von Heinz Theisen

Einen Endsieg der Ukraine mögen wir uns im Herzen wünschen, aber mit dem Verstand können wir ihn nicht wollen. Russland ist die zweitstärkste Atommacht der Welt und je erbärmlicher und erfolgloser die konventionelle russische Kriegsführung wütet, desto größer wird die Gefahr taktischer Atomschläge. Eine Kapitulation Russlands ist aus der Perspektive der Selbstbehauptung der russischen Führung kaum denkbar.

Andere Gefahren sind ausbleibende Weizenlieferungen nach Afrika und der wirtschaftliche Niedergang Europas. Die dauerhafte Kappung aller Verbindungen zwischen Russland und Europa, wie sie in den Wirtschaftssanktionen auf den Weg gebracht wurden, steht dem Aufbau einer multipolaren Weltordnung entgegen. Sie droht sowohl Russland als auch Europa zu Anhängseln einer bipolaren Ordnung zwischen China und den USA zu machen oder einem Zeitalter endloser Nullsummenspiele den Weg zu bereiten.

Nach dem russischen Angriff kam es zu einem zuvor kaum mehr für möglich gehaltenen Erstarken der Nato, allerdings über einen Schauplatz, den man strukturell kaum und kulturell allenfalls hinsichtlich des westukrainischen Galiziens zur westlichen Welt zählen konnte.

Ob die Erhaltung der nationalen ukrainischen Integrität die genannten Gefahren aufwiegen sollte zumindest reflektiert werden. Es darf nicht nur um die Selbstbehauptung der Ukraine, es muss auch um die Selbstbehauptung Europas und mehr noch, einer stabilen Weltordnung gehen.

Wirtschaftssanktionen gegen sich selbst

Die selbstschädigenden Sanktionen gegenüber Russland im Energiebereich sind aus der Perspektive der Selbstbehauptung Europas irrrational, vergleichbar mit einem Schuss ins eigene Knie, der eine fremde Macht schwächen soll.

Doch Sanktionen, die einen selbst mehr schädigen als den Aggressor, helfen sogar dem Aggressor. Es wäre auch anders gegangen. Ungarn bekennt sich zwar zur Solidarität mit der Ukraine, nimmt die Ressourcenfrage aber davon aus. Mit dem vom Westen ausgerufenen Sanktionskrieg brach das Kartenhaus der deutschen Energiewende in sich zusammen.

Die deutschen Gasspeicher mussten zu Preisen aufgefüllt werden, die die früheren Gazprom-Rechnungen um das Zehnfache übersteigen. Darüber hat eine Deindustrialisierung Deutschlands eingesetzt. Die Regierung versucht die Energiepreise durch die Druckerpresse zu mildern, was die inflationären Tendenzen einmal mehr beschleunigen wird. Mit der deutschen Wirtschaft wird auch die Wirtschaft Europas einbrechen.

Man hätte Waffen liefern, humanitäre Unterstützung leisten und auch umfangreiche Wirtschaftssanktionen verhängen, und dabei die russischen Rohstoffe aus den Sanktionen ausnehmen können. Auf den Kriegsverlauf haben die Energiesanktionen keinen erkennbaren Einfluss. Sie haben die Preise auf dem Weltmarkt in die Höhe getrieben und damit Russland genutzt, dessen Verbindungen zu Europa gekappt und zu Asien gestärkt.

Bezieht man noch die Ablehnung der Kernenergie mit ein, so könnte man Teilen der deutschen Öffentlichkeit eine Bereitschaft zum ökonomischen Selbstmord unterstellen. Und in der Tat erleben wir seit einem Jahrzehnt eine Selbstverleugnung des Eigenen, mit den offenen Grenzen aber auch im allgegenwärtigen ›Kampf gegen rechts‹, womit primär diejenigen gemeint sind, die die Selbstbehauptung des Eigenen auf die Agenda setzen. Der fixen Idee von der ›Einen-Menschheit‹ und einer globalen Ethik haben alle Partikularinteressen zu weichen.

