von Heinz Theisen

Der große Realitätsverlust. Das Märchen von der ›Einen-Menschheit‹

Wie Marxisten einst Freiheit und Gleichheit so wollen die neuen Aufgewachten Diversität und Freiheit auf einer höheren Ebene aufheben - im bunten Regenbogen. In ihm leuchten alle Farben gleichwertig, wobei dunkle Farben und damit Leid und Böses nicht vorkommen. Dementsprechend genießen Grenzen und Gegenwehr keinen Stellenwert.

Statt richtig und falsch gibt es nur noch Gut und Böse. Statt Differenzierung herrscht Moralisierung. Das Böse findet sich nur bei denen, die dieser bunten Welt Skepsis entgegenbringen und an die dunklen Farben und die Notwendigkeit der Selbstbehauptung ihnen gegenüber erinnern.

Sie werden aus dem Diskurs und zunehmend aus Ämtern verjagt. Der längst ideologisierte Moralismus stellt sich keinem Zweifel. Er gilt sowohl absolut als auch global. Sein utopischer Optimismus über die Natur von Welt und Mensch setzt eine heile Welt der Lieferketten voraus, ein allseitiges Win-win, in dem Vorteilsnahmen, Korruption oder Krieg nicht vorkommen.

Rivalen und Gegner sollten in multilateralen Runden zu Partnern transformiert werden. Selbst der chinesische Nationalismus oder der islamische Fundamentalismus sollten durch freien Welthandel oder interkulturelle Dialoge auf höheren globalen Ebenen aufgehoben werden.

Das wichtigste Mittel auf dem Weg zur Fern- und Voraussicht ist ›die Wissenschaft‹ (Follow the Science), die nicht mehr als Prozess, sondern als Abdruck der Wahrheit verstanden wird. Vom Human Genom Projekt bis zur Künstlichen Intelligenz scheint sie uns zu göttergleichem Wissen zu verhelfen.

Wir nähern uns dem »Homo Deus«, wie ihn das einschlägige Propagandawerk von Yuval Harari proklamiert. Hararis Gott ist die Wissenschaft, die er als weltrevolutionierende Macht anpreist. Sie bekämpfe Kriege, Gewalt, Hunger und Krankheiten. Ihr wichtigstes Projekt sei »das ewige Leben für den Menschen«. Seine Botschaft enthält ein Plädoyer für ein globales Imperium, das von kosmopolitischen Eliten geführt wird und weltweiten Frieden garantiert. Der Israeli Harari lehrt in Jerusalem und klammert die mörderischen Konflikte schon vor der eigenen Haustür aus. Es handelt sich um eine Weltflucht ins Weite und Ferne für wieder einmal erlösungsbedürftige Massen. Die Nähe dieser Utopie zu Science Fiction ist das Geheimnis ihres Erfolgs.

In der konsequenten Leugnung der Realität sieht Josef Kraus auch das Erfolgsrezept der Grünen, mit der sie ihre Anhänger um sich scharen. Mit ihren Visionen geht die Missachtung lokaler Probleme einher. Die Ahrtal-Katastrophe zeigte das Versagen von Globalisten im Angesicht einer lokalen Katastrophe. Ihnen war auch das Leben von 134 Menschen weniger wert als das richtige Gendern in der Presseerklärung vor der Nacht der Katastrophe.

Sinngebung des Globalismus

Hinter dem allein im Westen herrschenden Globalismus verbirgt sich der christliche Universalismus – nur ohne dessen skeptischen Sinn für Endlichkeit und Begrenztheit. Es scheint sich um eine historische Gesetzmäßigkeit zu handeln. Im gleichen Maße, in dem der Gottesglaube sinkt, steigt der Glaube an politische Götter. In der westlichen Welt erreicht das Bekenntnis zum Christentum immer neue Tiefstände. Doch gemäß dem Energieerhaltungsgesetz verschwinden die im Menschen angelegten Sehnsüchte nicht, sie transformieren sich in andere Formen. Nach dem Scheitern des Totalitarismus kommen die heutigen Sehnsüchte auf neue, subtilere Weise zum Ausdruck.

