staatenbündnis.
Die primär durch China vorangetriebene Erweiterung der BRICS in die bislang nicht im Staatenverbund vertretene Region Mittlerer Osten dringt in ein Gebiet vor, welches bis dahin als Einflusszone der USA gegolten hatte. Mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem westlichen Erzfeind Iran bindet China als weltgrößter Ölimporteur wichtige Lieferanten ein.
Das Hauptziel der bunten Systemmischung in der BRICS scheint die Unabhängigkeit vom amerikanischen Hegemon zu sein. Der Westen hatte nach dem russischen Angriffskrieg alle russischen Guthaben konfisziert, ein Schicksal, welches sich andere Oligarchen ersparen möchten. Insbesondere bei den Saudis, einst der engste Verbündete der USA, wuchs die Sorge, dass sich die westlichen Werte auch einmal gegen sie wenden könnten. Joe Biden hatte sie zwischenzeitlich zum ›Verbrecherstaat‹ erklärt.
Jenseits der größeren Unabhängigkeit vom Westen lassen sich aber nicht viel gemeinsame Ziele erkennen. Während Russland und China sich immer stärker als Gegenpole zu den USA positionierten, näherte sich Indien in den vergangenen Jahren an die USA an, um einem bedrohlich auftretenden China entgegenzutreten. Südafrika und Brasilien spielen nur gelegentlich mit der antiamerikanischen Option, während sie zugleich wirtschaftlich und politisch eng mit den USA verflochten sind.
Die harte antiamerikanische Linie, die bei Xi immer deutlicher sichtbar wird und für die sich Putin mit dem Krieg gegen die Ukraine entschieden hat, wird von den Neuen mit Ausnahme des Iran nicht geteilt. Saudi-Arabien verhandelt mit den USA über eine umfassende Sicherheitsgarantie. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten haben eine enge sicherheitspolitische Beziehung zu den USA.
Zugleich werden die neuen BRICS-Staaten von inneren Konflikten gespalten. Die Spannungen zwischen China und Indien nehmen zu. Wenn Xi Jinping sich ernsthaft um Entspannung im Grenzkonflikt bemühen wollte, hätte er seine Teilnahme am von Indien ausgerichteten G-20-Gipfel nicht abgesagt.
Die Spannungen zwischen den BRICS-Mitgliedern könnten die Handlungsfähigkeit des Bündnisses verhindern. Es ist eher unwahrscheinlich, dass aus derart diversen Ländern ein handlungsfähiger Block zu schmieden ist. Offenkundig – so Ulrich Speck – geht es Xi nicht darum, einen Klub von Gleichgesinnten und Gleichrangigen zu formen, sondern nur um ein machtpolitisches Gegeninstrument im globalen Machtkampf.
Saudi-Arabien oder Ägypten haben darüber hinaus Interesse an einem von China angeführten antidemokratischen Bündnis, das Autokratie legitimiert und stabilisiert gegen einen vom Westen ausgehenden Demokratisierungsdruck. Alle BRICS-Mitglieder verbindet ein Interesse an der Vertiefung der Beziehung zu China, auch um ihre Verhandlungsposition gegenüber den USA zu verbessern.
Mit Indien als absehbar zweitgrößtem Importeur sind künftig die wichtigsten Player des globalen Ölmarktes in BRICS vertreten – eine Entwicklung, die die angestrebte Ent-Dollarisierung des Weltwährungssystems begünstigen könnte. Die Neuzugänge Saudi-Arabien und VAE werden der BRICS-Entwicklungsbank (NDB) mehr Gegengewicht zur Weltbank verschaffen. Peking hofft außerdem auf eine verstärkte Nutzung seiner Währung, des Renminbi innerhalb der BRICS. Damit soll der Petro-Dollar infrage gestellt werden, der mit der Geldschöpfung aus dem Nichts den materiellen Unterbau der US-Vorherrschaft ausmacht.