Der wenig erfolgreiche Universalismus leitete über zu einem Globalismus, der eine offene Selbstschädigung propagiert. Ihm zufolge sind sowohl Nahrauminteressen als auch Gegenwartsinteressen den Menschheitsinteressen und ihrer langfristigen Zukunft unterzuordnen, am deutlichsten in der nichterfolgenden Abwägung zwischen Klimaneutralität und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Autoindustrie. Fremdenliebe steht vor der Eigenliebe. Grüne Globalisten, die Deutschland ›zum Kotzen finden‹ (Habeck), scheuen für die Verteidigung des ukrainischen Nationalstaates keine Opfer.

Die Bereitschaft zum Selbstopfer trägt schon ersatzreligiöse Züge und ist daher mit Hinweisen auf die Ratio kaum korrigierbar. Selbst friedenspolitisch gebotene Erwägungen werden von einem Moralismus des ›Gut oder Böse‹ verunmöglicht. Statt auch den eigenen Vorteil zu bedenken, steht der Wunsch im Vordergrund, auf der Seite des Guten zu stehen. Aber ist es eigentlich moralisch, die Interessen der eigenen Energieverbraucher und von Arbeitsplätzen zu missachten?

Abklärung der Kategorien. Moral oder Geopolitik?

Eine ›wertegebundene Außenpolitik‹ verzichtet nicht nur auf eigene Interessen, sondern auch auf Ideen, wie mit einer von Diversität und Multikulturalität gekennzeichneten Welt verantwortungsvoll umgegangen werden kann.

Der außenpolitische Moralismus der Europäer ist eingebettet in ihren Werteuniversalismus. Demnach sind Einflusssphären von Großmächten völkerrechtswidrig und vorgestrig. Doch weder die islamische Welt, noch Russland oder China akzeptieren die Universalität westlicher Werte.

Sie sehen in ihnen den Anspruch, die ganze Welt als westliche Einflusssphäre zu betrachten. Der islamische Fundamentalismus und der neu entfachte Nationalismus von China, Russland oder auch der Türkei sind Reaktionen auf das mit dem Universalismus verbundene Ausdehnungsstreben des Westens.

Die Rückkehr der Taliban wiederlegte die Möglichkeit eines Demokratieaufbaus in Regionen, in denen keine historisch gewachsenen Vorbedingungen der Demokratie wie Säkularität und Aufklärung gegeben sind.

Die globalistische Moral ist auch nicht durchhaltbar, denn im Falle des von Aserbaidschan angegriffenen Armenien oder des von Saudi-Arabien angegriffenen Jemen zeigt der Westen keine Anteilnahme.

Das Gut oder Böse wird mit den politischen Kategorien von Freiheit und Demokratie gegen Autoritarismus und Totalitarismus verknüpft. Es handelt sich aber sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite um Oligarchien, denen es gelungen ist, durch eine Entfesselung nationaler Identitäten Mehrheiten hinter sich zu versammeln.

Im Weltkorruptionsindex findet sich die Ukraine nicht in der westlichen, sondern inmitten der afrikanischen Welt. Das Parteienverbot bei Kriegsausbruch in der Ukraine ist kein Ausdruck rechtsstaatlicher Demokratie. Die politische Herkunft Wolodymir Selenskyjs ist obskur. Im Wahlkampf hat er genau das Gegenteil seiner späteren Politik gegenüber Russland propagiert. Die Änderung setzte mit dem Beginn der Amtszeit von Joe Biden ein. Mit Dekreten wie dem von einer Rückeroberung der Krim droht er den Westen in einen Weltkrieg hineinzuziehen. Moralisch und völkerrechtlich liegt die Schuld des Ukraine-Krieges bei Russland, geopolitisch und machtpolitisch trägt der Westen erhebliche Mitschuld in der Vorgeschichte des Krieges.

Jedem Verbrechen liegen Motive zugrunde. Die Hauptmotive für den russischen Angriffskrieg liegen in der Angst vor einer militärischen Verwestlichung der Ukraine, die als unmittelbares Sicherheitsrisiko für Moskau angesehen wird. Ob zu Recht oder Unrecht ist dabei nicht entscheidend, weil Angst ein Teil der Realität ist. Angesichts der eifrigen Interventionspraxis des Westens seit dem Ende der Sowjetunion ist die Angst vor dem Westen in weiten Teilen der Welt gewachsen.

Die Verbrechen Putins sind nicht zu entschuldigen, aber geostrategisch zu erklären. Aus russischer Sicht befindet sich das Land in der strategischen Defensive gegenüber dem Westen und wird der Krieg zugleich als geopolitischer Konflikt mit dem Westen gesehen.