Die jene alten Links-rechts Formationen längst hinter sich lassende Koalition des Globalkapitalismus mit dem universalistischen Humanitarismus zeigt, wie auch das globale Geld nach einer Sinngebung dürstet. Daher ist es kein Zufall, dass der Globalismus seinen Ausgang an US-amerikanischen Universitäten nahm. Der globalistische Bogen spannt sich hier vom Geld der Oligopolisten zur Gesinnung der linken Humanitaristen. Den amerikanischen Studenten, meist aus reichem Haus, dient diese Koalition als eine Art Ablasshandel. Und mit ihrem demonstrativen Antirassismus halten die Universitäten ihre reichen asiatischen und arabischen Studenten in Zahllaune.

Das ›Globale Denken‹ erhebt den Anspruch, die ganze Welt im Blick zu haben, alle Menschen und ihre Kulturen berücksichtigen zu können. Gegnerschaft und Gegensätze darf es nicht mehr geben, eine Denkfigur, die jeglichem Differenzieren und Analysieren abträglich ist. Darüber erscheinen fast alle Probleme als global und lokale Besonderheiten geraten aus dem Blick. Der weltweite Klimawandel wird mit moralisierenden Verzichtsparolen bekämpft und selbst konkrete Umweltprobleme werden ignoriert.

Lokale, regionale und nationalen Instanzen dienen jetzt primär globalen Aufgaben. Partikulare Eigeninteressen sind unstatthaft und werden als nazistisch, rassistisch etc. diffamiert. Im globalen Rahmen gilt jede Selbstbehauptung des Eigenen als ›rechts‹. Es steigert die moralische Dringlichkeit, globale Probleme mit apokalyptischen Visionen zu versehen, worüber gegenwärtige Nahrauminteressen geradezu delegitimiert werden.

In Deutschland zumal haben sich global denkende Gesinnungseliten nicht ihrem Land, sondern der ›Einen-Welt‹ verpflichtet. Ihre nationale Identität liegt im gemeinsamen Bekenntnis zur Globalität, in der sie an Luftschlössern ohne Mauern bauen. Bereitwillig opfern sie Partikularinteressen von Autoindustrie und Energieverbrauchern. Rechte der Staatsbürger werden ›den Menschenrechten‹ untergeordnet, statt Patriotismus und Gemeinwohl herrscht die Kardinaltugend ›Weltoffenheit‹.

In der Bedrängnis der höchsten Energiepreise der Welt und ächzender Steuerlasten wird dieser Globalismus mit einem gewaltigen Aufwand willfähriger und gekaufter Medien aufrecht erhalten. Die offene Selbstschädigung erfordert zudem ein hohes Maß an Selbstverachtung, welche über moralisierte Geschehnisse der Vergangenheit, seien sie kolonialer wie im angelsächsischen Raum oder nazistischer Art wie in Deutschland.

Die kulturrelativistische Verachtung oder Geringschätzung des Eigenen dient wiederum einem Werteuniversalismus als Unterform des Globalismus, der die eigene Kultur gering genug achtet, um ihre Strukturen – wie etwa die rechtsstaatliche Demokratie – ohne die in Jahrhunderten erkämpften Voraussetzungen auf alle Kulturen glaubt übertragen zu können.

›Slowbalisierung‹ zwischen Globalismus und Protektionismus

Mit der Ausbreitung des Corona-Virus von der Epidemie zur Pandemie wurden Schattenseiten der mutwilligen Entgrenzungen offenkundig. Aktuelle Engpässe am Medikamentenmarkt entlarven den Globalismus selbst als ökonomische Utopie.