Ob die Dominanz des Dollars auf diese Weise gebrochen werden kann und eine neue Währung mit neuem Goldstandard entsteht, ist ungewiss. Der Dollar hat zwar in 50 Jahren knapp 80 Prozent seines Wertes zum Franken verloren, aber trotzdem laufen heute noch etwa neun Zehntel aller Devisenhandelsgeschäfte in aller Welt über ihn. Knapp drei Fünftel aller Währungsreserven lauten auf Dollar, 50 Prozent aller internationalen Kredite, Schuldverschreibungen und Handelsgeschäfte werden in Dollar abgewickelt und gut 40 Prozent des internationalen Zahlungsverkehrs.
Die BRICS signalisiert bisher nur, dass eine alleinige amerikanische Hegemonie nicht mehr akzeptiert wird. Ihre Mitglieder gehören verschiedenen Polen an, bilden aber keinen eigenen Pol in der Ordnung. Die neue Welt wird nicht mehr vom Westen, sie wird aber auch nicht von China beherrscht werden. Wir treten in eine Welt ein, in der viele verschiedene Länder eine Rolle spielen, manche vielleicht als Regionalmacht, manche nur auf bestimmten Gebieten. Die neue Welt wird komplexer und instabiler sein als die alte Ordnung.
Gegenseitigkeit und Gleichgewicht
Es ist zwischen einer symmetrischen und asymmetrischen multipolaren Weltordnung zu unterscheiden. Während der Kalte Krieg eine symmetrische Weltordnung darstellte, befinden wir uns heute in einer asymmetrischen Welt, die hochgradig instabil und konfliktträchtig ist. Ein apolares Chaos steht als Drohung an der Wand. Gleichzeitig ist die Kooperation der Mächte angesichts globaler Gefahren geboten.
Die Großmächte stehen heute auch gemeinsam globalen Gefahren gegenüber: Pandemien, Klimawandel, asymmetrisch kämpfenden Terroristen, Schlepper, Drogen- und Menschenhandel, dem global agierenden Kapital. Ziel der Koexistenz muss daher der Übergang zu einer bereichsspezifischen Kooperation sein.
China sah in der westlichen Handelspolitik eine Gelegenheit, seine Macht zu vergrößern. Es hat auch nie das Ziel einer zumindest strategischen Ebenbürtigkeit aufgegeben. Peking hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht, die Regeln der Welthandelsorganisation einzuhalten. Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation wurde von den USA im Lichte der Idee eines ›Chimerica‹ betrieben, einer angestrebten Symbiose beider Ökonomien. China profitierte von einem solchen Zusammengehen weit stärker als die durchschnittliche amerikanische Familie.
Wenn sowohl die Regierung der USA als auch die deutschen Grünen heute vor allem gegenüber China den freien Welthandel einschränken, prallen Globalismus und Moralismus aufeinander. Die USA und EU gestalten den Zugang zu den eigenen Märkten restriktiver und subventionieren einzelne Industrien mit massiven Summen. Das vom Europäischen Parlament beschlossene Lieferkettengesetz zwingt Unternehmen, die gesamte Lieferkette auf eventuelle Verstöße gegen Sozial- und Umweltstandards zu überprüfen.
Der sich allerorten verstärkende Nationalismus ist nur ein Gegenextrem zum Universalismus und Globalismus. Ein neuer Partikularismus droht in Nullsummenspielen zu enden. Der mittlere Weg läge in Dezentralität und Subsidiarität nach innen und Koexistenz und spezifischer Kooperation nach außen. Der Brexit ist ein Beispiel dafür, wie die notwendigen Mittelwege zwischen Globalismus und Protektionismus verfehlt werden. Nicht der Ausstieg aus der Union, sondern deren Transformation wäre die Aufgabe gewesen. Statt des Schutzes vor europäischer Einwanderung hätte Großbritannien Schutz vor der globalen Zuwanderung gebraucht.