Die Kraft seines Regimes reicht allenfalls für die eigene Selbstbehauptung aus, nicht für neue imperiale Projekte. Putin hat nicht den Zerfall der Sowjetunion, wohl aber den drohenden Zerfall Russlands in Tschetschenien und die prekäre Lage russischer Minderheiten an zwei Stellen zu korrigieren versucht, mit der Verteidigung und Ausrufung russischer Gebiete innerhalb Georgiens 2008 und eben im Falle des Angriffskrieges auf die Ukraine. Beide Staaten waren 2008 zu künftigen Nato-Staaten bestimmt worden.

Der Krieg in der Ukraine wird zu einer Frage der Weltordnung. Wie soll sich der Westen im Rahmen einer längst nicht mehr nach multilateralen und globalen Maßstäben agierenden Weltunordnung verhalten? Während die Schwächung Russlands – und Europas – im Hinblick auf eine bipolare Ordnung für die USA geopolitisch zum Vorteil gereicht, überwiegen für die Europäer die Nachteile.

Die Kombination amerikanischer Machtpolitik und eines europäischen Moralismus führt uns in die Irre. Moral als alleiniger Beweggrund verstellt die Analyse einer Realität, die ein Prozess mit vielen Facetten ist und daher jede Einseitigkeit in der Analyse ausschließen sollte.

Es geht nicht um eine zynische Realpolitik, die nur den kurzfristigen Vorteil im Auge hat, wohl aber um einen Realismus, der die historischen Hintergründe, die langfristigen Folgen des Handelns und die Zusammenhänge der verschiedenen Perspektiven und Funktionssysteme im Auge hat.

Selbstentgrenzung des Westens

Auf der Bukarester Nato-Konferenz von 2008 wurde Georgien und der Ukraine der künftige Beitritt zugesagt. Mit diesem aufgeschobenen Beitrittsversprechen und den dann ersatzweise für einen sofortigen Beitritt bilateral erfolgenden massiven Unterstützungen der USA wurde die Ukraine nach Westen gezogen. Einerseits wurde die Ukraine damit aus der Neutralität herausgelockt, andererseits wurde ihr ohne volle Mitgliedschaft kein abschreckender Schutz vor einem Angriff Russlands geboten. Die Ukraine wurde in eine Falle gelockt.

Seit 2002 hatten die USA die Ukraine auf der militärischen Ebene und später die EU mit ihren Assoziationsverträgen, aus denen Russland ausgeschlossen wurde, in ihre Einflusssphäre zu ziehen versucht. Die Rote Linie wurde durch das militärische Vorrücken der Nato bzw. der USA in die Ukraine überschritten.

Nach den schmachvollen Niederlagen im Orient scheint der Westen aber umso entschiedener in die bis dahin gültige Einflusssphäre Russlands vordringen zu wollen. Auf das friedliche Vorrücken des Westens antwortet Putin mit kriegerischem Vordringen, was verurteilenswerter ist.

Die Entgrenzung des Westens nahm in Europa selbst ihren Ausgang. Mit den Balten und Polen haben wir Staaten aufgenommen, die aus guten historischen Gründen Angst vor dem großen Nachbarn im Osten hatten, uns mit ihrer Angst aber den Blick in eine Zukunft verstellten, die eine gemeinsam europäische Friedensordnung mit Russland erfordert hätte. Ungarn beweist, dass historische Traumata nicht von einer Nachbarschaftspolitik abhalten müssen.

Indem sich die Europäische Union auch in orthodox geprägte Länder des Balkans ausweitete, wurde sie größer, nicht stärker. Die orthodoxe Prägung ist schon von ihrer Entstehungsgeschichte vor 1000 Jahren antiwestlich, entsprechende Ressentiments wurden gegenüber den Ausprägungen der westlichen Moderne eher noch größer. Selbst im heutigen Rumänien sind antiwestliche Denkweisen virulent.

Die unverhohlene Parteinahme des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche für Putins Kriegsziele unterstreicht die Bedeutung der Kulturkategorie. Im Rahmen von Kulturkämpfen erhält das ›Selbstbestimmungsrecht der Völker‹ eine problematische Doppelbedeutung. Gilt es nur für Staatsvölker oder auch für die Völker von Regionen? Die Berufung auf das Völkerrecht ist generell problematisch, da die Großmächte das Völkerrecht durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat aushebeln können.