Mit dem Krieg in der Ukraine und dem folgenden Sanktionskrieg des Westens gegen Russland ist die ›Eine-Welt‹ vollends an der Realität zerschellt, woraus sich auch die undiplomatische Wut erklärt, »Russland ruinieren« (Annalena Baerbock) zu wollen. Kultur und Gesellschaft werden im Globalismus ignoriert. Die ›feministische Außenpolitik‹ vermag auch in Afghanistan nicht zu reüssieren. Die 200 Millionen Euro, die Ministerin Baerbock zur Frauenförderung an die Taliban überwies, wurden angenommen und die Schulen und Hochschulen für Frauen geschlossen.

Die ›Global Governance‹ endet in Pakten mit sich selbst, in einem weltweiten Migrations-, Klima- und Biodiversitätspakt. Wer sich an die Vereinbarungen hält, erleidet Konkurrenznachteile. Wichtig sind den Staaten der Dritten Welt vor allem die Bußgelder der reichen Staaten. Im Biodiversitätspakt sind 30 Milliarden Euro dafür vorgesehen.

Der westliche Universalismus trieb im Gegenzug Nationalismus und Fundamentalismus mit hervor. Die Verabsolutierung universaler Werte bedroht andere Regime, die sich darüber gegen den Westen zusammenschließen. Xi Jinping hat deren Werte bei seinem Besuch in Saudi-Arabien zusammengefasst: Achtung der gegenseitigen Souveränität, Unabhängigkeit, territoriale Integrität, gegenseitigen Gewaltverzicht und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Gegenübers.

Mit dem Globalismus findet der Westen mehr Gehör. Er wird in anderen Kulturen beachtet, wenn sich daraus Vorteile herausschlagen lassen. So wird die Entwicklungshilfe, die Deutschland China immer noch gewährt, mit Projekten gegen den Klimawandel begründet.

Wie in der Entwicklungspolitik werden durch globale Pakte Milliarden in die Taschen von korrupten Oligarchen transferiert, womit sich der Kreis der Global-Player-Oligarchien schließt. Das auch damit ermöglichte exponentielle Bevölkerungswachstum Afrikas sorgt für immer neue Migrationswellen nach Europa, dessen Folgen die ›schon hier länger Lebenden‹ zu tragen haben.

Das globale Denken endet in der Zerstörung lokaler Güter – nicht zuletzt des national verfassten Sozialstaates. Dänemarks Sozialdemokraten haben dies bemerkt. In ihrer faktischen Abschaffung des Asylrechts zur Rettung des Sozialstaates überschneiden sich linke und rechte Motive.

Im chinesischen Denken steht dessen Gelassenheit im Gegensatz zum endzeitlich orientierten christlichen Denken, welches wiederum mit dem Kreislaufdenken der ewigen Wiederkehr, demzufolge nichts Neues unter der Sonne geschehen wird, nichts anfangen kann. In einem zyklischen Weltbild ist zwar Veränderung, aber keine Entwicklung zu gänzlich Neuem möglich.

Den Sinologen Heinrich Geiger überrascht die distanzierte, unaufgeregte Haltung der chinesischen Regierung zur Klimapolitik nicht. Einzig entscheidend sei der Blick auf die Situation im Hier und Jetzt, da in jeder gegebenen Situation im Verborgenen auch alle anderen enthalten seien. Es gelte klar analysierend vorzugehen und dabei alle Faktoren im Blick zu haben, um nicht aus der gegebenen Situation die falschen Konsequenzen zu ziehen. Das habe mit Moral, Ethik und Religion im christlich-abendländischen Sinne nichts zu tun.

Das Gesetz der komparativen Kostenvorteile im Freihandel wird auch in Zukunft zur Wohlstandssteigerung Geltung behalten. Über die Grenzen, was dem Wettbewerb ausgesetzt werden soll und was nicht, müsste eben auch im Lichte lokaler und nationaler Interessen gestritten werden. Die Produktion lokaler Güter mögen sich nicht in Zahlen rechnen, aber wo die Qualität des Eigenen vor der bloßer Zahlen geschützt wird, lohnen sich auch Wohlstandsverluste.

