von Herbert Ammon

Aus universalgeschichtlicher Sicht hat Geopolitik – die Dialektik von Macht, Raum und Zeit – eine bis in die Zeit der alten Hochkulturen zurückreichende Vorgeschichte. Die Schwäche des Begriffs liegt in seinem Determinismus, sein heuristischer Wert in der Wahrnehmung der geographischen und geographisch-historischen Bedingungen politischen Handelns. Er wird sinnfällig in dem Diktum des finnischen Diplomaten und Staatspräsidenten Juho Kusti Paasikivi (1946-1956) im Hinblick auf die prekäre Lage Finnlands im Schatten des (sowjet-)russischen Imperiums: »Man kann nicht gegen die Geographie seines Landes Politik machen.« Im Hinblick auf Putins Krieg wäre derlei Einsicht dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi zu wünschen gewesen. Er kam dazu – mit Neutralitätsangeboten an Putin – in den ersten Tagen nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022, als es dafür zu spät war.

Vom Begriff her setzt ›Geopolitik‹ eine Perspektive voraus. Was die Betrachtung der Dinge aus deutscher Perspektive betrifft, so kann ein Zitat von David P. Calleo den thematischen Zugang öffnen. Der amerikanische Politikwissenschaftler (geb. 1934) schrieb anno 1980 in kritischer Zuspitzung gegen die seinerzeit vorherrschende, die deutsche Teilung befestigende These vom ›deutschen Sonderweg‹ folgendes: »Sogar die Nazi-Episode kann man weniger als Folge eines angeborenen Fehlers der deutschen Kultur interpretieren oder als ein gewissermaßen eigengesetzlich zum Ausbruch kommendes nationales Geschwür, das sich nach einem eigenen inneren Rhythmus entwickelt, sondern als Folge des intensiven Drucks, der von außen auf Deutschland lastete. Geographie und Geschichte hatten sich verschworen, Deutschland zu einem späten, raschen, anfechtbaren und umkämpften Aufstieg zu verhelfen. Die übrige Welt reagierte darauf, indem sie den Emporkömmling zermalmte. Wenn im Verlauf dieses Prozesses dem deutschen Staat die guten Manieren abhanden kamen und er von einem bösen Dämon besessen wurde, lautet die richtige Schlussfolgerung nicht so sehr, dass die Kultur in Deutschland auf extrem schwachen Füßen stand, sondern dass sie überall zerbrechlich ist.« (Calleo, Legende und Wirklichkeit der deutschen Gefahr, Bonn 1981, S. 23).

Der Satz ist für unser Thema von doppelter Bedeutung: Er beleuchtet sowohl die gleichsam zeitlos naturgegebenen. »materiellen« Aspekte des Begriffs als auch die im kulturellen »Überbau« historisch wirksamen Faktoren. Im weitesten Sinne geht es bei letzteren – was die neueste Geschichte betrifft – um die Dialektik der Aufklärung, die in Europa, anders als in den – derzeit von kulturellen Konflikten geprägten – USA, in einen weitgehenden Transzendenzverlust (›Tod Gottes‹) mündete. Im Gefolge der Französischen Revolution fungierten im 19. und 20. Jahrhundert Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus – in mancherlei Verschränkungen und Antagonismen – als Motivationsquellen und Integrationsideologien nach innen und außen. Heute dient der im Vertrag von Lissabon (2007) fixierte Katalog von säkularen Werten als zivilreligiöse Überhöhung eines – nicht nur im Hinblick auf den Brexit – als Machtkomplex nach wie vor ungefestigten »Staatenverbundes«.