Olaf Scholz redete sogar von einer EU der 36 Mitglieder, ein Projekt welches die Handlungsfähigkeit der EU vollends ruinieren und die Nettozahler vollends überlasten würde. Schon jetzt müsste die EU – statt vergrößert – transformiert werden, zur Union der Einheit und Stärke nach außen und der Dezentralität nach innen.

Sabotage und Selbstauflösung des Bündnisses ?

Im April schien ein Waffenstillstand in greifbarer Nähe, unter der Bedingung einer Neutralität der Ukraine. Aber das Drängen der Angelsachsen, zur Fortführung des Krieges verhinderte dies. (ich folge hier dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat, in: Preußische Allgemeine v. 6.10.2022). Die USA wollen mit der Schwächung Russlands den Rücken für den bipolaren Weltkonflikt mit China frei bekommen.

Noch schwerer wiegt der Verdacht, dass sie dafür sogar die verbündeten Europäer schwächen wollen, damit diese keinen eigenen Machtpol, sondern ein Anhängsel des US- Machtpols bilden.

Nach jedem Delikt lautet die erste Frage des Kriminalisten ›Wem nützt es?‹. Die Zerstörung der Pipelines zwischen Russland und Deutschland wird diesen beiden Staaten am meisten schaden. Zu den russischen Motiven der Zerstörung der eigenen Pipeline fiel den Medien nichts anderes ein, als Putin zum ›Wahnsinnigen‹ zu erklären, der bereit sei, sich selbst zu verstümmeln, um damit seine Unberechenbarkeit zu demonstrieren.

Diese Sabotage nutzt – man wagt es kaum auszusprechen – am meisten Polen, der Ukraine und den USA, die eine Zusammenarbeit der Deutschen und Russen schon immer mit Argwohn betrachtet hatten. Der Versuch, die Aufregung über den Sabotageakt auf einer möglichst niedrigen Schwelle zu halten und in Gerede über ›notwendige Untersuchungen‹ übergehen zu lassen, signalisiert eine demonstrative Bereitschaft zur Unterwerfung Deutschlands unter eine erneuerte amerikanische Hegemonie. Auch das dröhnende Schweigen der Medien zu diesem Terrorakt zeigt die Hörigkeit der deutschen Medienlandschaft gegenüber den großen Datenhändlern aus Kalifornien.

Ohne eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft wird die EU kein Machtpol in der multipolaren Welt sein können. Sie muss gegebenenfalls auch innerhalb der Nato aufgebaut werden. Als zweiter Pfeiler könnte sie dazu beitragen, die Nato wieder von einem global agierenden Bündnis zu einem Defensivbündnis zurückzuentwickeln.

Die Rufe nach mehr nationaler Stärke stehen dazu nicht im Widerspruch. Ein starkes Europa setzt ein starkes Deutschland voraus und dieses benötigt zu seiner Existenzsicherung ein starkes Europa. Der Großraum sollte sich – so schon Carl Schmitt – aus seiner Fähigkeit zur Problembewältigung definieren.

Gegenseitige Selbstbehauptung in einer Multipolaren Weltordnung

Im Zusammenprall der Mächte erweist sich die Eindämmung des einen als Einkreisung des anderen und beide Motive schaukeln sich in tragischer Dialektik gegenseitig hoch.

Demgegenüber bedeutet die Strategie einer ›Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung‹ den Abschied von einer mal imperialistisch, mal moralisch motivierten Einmischung in fremde Kulturkreise. Fremd ist, was wir nicht verstehen und wo wir daher auch nicht bestehen. Der politische Universalismus des Westens war ein Irrweg.

Er hat ganze Regionen durch Interventionen destabilisiert und andere Kulturen gegen den Westen aufgebracht, ihren Fundamentalismus und Nationalismus angeheizt. Im Rahmen einer neuen Strategie der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung würde sich der Westen dagegen weit mehr zurücknehmen, sich auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren und gegenüber den Konflikten in anderen Machtsphären eher eine Haltung der Neutralität einnehmen.