In Technologien, die die USA und China als Fragen der nationalen Sicherheit ansehen, kommt es zur Entkoppelung, in anderen Bereichen wird die Globalisierung weitergehen. Trotz der politischen Spaltungen wird die Globalisierung der Wirtschaft in einer Art Slowbalisierung weitergehen. Wir brauchen Unterscheidungen zwischen dem, was globalisiert und dem, was national oder sogar regional und lokal zu schützen ist. Mit der Wiederkehr kontrollfähiger Grenzen wären die Voraussetzungen für Wege zwischen Dezentralität und Subsidiarität planiert.

Die großen Konflikte der Gegenwart handeln nicht mehr zwischen Links und Rechts, sondern zwischen Globalisten und Protektionisten. Letztere fordern vor allem eine Dezentralisierung der Grundversorgung an Medikamenten und Nahrung und mehr Protektion für mittelständische Existenzen gegenüber der Oligopolwirtschaft.

Spaltungen der Protektionisten nach denjenigen, die nationale, europäische oder atlantisch-westliche Handlungsebenen favorisieren, würden vom Paradigma der Selbstbehauptung in dem Sinne relativiert, in dem sie sich auf das gemeinsame Kernziel der Selbstbehauptung des Eigenen konzentrieren.

Bei den immerzu als ›rechts‹ geschmähten Kräften handelt es sich in Wirklichkeit um Protektionisten, die das Eigene schützen wollen. Radikal werden sie, indem sie zu den Wurzeln der Dinge gehen, extrem nur, wenn sie ihre Erkenntnisse verabsolutieren, eine Gefahr, die bei jeder Position besteht. Je stärker diese Kräfte ins Abseits gedrängt werden, desto stärker drohen sie sich zu extremisieren. Stattdessen müssten sie in einem großen neuen Diskurs über die glokalen Mittelwege zwischen Globalismus und Protektionismus eingebunden werden.

Grenzen in einer multipolaren Weltordnung

Wie globalistische Illusionen enden können, lehrt das Schicksal der Sowjetunion. Sie fühlte sich ebenfalls globalen Visionen verpflichtet und führte damit die Selbstausbeutung Russlands herbei. Im Ersten Weltkrieg haben die USA zum Ruin des alten Europa beigetragen und zugleich ihre Weltmachtrolle eingeleitet. Nach einhundert Jahren werden die Grenzen dieser Herrschaft schon in der innenpolitischen Zerrissenheit deutlich. Die USA leisten sich die höchsten Militärausgaben der Welt und nehmen im eigenen Land erbärmliche soziale Zustände in Kauf. Interessieren sich die amerikanischen Globalisten eigentlich für die USA oder eher für ihre Weltherrschaft?

All die Vietnams und Afghanistans scheinen der amerikanischen Rüstungsindustrie egal zu sein. Wie ein tumber Riese folgen die USA ihrem vermeintlich rationalen Interesse, ohne die kulturellen Grenzen der Welt zu beachten. Unmittelbare Folgen des kulturignoranten Globalismus haben die Europäer zu ertragen. Eine solche Indifferenz, die dem Kampf der Kulturen immer neue Nahrung zuführt, muss man sich leisten können.

Die USA sind durch die Ozeane geschützt. Deutschland befindet sich dagegen nicht nur inmitten eines neuen Ost-West-, sondern auch noch eines Nord-Süd-Konfliktes hinsichtlich der Migrationsproblematik. Mit der Sprengung der deutsch-russischen Pipeline haben die USA allerdings unsere politische Zugehörigkeit klargestellt und Deutschland offen zur Kolonie erklärt.