Eine multipolare Weltordnung, in der jeder seinen angemessenen Platz sucht, wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus. In ihr müssten die mächtigsten Player ihre Einflusssphären gegenseitig respektieren und ihre Beziehungen multivektoriell gestalten. Statt der Träumereien vom globalen Regenbogen oder Regressionen zu Nullsummenspielen sollte das Prinzip Gegenseitigkeit Geltung erlangen.
Die drei Großmächte USA, China und Russland sind auch deshalb groß, weil in ihnen jeweils ein dominantes Volk, Angelsachsen, Han-Chinesen oder Russen andere Völker erobert und überwältigt hat. Es sind keine großen Rechtsstaaten, sondern Großmächte. Sie setzen ihre Macht ein, wenn ihnen diese zur Bewahrung oder zur Ausdehnung ihrer Macht angemessen erscheint. Wenn der Friede zwischen ihnen selbst gewahrt bleiben soll, müssen sie trotz aller moralischen Mängel, die mit ihrer Macht verbunden sind, sich gegenseitig in ihrer Legitimität anerkennen.
Eine die Bedeutung der Macht anerkennende Politik, die so genannte ›Realpolitik‹, zielt nicht auf die Überwindung der Macht, sondern auf deren Beherrschung. In der Regel wird dies durch ein Gleichgewicht zu anderen Mächten angestrebt.
Dabei sollte die Eigenlogik der Politik, der Umgang mit Macht, nicht zugunsten rein idealistischer Konstrukte ausgeklammert werden. Die sogenannte ›Realistische Schule‹ der Politikwissenschaft hält am Sinn für unabänderliche Gegebenheiten wie der Natur des Menschen und den sich daraus auch bei Staaten gegebenen Voraussetzungen einer stetigen Ausdehnung der Macht fest. Dies sei schon deshalb nötig, um sich vor der Macht anderer zu schützen. Angesichts des nicht verrechtlichen, sondern im Kern anarchischen internationalen Systems ist Vorsicht und Umsicht geboten.
Zur Realität gehöre auch die geografische Lage eines Landes sowie die Sicherheitsansprüche benachbarter Großmächte. (Der bekannteste Vertreter der Realistischen Schule ist John J. Mearsheimer, der sich entsprechend vehement gegen die Teilhabe des Westens am Ukraine-Krieg wendet. Seine YouTube Videos erreichen bis zu 30 Millionen Zuschauer.) Diese Vorgaben angesichts des Völkerrechts oder der Lockungen anderer Mächte zu übersehen, hat sich für die Ukraine als katastrophaler Fehler erwiesen.
Der Umgang mit Macht etwa im Hinblick auf ein Gleichgewicht der Kräfte ist nicht per se ›zynisch‹, wie von Idealisten gerne behauptet wird. Bei Stabilität, Ordnung und Frieden handelt es sich fraglos um hohe Werte. Sie sind oft genug die Voraussetzung für weitere hohe Werte wie Freiheit und Menschenrechte. So hat das Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg erst die Freiheit der Osteuropäer nach 1991 ermöglicht.
Die multivektorielle Politik Ungarns
Deutschland könnte vielleicht einmal den Keil inmitten des Kontinents durchbrechen und Mitteleuropa mit den zerschnittenen Lebensadern nach Osten zu verbinden versuchen. Die Staaten Mitteleuropa könnten zu einem eurasischen Bindeglied werden. ( Dimitrios Kisoudis, Mitteleuropa und Multipolarität, Schnellroda 2023) Polen sieht sich eher als regionaler Stellvertreter der USA.
Die Hauptrolle als Bindeglied fiele Ungarn zu, welches eine multivektorielle Außenpolitik betreibt. (Heinz Theisen, Die Selbstbehauptung Ungarns als Modell für eine realistische Politik) Darunter versteht man die Kooperation mit allen lokalen Machtzentren. Sie schließt die Zugehörigkeit zu einem der Blöcke nicht aus, behält sich aber wie im Falle Ungarns ihre Entscheidungsfreiheit auch gegenüber einzelnen Entscheidungen dieses Blockes wie der EU und ihre Waffen- und Sanktionspolitik im Ukraine-Krieg vor.