Die Stärke des Westens entspricht schon lange nicht mehr der Höhe seiner Moral, mit der er sich für allzuständig bei allen Problemen der Welt zu empfinden scheint. Ein Achtel der Weltbevölkerung, so viel umfassen die Länder des Westens in etwa, kann auf Dauer nicht den Rest der Welt dominieren und auch nicht alle entwickeln.

Wir können für unsere Werte werben, aber niemand, nicht einmal das bevölkerungsmäßig kleine Afghanistan, konnten wir – trotz zwanzigjährigem Einsatz – zur Übernahme zwingen. Der Mangel an Selbstbegrenzung, auch hinsichtlich der den Interventionen im Irak und in Libyen folgenden Flüchtlingsströme, schwächt unsere eigene Selbstbehauptung.

Ein historisch gebildeter US-Außenminister wie Henry Kissinger hätte den Unterschied ausgemacht. Er wollte die Weltordnung nach dem klassischen Muster eines ›Gleichgewichtes der Mächte‹ aufbauen.

Es lohnt sich schon, wenn ein Außenminister sein Studium zu Ende geführt hat und in größeren Zusammenhängen denkt. Als es um die Übertragung der Gehalte des Wiener Kongresses auf seine Zeit ging, konnte er aus seiner Dissertation über Metternich schöpfen und mit den verbrecherischen Regimen Maos und Moskaus friedlichere Formen der Koexistenz aufbauen.

Das Fehlen jeder Ordnung ist oft schlimmer als eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im eurasischen Raum auf den Plan rufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern.

Schon heute betreiben Mittelmächte wie die Türkei oder Aserbaidschan ungeniert eine revisionistische Politik, da ihnen die auf die Ukraine fixierten westlichen Mächte und auch Russland keine Grenzen mehr setzen. Russland fiel durch den Krieg in der Ukraine als Schutzmacht Armeniens aus.

Deshalb gäbe es selbst im Falle einer russischen Niederlage und sogar eines Regimewechsels in Moskau keinen Anlass für einen demokratischen Triumphalismus. Nach einem etwaigen Sturz von Diktatoren droht ein Machtvakuum, in dem sich die Höllentore des Bürgerkriegs und der Anarchie öffnen.

Wird die Neuordnung der Welt multi- oder bipolar oder nur anarchisch sein? Im Kampf um den Einfluss auf die eurasischen Staaten würden die bipolare Konkurrenz zwischen China und den USA und der neue Nationalismus zwischen den Staaten Nullsummenspiele befeuern. Schon heute betreiben Mittelmächte wie die Türkei oder Aserbaidschan ungeniert eine revisionistische Politik, da ihnen die auf die Ukraine fixierten westlichen Mächte und Russland keine Grenzen mehr setzen.

Russland ist bei weitem nicht so isoliert, wie vom Westen erwünscht. Das russische Eingreifen in Syrien hat den Krieg zu beenden geholfen, während der Westen mit seiner einseitigen Dämonisierung Assads keine Beiträge zur Befriedung der Situation geboten hat.

Eine multipolare Weltordnung wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus. In ihr müssten die mächtigsten Player ihre Einflusssphären in Analogie zu den Ergebnissen des Wiener Kongresses von 1815 gegenseitig respektieren. Auf ihm haben die europäischen Großmächte ihre Sphären in Europa aufgeteilt. Diese Ordnung hatte trotz einzelner Kriege im Kern ein Jahrhundert Bestand.

Neben Putins Regime gibt es noch eine Menge ›verbrecherischer‹ Regime und dennoch müssen wir mit diesen in Koexistenz leben, wie schon im Kalten Krieg mit Altstalinisten und Altmaoisten.

Stabilisierende politische Strukturen in einer multipolaren Ordnung wären eine Voraussetzung für den Aufbau wissenschaftlich-technischer Vernetzungen. Den Kampf für emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklungen sollten die auf Stabilität ausgerichteten Staaten gesellschaftlichen Akteuren überlassen, vor allem aus Wissenschaft und Technik.

Zu einer multipolaren Ordnung gehört der Respekt vor Grenzen und Einflusssphären, vor militärisch neutralen Zwischenräumen wie einst Finnland und zeitweise der Ukraine, vor allem aber eine realistische Einsicht in die eigenen Grenzen und Möglichkeiten.