London wollte einerseits mehr Schutz vor Brüssel und andererseits ›Global Britain‹ sein. Im Brexit kommt eine fatale Mischung von protektionistischen und globalistischen Motiven zum Ausdruck. Die Visionen von Global Britain, die die Brexiter als Alternative angeboten hatten, wird nicht eingelöst. Ohne den europäischen Binnenmarkt schreitet die Verarmung Großbritanniens erwartungsgemäß voran.

Sie haben den EU-Binnenmarkt verloren und auch durch die sich über die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg einsetzende Deglobalisierung den Anschluss an globale Entwicklungen nicht gewonnen. Der Brexit ist ein Beispiel dafür, wie die notwendigen Mittelwege zwischen Globalismus und Protektionismus verfehlt werden und sich darüber dieser Gegensatz in innergesellschaftlicher politischer Radikalisierung zuspitzt. Nicht der Ausstieg aus der Union, sondern deren Transformation wäre die Aufgabe gewesen. Statt des Schutzes vor anderen europäischen Nationen sollte es um den Schutz vor globalen Entwicklungen gehen.

Mit der fortschreitenden Selbstausgrenzung Chinas ist dessen behauptete Wirtschaftspartnerschaft in offene Gegnerschaft zum Westen umgeschlagen. Eine bipolare Weltordnung des permanenten Konflikts unter Ausschluss der Europäer bahnt sich an. Wo die Globalisierung der Wirtschaft aufgrund komparativer Kostenvorteile weitergeht, wird sie aufgrund nationaler und oft auch imperialer Antriebe geführt. Die ausschließlich an eigenen Vorteilen ausgerichtete Politik Chinas kommt selbst in Afrika ohne humanitäre Ansprüche aus.

Aus den Trümmern des gescheiterten Universalismus und Globalismus sollte – wie einst nach der Universalherrschaft Napoleons auf dem Wiener Kongress – eine multipolare Weltordnung hervorgehen. Deren Leitstrategie könnte lauten: Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung.

Der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer unterscheidet zwischen der gegebenen asymmetrischen und einer normativ anzustrebenden symmetrischen Weltordnung. Dieser Realismus setzt die Annahme voraus, dass das Machtstreben der menschlichen Natur inhärent ist und es keine dauerhafte Chance auf Änderung gibt. In der sich faktisch ausprägenden multipolaren Weltordnung sollte daher eine neue ›Balance of Power‹ zwischen den Mächten zum Frieden verhelfen.

Schon ein historisch gebildeter US-Außenminister wie Henry Kissinger hätte den Unterschied ausmachen können. Er strebte zu seiner Zeit danach, die Weltordnung nach dem klassischen Muster eines ›Gleichgewichts der Mächte‹ aufzubauen. Es lohnt sich schon, wenn ein Außenminister sein Studium zu Ende geführt hat. Als es um die Übertragung der Ergebnisse des Wiener Kongresses ging, konnte er aus seiner Dissertation über Metternich schöpfen. Es gelang ihm, mit den Regimen in Peking und Moskau stabile Formen der Koexistenz aufzubauen.

Eine multipolare Weltordnung wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus. In ihr müssten die mächtigsten Player ihre Einflusssphären gegenseitig respektieren. Zu einer multipolaren Ordnung gehört der Respekt vor Grenzen und Einflusssphären, vor militärisch neutralen Zwischenräumen wie einst Finnland und zeitweise der Ukraine, vor allem aber eine realistische Einsicht in die eigenen Grenzen und Möglichkeiten.

Hätte der Westen nach 1991 eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland aufgebaut, wäre ein gewaltiger nördlicher Machtblock zwischen dem Westen und Russland entstanden, der sowohl den chinesischen wie den islamischen Einfluss hätte eindämmen können. Stattdessen setzt der Westen heute auf die Marginalisierung, manche sogar auf den Zerfall Russlands, ausgehend wohl von den im globalen Kontext veralteten strategischen Theorien über die zentrale Rolle der Ukraine für die Vorherrschaft in Zentralasien. Der Kampf gegen Russland, der mit der angestrebten Aufnahme der Ukraine in die Nato schon 2002 eingesetzt hatte, könnte statt der Herrschaft des Westens über Zentralasien den Zerfall der wichtigsten Ordnungsmacht Zentralasiens in die Wege leiten.