Nicht zu übersehen ist dabei, dass sich – hinsichtlich der Bedeutung des Holocaust-Gedenkens – die Zivilreligion der Bundesrepublik vom historisch-kulturellen Selbstverständnis der anderen Staaten und Gesellschaften Europas unterscheidet. Derzeit konstituiert in Deutschland ein Amalgam von historisch begründeter Moral, post-nationalem Universalismus sowie – zugespitzt im Zeichen des Klimawandels – ökologischer Besorgnisse das akademisch und medial vermittelte politische Bewusstsein. Bezüglich des Stellenwerts von Geopolitik schreibt der Schweizer Publizist Eric Gujer: »Deutschland hat keinen Sinn für Geopolitik, also für die Erkenntnis, dass geografische Räume machtpolitisch kein Vakuum bleiben. Sie werden immer einer Einflusssphäre zugeschlagen. Die Bundesrepublik interpretiert internationale Politik jedoch nicht in der Kategorie der Macht, sondern in jener der Moral.« (E. Gujer: Thema der Woche: So ernst gemeint ist die deutsche Zeitenwende nicht, in: NZZ v. 25.03.2022).

Nichtsdestoweniger gehören – angesichts der globalen Machtrivalitäten im Dreieck USA – Russland – China sowie des Ukrainekrieges – die lange ignorierten und verpönten Begriffe der Geopolitik und der mit dieser verknüpften Geostrategie zum Arsenal historisch-politischer Analyse. Die Aufwertung der Geopolitik setzte nicht zufällig geradezu schlagartig um das Epochenjahr 1989 herum ein, bezeichnenderweise noch vor dem Mauerfall zuerst in Polen, erst später, in deutlicher Zurückhaltung, in dem in seine alte Mittellage gerückten Deutschland. Geopolitik gehörte seit je neben der International Political Economy in den USA, Großbritannien, Israel und Frankreich zum Curriculum der Politikwissenschaft.

Geopolitische Aspekte der neuzeitlichen Geschichte

Geopolitische Faktoren sind in der gesamten, für die Ortsbestimmung der Gegenwart maßgeblichen Geschichte der Neuzeit wirksam. Sie sind angelegt im Scheitern der abendländisch-mittelalterlichen Kreuzzüge, im vom Ming-Kaiser dekretierten Verzicht Chinas auf weitere maritime Vorstöße nach Westen (1436), im Untergang von Byzanz (1453) und in der Blockade des östlichen Mittelmeers durch die Osmanen. Sie wurden seit der Epochenwende zur Neuzeit manifest in der überseeischen Expansion Europas. Im Westen lösten Portugal, Spanien, die Niederlande und England einander als führende Seemächte ab. Nach dem ›teutschen Krieg‹ schufen die Mächte durch den Westfälischen Frieden 1648 ein auf ein schwaches Zentrum gegründetes, relativ dauerhaftes Friedenssystem, gesichert durch das »Ius Publicum Europaeum« (Carl Schmitt). Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg wurde im Frieden von Utrecht (1713) die ›balance of power‹ als Friedensprinzip festgeschrieben. Zur selben Zeit stieß Zar Peter I. mit dem Großen Nordischen Krieg und der Gründung von St. Petersburg (1703) das »Fenster nach Westen« auf. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) mündete die Rivalität der fünf großen Mächte (1+4 = Großbritannien, Frankreich, Österreich, Preußen, Russland) in den ersten europäischen ›Weltkrieg‹.

Denker der Aufklärung stellten im 18. Jahrhundert wirkungsmächtige geopolitische Konzepte bereit. David Hume definierte 1741 die britische Hebelposition als Garantie der Ausbreitung der Freiheit auf dem Kontinent (On the Balance of Power). Montesquieu deutete den »Geist der Gesetze« (De l'ésprit des lois, 1748) eines Landes als Ausdruck von Geographie und Geschichte. Er gab den freiheitlichen Seemächten den Vorzug und prägte das bis heute – etwa im Hinblick auf Russland – wirksame Bild der »orientalischen Despotie«. Denis Diderot (Contributions à l´histoire des deux Indies, 1780) propagierte die französische koloniale Expansion in Konkurrenz zu England als mission civilisatrice.