Im ersten Kalten Krieg hat die militärische Neutralität Österreichs, Finnlands und Schwedens als Pufferzone eine positive Rolle gespielt. Eine multipolare Weltordnung erfordert gerade in unklaren Fällen der Zugehörigkeit deren erklärte Neutralität. Eine ›Finnlandisierung‹ schien bis in die Nuller Jahre der Weg der Ukraine zu sein.

Es wäre auch nach dem Kriegsausbruch noch eine Möglichkeit gewesen, die West-Ukraine militärisch für neutral zu erklären, den Donbass – wie auch im Minsker Abkommen vorgesehen – mit umfangreichen Autonomierechten auszustatten und die Krim – ohne Anerkennung – faktisch Russland zu überlassen. Eine differenzierte Form der Neutralität hätte der Ukraine den Weg in die EU, aber nicht in die Nato eröffnet.

Die Ukraine ist ein multiethnisches und religiös ein multikonfessionelles Land. Sie wäre aufgrund ihrer inneren Spaltung in westchristliche Konfessionen in der West-Ukraine und russisch-orthodoxem Christentum in der Ost-Ukraine für eine neutrale Rolle zwischen den geistigen und politischen Mächten prädestiniert gewesen. Diese hätte durch ihre Föderalisierung und maximale Autonomie ethnisch-kultureller Minderheiten wie vor allem der Russen im Osten, aber auch der Ungarn im Westen der Ukraine ausgestaltet werden müssen.

Die Schweiz vermochte ihre Multinationalität einerseits durch Föderalisierung nach innen und andererseits durch politische Neutralität gegenüber den sie umgebenden konkurrierenden Großmächten zu sichern. Hätten sich die Deutschschweizer zu sehr nach Deutschland hin orientiert, wären die Romanen aus der Eidgenossenschaft ausgeschieden und die Nationen der Schweiz unter den angrenzenden Mächten aufgeteilt worden.

Der Gegensatz zwischen einer Politik der Stärke und des Appeasements gegenüber Russland könnte in zeitlicher Reihenfolge aufgehoben werden. Nachdem die Ukraine ihren Beitrag zur Selbstbehauptung im Krieg eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, kann sie nun die Grenzen ihrer Möglichkeiten eingestehen und auf die Eroberung des von Russland annektierten Landes verzichten.

Auch hierbei steht der Kalte Krieg Pate. Zur Einleitung der Entspannungspolitik verzichtete die Bundesrepublik, nachdem sie sich im NATO-Verbund erfolgreich der Sowjetmacht entgegengestellt hatte, auf ihre einstigen Gebiete im Osten, in schierer Anerkennung der geschaffenen Fakten und der Gefährlichkeit jedweden Revisionismus, im Interesse einer übergeordneten europäischen Friedensordnung.

Die Welt hat diesen nur überlebt, weil wir uns in dieser Zeit eben nicht eingemischt haben, selbst als in Ostberlin, in Ungarn und in Prag die Panzer rollten. Hätten wir uns eingemischt, hätte es die spätere Entwicklung des Ostblocks hin zur Freiheit nicht geben können. Die Zurückhaltung des eigenen Werteuniversalismus ist langfristig oft friedensfördernder und gibt der inneren Entwicklung dieser Länder Chancen, wenn dann die Zeit gekommen ist.

Heute brauchen wir eine Ordnung der Mächte im weltweiten Kontext, auch mit China, obwohl dort gegenüber den Uiguren großes Unrecht geschieht. Hierbei reichte allerdings die Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten aus, um gar nicht erst an Intervention zu denken. Unsere Kräfte werden auch nicht ausreichen, um Russland oder die iranische Führung zu besiegen.

Deshalb sollte das Unrecht der Krim-Annexion aus realistischer Einsicht in das Mögliche hingenommen werden. Auch die Teilungen von Korea oder Zypern stellen keine Lösungen dar, sie erfordern auch keine Anerkennung, aber sie erlaubten ein Einfrieren der Konflikte für spätere Zeiten.

Schon der Versuch einer Rückeroberung der Krim würde den Weltfrieden gefährden, das kann die Ukraine bei allem Respekt nicht verlangen. Großmächte haben Einflusssphären, die USA auch, erst nach ihnen müssen die Grenzen behauptet werden. Diese beginnen im Falle Russlands bei der Nato-Mitgliedschaft.