Das Fehlen jeder Ordnung ist schlimmer als eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im Eurasischen Raum hervorrufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern. Schon heute betreiben Mittelmächte wie die Türkei und Aserbaidschan revisionistische Politik. Weder die auf die Ukraine fixierten westlichen Mächte noch Russland setzen ihnen Grenzen.

Da die USA heute eine bipolare Weltordnung mit China unter Marginalisierung Russlands – und nebenbei auch der Europäischen Union – anzustreben scheinen, stellen sich uns auch neue Herausforderungen innerhalb der westlichen Welt. Die Europäische Union wird um ihren Platz in einer multipolaren Ordnung auch mit den USA streiten müssen.

Doch bislang war sie nicht einmal in der Lage ihre Grenzen kulturell zu definieren und dementsprechend ist sie auch nicht in der Lage, sie physisch zu sichern. Das fehlende Denken in kulturellen Grenzen, hier ist Samuel Huntington den vermeintlich rationalen Machtstrategien unterlegen, entpuppt sich immer mehr als die größte Schwachstelle des Globalismus.

Die Erweiterungspolitik der Europäischen Union ignoriert kulturelle Grenzen schon zu orthodox geprägten, aber sogar auch zu muslimischen Staaten. Schon die Erwägung solcher Mitgliedschaften ist Ausdruck einer nicht auf den Schutz des Eigenen ausgerichteten Weltoffenheit. Künftige Mitgliedschaften sollten vor allem daran gemessen, werden, inwieweit sie der Problemlösungsfähigkeit der Union dienen.

Neutralität und Föderalität statt Globalität

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine bot sich die Gelegenheit, die Selbstbehauptung des Westens neu zu definieren. Im Rahmen seiner Selbstentgrenzungspolitik hatte sich der Westen in die russische Einflusssphäre hinaus vorgewagt und die Ukraine faktisch zu einem Mitglied der NATO gemacht. Gleichwohl ist die Reaktion Russlands verbrecherisch und die Selbstbehauptung der Ukrainer heroisch. Darüber konvertierten die grünen Pazifisten von einst über Nacht und so überstürzt, dass die Wirtschaftssanktionen uns selbst mehr Schaden zufügen als dem neu ausgerufenen Feind.

Im ersten Kalten Krieg hat die militärische Neutralität Österreichs, Finnlands und Schwedens als Pufferzone eine positive Rolle gespielt. Auch die multipolare Weltordnung des neuen Kalten Krieges erfordert gerade hinsichtlich gemischter Zugehörigkeiten und drohender Verstrickungen der angrenzenden Kulturen Respekt vor Einflusssphären und den Aufbau von Pufferzonen. Eine ›Finnlandisierung‹ schien bis in die Nuller Jahre der Weg der Ukraine zu sein.

Es wäre auch nach dem Kriegsausbruch noch eine Möglichkeit gewesen, die West-Ukraine militärisch für neutral zu erklären, den Donbass – wie auch im Minsker Abkommen vorgesehen – mit umfangreichen Autonomierechten auszustatten und die Krim ohne völkerrechtliche Anerkennung faktisch Russland zu überlassen. Eine differenzierte Form der Neutralität hätte der Ukraine den Weg in die EU, aber nicht in die Nato eröffnet.

Deutschlands und Europas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt sich in erheblichem Maße der Einfügung in die sich selbst behauptenden, aber auch selbstbegrenzenden Strukturen des Kalten Krieges. Die Welt hat den Kalten Krieg nur überlebt, weil sich die Mächte zu jener Zeit bis auf den Meter an ihre Einflusssphären hielten und sich selbst dann nicht eingemischt haben, als in Ostberlin, Ungarn und Prag die Panzer rollten. Hätten sie sich eingemischt, hätte es spätere Entwicklungen hin zur Freiheit nicht gegeben.