Ungarn verbindet die kulturelle und politische Koexistenz mit wirtschaftlicher Konnektivität zu anderen Mächten. Diese Politik lässt sich nicht in ein Gut und Böse-Schema pressen, auch nicht in dessen Gestalt von Demokratie oder Diktatur. Auf diese Weise ließe sich eine bipolare Ordnung, auf die China und die USA zusteuern, verhindern. Diese würde große Teile der Welt und nicht zuletzt die Europäer zu reinen Objekten marginalisieren.
Die Selbstbehauptung Europas in einer multipolaren Ordnung
Für die deutsche Industrie war Russland über Jahrzehnte ein zuverlässiger Lieferant und der Garant einer erschwinglichen Energieversorgung, die aufgrund unserer energieintensiven Industrie eine Bedingung der deutschen Volkswirtschaft darstellt.
Mit dem Ukrainekrieg wurde nur ein Ziel erreicht: Die Kooperation zwischen Russland, dem eurasischen Raum und Europa ist verhindert und dadurch die angloamerikanische Hegemonie gestärkt worden. Mit der Sprengung der deutsch-russischen Pipeline haben die USA die Rolle Deutschlands klargestellt.
Sofern der Krieg eskaliert, wird es kein Weltkrieg, sondern ein europäischer Krieg sein. Deutschland wäre als zentrale Nachschubbasis sofortigen Raketenangriffen ausgesetzt. Die Nato bildet heute als militärische Organisation keine Garantie für Europas Unversehrtheit mehr. (Klaus von Dohnanyi, Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, München 2022, 4.Aufl.)
Eine Renationalisierung der Verteidigungspolitik wäre in einer sich abzeichnenden multipolaren Weltordnung keine Alternative. Ein kleiner Nationalstaat wäre schutzlos der Erpressung von Machtblöcken wie Russland und China und selbst von mittleren Mächten wie der Türkei ausgeliefert.
Die Nato hat sich nach dem Kalten Krieg von einem Defensivbündnis zu einem Instrument des amerikanischen Universalismus entwickelt und die Europäer in viele Kriegsschauplätze der Welt verstrickt. Die Europäer haben seit Dekaden die Folgen des kulturignoranten US-Hegemonismus zu tragen. Ihren einstmals ausschließlich defensiven Auftrag der Verteidigung der eigenen Hemisphäre hat die Nato hingegen vernachlässigt. Die Deutschen haben ihre eigene Landesverteidigung im Grunde preisgegeben und flüchten sich umso mehr in ukrainische Ersatzhandlungen.
Langfristig – so eine Gruppe um Peter Brandt und Harald Kujat – kann nur eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in der die Ukraine und Russland ihren Platz haben, unsere Sicherheit gewährleisten. Die geostrategische Lage der Ukraine darf keine Schlüsselrolle mehr für die geopolitische Rivalität der Vereinigten Staaten und Russlands spielen. Der Weg dorthin führe über eine Konferenz im KSZE-Format, die an die Fortschritte der ›Charta von Paris‹ anknüpft und diese unter Berücksichtigung der sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen weiterentwickelt. (Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden: Legitime Selbstverteidigung und das Streben nach einem gerechten und dauerhaften Frieden sind kein Widerspruch, von Peter Brandt, Harald Kujat, Hajo Funke und Horst Teltschik, in. Die Weltwoche online vom 2.9.2023 )
Eine Détente ist nicht dasselbe wie Appeasement. Stefan Luft fordert, dass Europa wieder an die Entspannungspolitik zur Beendigung des Kalten Krieges anknüpfe. (Stefan Luft, Deutschland und der Krieg. Lehren für eine künftige Entspannungspolitik, in: ders., Sandra Kostner (Hg), Ukraine… a.a.O. S. 321ff) Die Entspannungspolitik (Anerkennung von Grenzen, Gewaltverzicht, wirtschaftliche Kooperation, menschliche Erleichterungen) und ihr Ziel eines ›Wandels durch Annäherung‹ sei nicht gescheitert.