Eine neue Strategie hätte den Vorteil, dass sie friedensfördernder und insofern nicht unmoralisch wäre, sondern eine andere Moral verkörperte, die auch die Folgen des Handelns mitbedächte. Erinnern wir uns an die Zeit des Kalten Krieges. Deutschlands und Europas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg verdanken sich in erheblichem Maße der Einfügung in die sich selbst behauptenden, aber auch selbstbegrenzenden Strukturen des Kalten Krieges.

Selbstbehauptung als neuer Minimalkonsens

Pazifisten wurden durch den Ukraine-Krieg über Nacht zu den eifrigsten Waffenlieferbefürwortern und zu Bellizisten, die vor allem den Kampfeswillen anderer begrüßten. Europas Globalisten begeistern sich für den Kampf um die nationalstaatliche Souveränität der Ukraine und feministische Außenpolitikerinnen unterstützen die Flucht der Frauen und die Standhaftigkeit der ukrainischen Männer.

Im Lichte ihrer globalistischen Gesinnung muss das Verhalten der Linken zum Krieg in der Ukraine als eine kopernikanische Wende verstanden werden. Wenn einstige Wehrdienstverweigerer in der deutschen Regierung – wie Kanzler und Vize-Kanzler – für die nationale Selbstbestimmung der Ukrainer kämpfen, können sie dies dem eigenen Staat nicht länger verweigern.

Erfreulich ist die propagierte Selbstbehauptung der Demokratie und Freiheit deshalb, weil damit die frühere Dominanz marxistischer und antiwestlicher Versatzstücke im linken Denken überwunden wird. Die westliche Kultur der Freiheit wird über die Verteidigung in der Ukraine im Kern als wertvoll bestätigt. Die Europäer scheinen durch den Krieg überhaupt erst wieder den Sinn für die Notwendigkeit von Selbstbehauptung zu finden.

Allerdings sollte die neue Bereitschaft zur Selbstbehauptung auch am angemessenen Ort und zu realistischen Bedingungen erfolgen. Stattdessen schimmern in einer Art »Fremdpatriotismus«(Ulrich Schödlbauer) und in dem Bedürfnis vieler Deutscher, mit Russland noch eine offene Rechnung zu begleichen, die Traumata, Verdrängungen und damit wieder einhergehende mangelnde Realitätstüchtigkeit der Linken durch.

In ihrer neuen Begeisterung für Freiheit und Demokratie fehlt es am Sinn für die Grenzen der Freiheit und damit auch für die Grenzen des Westens. Im Innern kam es zu einem maßlosen Freiheitsextremismus, in dem sogar die Freiheit des Individuums gegenüber den Geschlechtsvorgaben der Natur eingefordert wird.

Die alten bürgerlichen Freiheitsforderungen des Einzelnen vor dem Staat drohen in einem neuen Gesinnungsfuror missachtet und übersprungen zu werden. Nach außen verführt der neue, die jeweiligen Vorbedingungen der Freiheit übergehende Freiheitsextremismus zu Grenzüberschreitungen gegenüber anderen Kultursphären – wie eben auch gegenüber dem orthodox geprägten Osteuropa.

Die Bewahrung des eigenen Kulturraums setzt zunächst einmal voraus, dass man diesen für bewahrenswert hält. Ein neuer realistischer Kulturalismus, der um die Grenzen der jeweiligen Kulturen weiß, würde zunächst die Anerkennung der Bedeutung von Kultur voraussetzen. Insbesondere das von fremden Kulturen und Mächten umtoste Europa bräuchte ein neues Selbstverständnis und ein daraus hervorgehendes Selbstbewusstsein seiner eigenen Kultur. Danach könnte es diese Rekonstruktionen des Eigenen begrenzen und behaupten.

Über die Klammer der wohlhabenden 68er und ihres erfolgreich-kapitalistischen Nachwuchses ist bisher nur eine progressive und universalistische Variante des Westens erstarkt, indem sich in ihrem vagen Hang zur Weltverbesserung kapitalistische und idealistische Elemente auf zunächst verblüffende Weise vereinigten.