Das Unrecht der Krim-Annexion sollte aus Einsicht in das Mögliche hingenommen werden. Auch die Teilung von Korea oder Zypern stellt keine moralisch befriedigende Lösung dar, aber sie erlaubt ein Einfrieren der Konflikte für spätere Zeiten. Die Ukraine ist ein multiethnisches und religiös ein multikonfessionelles Land. Sie wäre aufgrund ihrer inneren Spaltung in westchristliche Konfessionen in der West-Ukraine und russisch-orthodoxem Christentum in der Ost-Ukraine für eine neutrale Rolle zwischen den geistigen und politischen Mächten prädestiniert gewesen.

In der neuen Weltordnung darf die Europäische Union nicht länger den Agenten einer entgrenzenden Globalisierung geben. »Ein Europa, das schützt« (Macron), würde nach innen mehr Dezentralität und umgekehrt mehr Einheit und Stärke nach außen erfordern, innerhalb oder außerhalb der NATO. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft könnte dazu beitragen, dass sich die NATO wieder von einem global agierenden Bündnis zu einem Defensivbündnis zurückentwickelt.

Rekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft

Der zwar berechtigte, aber unzureichende Zorn von Wutbürgern, droht – ohne jede Transzendenz und eigene Narrative – zu scheitern. Sowohl Trump als auch die Brexiter reagierten nur auf Teilprobleme der Globalisierung und blieben ihr damit verhaftet.

Eine neue Kulturrevolution dürfte sich nicht primär an der Wiederherstellung der Vergangenheit orientieren (»Take back Control«; »Make America great again«), sondern müsste die besseren Elemente der Vergangenheit für eine Neugestaltung der Zukunft nutzen.

Bürgerlichkeit wäre mit ihrem spezifischen Ausgleich von Freiheit und Verantwortung, Rechten und Pflichten der Ausgangspunkt einer neuen subsidiären Politik. Die Unterscheidung nach männlichen und weiblichen Bürgern wäre dabei unverzichtbar für die Fortsetzung einer Gesellschaft.

Alte Ideologien müssen sich in den neuen Spannungsfeldern neu definieren. Wenn Sozialdemokraten den Sozialstaat gegenüber globalen Verwerfungen und Liberale individuelle Freiheitsrechte vor der Scharia schützen, rücken linke und rechte, liberale und konservative Kräfte zur Rekonstruktion unserer bürgerlichen Ordnung zusammen.

Dem rechnenden und abwägenden Menschenverstand der kleinen Leute, die sich in lokalen Nahräumen behaupten müssen, galt es immer als selbstverständlich, das Grenzen kontrolliert, Geldausgaben gedeckelt und das bürgerliche ›Prinzip Gegenseitigkeit‹ nicht durch das schwärmerische Prinzip Hoffnung auf endgültige Gemeinsamkeiten ersetzt wird.

Der Geschlechterkampf um die Ausgestaltung der Gleichheit dürfte seine tiefere Ursache im Verlust des Bewusstseins der Wesensgleichheit der Menschen vor Gott haben. Alles muss hier unten und damit sofort abgerechnet werden, bis hinein in die Aufhebung natürlicher Unterschiede.

Auch hierbei darf es kein bloßes Zurück zur alten Geschlechtertrennung geben. Es werden neue Formen wie Mehrgenerationenhaushalte gebraucht, die jungen Familien und alten Menschen zugleich helfen.

Selbstbegrenzung beginnt mit Subsidiarität und Dezentralität

Die Schweiz vermochte ihre Multinationalität auch durch politische Neutralität gegenüber den sie umgebenden konkurrierenden Großmächten zu sichern. Hätten sich die Deutschschweizer zu sehr nach Deutschland hin orientiert, wären die Romanen aus der Eidgenossenschaft ausgeschieden und die Nationen der Schweiz unter den angrenzenden Mächten aufgeteilt worden.