Sie habe zur Vertrauensbildung beigetragen und Voraussetzungen für die Beendigung des Kalten Krieges gelegt, worüber die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht wurde. Sie hat mit zu verhindern geholfen, dass der Kalte Krieg in einer atomaren Katastrophe mündete und dass sich westliche Werte später auch im Osten durchsetzen konnten.
Die Europäer sollten zunächst versuchen, für eine Nato-Strategie zu kämpfen, die uns nicht in fremde Kulturkreise verstrickt, sondern die uns schützt. Die Nato sollte sich von einem global agierenden Player zu einem westlichen Bündnis zurückentwickeln, welches nur der defensiv verstandenen Selbstbehauptung des Westens dient. Langfristig müsste sich eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft entweder als Pfeiler in einer neuen Nato oder ansonsten alleine darauf konzentrieren, ein Europa der Weltoffenheit in ein ›Europa, das schützt‹ (E. Macron) umzuwandeln.
Koexistenz und Dezentralität
Die globalistischen Einmischungen sind unweigerlich mit zunehmendem Zentralismus, der Abnahme von Demokratie und zugleich mit zunehmenden Konflikten verbunden. Sie vermindern die Verantwortungsbereitschaft der Staaten und Menschen und überdehnen zugleich die Möglichkeiten des weltweit agierenden Westens, der sich darüber nach innen bis zur drohenden Selbstauflösung geschwächt hat.
In einer multipolaren Weltordnung wäre nicht mehr die Universalität des Westens, sondern die Koexistenz der Kulturen und Mächte das vorrangige Paradigma. In den Absprachen müssten – wie im Wiener Kongress oder auch in der Zeit des Kalten Krieges – klare Grenzen und Neutralitätsräume gezogen werden. Realistischerweise müssten die Einflusssphären der anderen Großmächte Russland und China eine ähnliche Berücksichtigung finden wie sie die USA im mittelamerikanischen Raum erwarten.
In einer neuen Weltordnung ginge es im Kern nicht um Nationen, sondern um Dezentralität, die nach den Prinzipien der Subsidiarität und je nach Thema ausgestaltet werden muss. Es ist längst offenkundig, dass in Europa Staaten wie die Schweiz, aber auch Ungarn besser regiert werden als Deutschland, Frankreich und Großbritannien. In Zeiten der Völkerwanderung gehen in zu großen Gesellschaften die kulturelle Identität und damit der Zusammenhalt in atemberaubender Weise verloren. Eine Europäische Union wird dementsprechend nur als ein Europa der Nationen Zukunft haben.
Eine neue Strategie der »Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung« erfordert mehr Selbstbegrenzung gegenüber außen, worüber umgekehrt die eigene Selbstbehauptung nach innen gestärkt wird. (Zu dieser Strategie vgl. Heinz Theisen, Selbstbehauptung. Warum der Westen und Europa sich begrenzen müssen, Reinbek 2022) Die mit der Hegemonialpolitik verbundenen Kosten sind auch in den USA zunehmend umstritten, neuerdings auch in der Demokratischen Partei. Robert F. Kennedy jr. unterscheidet sich außenpolitisch nicht wesentlich von Trump.
Es könnte sich bereits nach den nächsten Wahlen eine Haltung durchsetzen, die sich schon in der Präsidentschaft von Donald Trump ankündigte: Verzicht auf weitere Interventionen und auf Konfrontation mit Russland. Donald Trump hatte selbst die Nato und damit das Bündnis mit Europa infrage gestellt, was die Europäer zwingen würde, endlich für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Die Haltung ›Kehre jeder vor seiner eigenen Tür‹ (America First) könnte zu einer dezentraleren Weltpolitik überleiten.