Eines Tages wird es als ein Verhängnis im Niedergangsprozess des Westens beschrieben werden, dass der Konservatismus in der überreichen Kultur des Westens zu einer oft auch noch diffamierten Randerscheinung geworden ist. Dabei hat die Selbstaufgabe der bürgerlichen Welten gegenüber den Verächtern ihrer Kultur eine klägliche Rolle gespielt. Aber auch hier regt sich neues geistiges Leben. Die ›Kalten Krieger‹ von einst, Generäle und neo-realistische Professoren, wurden zu den Warnern vor der Überdehnung und Verstrickungen des Westens, eine Rolle, die einst der anti-imperialistischen Linken zugekommen war.

Der heute durch äußere Bedrohungen erstarkende Sinn für eine defensive und sich selbst begrenzende Form der Selbstbehauptung könnte den vom politisch-medialen Komplex angefachten Kampf gegen ›die Rechten‹, die für die Selbstbehauptung des Eigenen eintreten, beenden helfen. Dänische Sozialdemokraten habe es bemerkt: Wer die westliche Kultur der Freiheit verteidigt, ist liberal, wer den Sozialstaat verteidigt, ist links und beide zusammen sind konservativ.

In der akuten Bedrohungen könnten sich viele der überlebten, künstlich und aus machtstrategischen Gründen erzeugten ideologischen Gegensätze auf neue Weise ergänzen. Aber auch dies setzt zuvor den Wiederaufbau einer europäischen Identität voraus, die uns zugleich formieren wie abzugrenzen hülfe.

Auch auf der internationalen Ebene könnte sich aus den Trümmern der Illusionen ein neuer Minimalkonsens abzeichnen. Keiner der Akteure in der Ukraine hat seine Ziele erreicht: weder Russland, welches über den Verhinderungsversuch des NATO-Beitritts der Ukraine hinnehmen muss, dass Finnland und Schweden Mitglieder der Nato geworden sind, noch die Vereinigten Staaten, denen es nicht gelungen ist, Moskau als geostrategischen Rivalen aus der Staatenwelt zu verdrängen und so weit zu schwächen, dass es künftig keine Rolle mehr in der Weltpolitik spielte.

Die Ukraine wird die Krim nicht zurückerlangen. Sie ist über diese territorialen Ansprüche in ihrer zivilen Zukunftsentwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen worden. Sie hat sich von ihren Oligarchen in einer nur für diese einträgliche Mischung aus Atlantizismus und Nationalismus in eine ausweglose Falle treiben lassen.

Deutsche Gesinnungseiferer nutzen den Krieg als Gelegenheit, den Blick auf ihre desaströse Energiewende zu verdecken. Zugleich treiben sie mit den selbstschädigenden Sanktionen die Deindustrialisierung, die Verarmung des Mittelstandes und eine dauerhafte Inflationierung voran.

Die Europäer werden womöglich noch diesen Winter erkennen, dass man sich Werteuniversalismus und Freiheitsheroismus auch leisten können muss. Wer dies nicht kann, wie eben die Europäer, sollte sich besser auf die Selbstbehauptung des Eigenen beschränken, seine progressiven globalistischen Attitüden gegen eine konservativere Politik der Selbstbewahrung eintauschen.

Alle Kriegsparteien haben zudem seit dem 24. Februar ihre Auffassungen vom Krieg und zu den Zielen, die sie erreichen wollen, mehrfach geändert. Dies verweist auf den Mangel an Strategie, der zur eigenen Verwirrung wie der des Gegners unheilvoll beiträgt.

Dieses Desaster könnte allerdings auch eine Offenheit für plötzliche Friedenslösungen signalisieren, die uns dann genauso überraschen werden wie die bisherigen Wenden und Kehrtwenden einer orientierungs- und strategielosen Politik. Für die Zeit danach sollten wir daher Vorstellungen über eine Neuordnung Europas und der Welt bereit halten.

Eine Strategie der ›Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung‹ könnte die notwendig neuen Paradigmen der Multipolarität, Koexistenz und Neutralität in der Weltpolitik miteinander verbinden helfen. In ihr verschränken sich zudem Außen- und Innenpolitik in einer Weise, die althergebrachte innergesellschaftliche Links-rechts-Spaltungen auf der Ebene der notwendigen Selbstbegrenzungen aufzuheben vermöchten.

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