Dieser Selbstbegrenzung nach außen entspricht eine Föderalisierung nach innen, die Subsidiarität und Dezentralität bis hin zur politischen Verantwortung des Stimmbürgers in Sachfragen praktiziert. Eine dezentrale Landwirtschaft – wie sie sich auch in der Schweiz dank ihrer Nichtmitgliedschaft in der EU noch findet –, würde unserer Gesundheit und Ernährungssicherheit zugutekommen.

Antonio Gramsci hatte der politischen Linken geraten, zuerst die kulturelle Hegemonie und dann die Macht zu erobern. Nachdem der materialistische Marxismus gescheitert war, hat sein kulturmarxistischer Appell einen atemberaubenden Siegeszug angetreten. Umgekehrt stellt sich heute für neue Strategien der Selbstbehauptung die Aufgabe, wieder eine kulturelle Hegemonie zu gewinnen.

In der griechischen Mythologie galten Grenzüberschreitungen als Ausdruck von Hybris. Im Naturrecht war es selbstverständlich, das grenzenlose Freiheit keinen Bestand haben kann. Auf die christlichen Weisheiten über die Natur des Menschen, ihrer Zehn Gebote, der benediktinischen Regeln und der Christlichen Soziallehre kann der einst ›Abendland‹ genannte Westen nicht verzichten. Es sind nicht die die Dogmen des Christentums, sondern seine Mythen und seine Weisheit, die unsere tiefsten Sehnsüchte ansprechen.

Im Christentum hat die Trennung von geistigen und weltlichen Kategorien, seine Anlage und Bereitschaft zur Säkularität, den Keim dafür gelegt, dass sich die Eigenlogik in weiteren Funktionssystemen entwickeln konnte. Damit wurden Grundlagen für die Dynamik der westlichen Welt gelegt. Die Ausdehnung dieser Dynamik über den Erdball war wiederum die Grundlage für die späteren Globalisierungsprozesse. Mit den Grenzen des Christentums werden zugleich die Grenzen der Globalisierbarkeit des Westens deutlich. Mit dem drohenden Niedergang des Christentums im Westen steht seine innere Fähigkeit zur Selbstbehauptung in Frage.

Unsere Kultur ist in ihrem Wesenskern durch gegenseitige Ergänzungen von ideellen und materiellen, kulturellen und zivilisatorischen Kräften gekennzeichnet. Erst die Spannungen zwischen geistlichen und weltlichen Mächten und die daraus resultierende gesellschaftliche und kulturelle Dynamik ermöglichten den neuzeitlichen Wandel in allen Lebensbereichen.

Konkrete Beispiele für Subsidiarität und Dezentralität finden sich heute in Ungarn, in dem zwischen 2010 und 2022 zunächst ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systemwechsel aufgebaut wurde: durch eine patriotische Wirtschaftspolitik, der Erhöhung des Anteils inländischen Eigentums und dem Aufbau eines arbeitsbasierten und familienfreundlichen Sozialsystems. Der Schutz der nationalstaatlichen Souveränität wurde mit dem Kampf um kulturelle europäische Souveränität verbunden.

Eine dezentralere Politik begänne beim Wiederaufbau familiärer Lebensformen und setzt sich in der Rehabilitierung lokaler, regionaler, nationaler Interessen und kultureller Identitäten fort. Eine diesmal bürgerliche Kulturrevolution muss die Zusammenhänge der Welt vom Kopf globaler Visionen auf die Füße des lokal Machbaren stellen. Dafür werden – nach all den Dekonstruktionen des Eigenen – Schritte zu einer Rekonstruktion unserer Interessen und letztlich unserer Kultur erforderlich sein.

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