Mit der Entstehung der USA (Amerikanische Revolution 1776-1783; Verfassung 1787-1789) erwuchs den alten europäischen Mächten ein transatlantisches Gegengewicht mit enormem Potential und universalem Sendungsbewusstsein. Im Krieg von 1812 scheiterte der amerikanische Vorstoß nach Kanada, es kam aber im Frieden von Gent (1814) zu einem Ausgleich zwischen der abgefallenen Tochternation und der britischen Weltmacht. Die in der Monroe-Doktrin 1823 begründete de-facto-Allianz der USA und Großbritanniens garantierte die britische Hegemonie zur See und den Bestand des Empire bis ins Entscheidungsjahr 1941. Der gleichzeitig den Zerfall der Heiligen Allianz befördernde Freiheitskampf der Griechen (1821-1830) erhob Russland in die Rolle der christlichen Schutzmacht im Orient, wobei alsbald auch Ambitionen auf die alte Kaiserstadt Konstantinopel, die Dardanellen und das Mittelmeer erkennbar wurden.

Die Monroe-Doktrin – indirekt angestoßen vom britischen Tory-Außenminister George Canning – proklamierte zugleich den US-amerikanischen Anspruch auf Hegemonie in der westlichen Hemisphäre. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 trat die bereits unter Präsident Thomas Jefferson (Louisiana Purchase 1803; Expedition von Lewis und Clark 1803-1807) auf zwei Ozeane und die pazifische Gegenküste ausgerichtete junge Nation offen in den Kreis der Weltmächte ein. In den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts fungierten die USA als kriegsentscheidende Macht.

Im Zweiten Weltkrieg bezahlte England das Bündnis mit den USA mit dem Verlust des Empire. Im Zeichen der UNO und der Vision der »One World« traten die USA in Afrika und Asien als Vorkämpfer der Entkolonialisierung auf, im Nahen Osten beerbten die USA England als dominante Macht. Offenkundig endete die »besondere Beziehung« (special relationship) 1956 bei dem von der US-Regierung unter Präsident Eisenhower erzwungenen Rückzug der Briten und Franzosen vom Suez-Kanal. Sie kam – eher einseitig – erneut in der im zweiten Irak-Krieg 2003 erwiesenen britischen Gefolgschaft zum Vorschein. Den von 2021 vollzogenen Austritt aus der EU verbanden Premierminister Boris Johnson und andere Brexiteers mit der Hoffnung auf eine Wiederbelebung des alten Verhältnisses.

Die deutsche Revolution des europäischen Gleichgewichts

Im Gefolge der Französischen Revolution erfuhr das europäische Mächtespiel um Hegemonie und Gleichgewicht eine revolutionär gesteigerte Qualität. Die Kriegserklärung der Nationalversammlung (20.4.1792) an die Fürstenstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (an »den König von Ungarn und Böhmen«) mündete in den seit Ludwig XIV. bekannten Ruf nach den ›natürlichen Grenzen‹. Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. erfolgte die Kriegserklärung des Nationalkonvents an England. Alsbald entfaltete sich Napoleons revolutionär befeuerter Machtwille im Dienste der Weltmacht Frankreich in alten und neuen geopolitischen Dimensionen. Napoleon scheiterte an der britischen Seemacht sowie an den Fakten der Geographie. In Stichworten: Seeschlacht bei Abukir (1798) und ›Flucht aus Ägypten‹ (1799), Trafalgar (1805), Kontinentalsperre (1806), Rückzug aus dem brennenden Moskau (1812).

Nach der Niederwerfung Napoleons kehrte Europa auf dem Wiener Kongress 1814/15 zum Gleichgewichtsprinzip zurück. Die maßgeblichen deutschen Staatsmänner, mit Metternich und Hardenberg an der Spitze Österreichs und Preußens, beschränkten sich auf die Errichtung des Deutschen Bundes, eines (ausbaufähigen?) Staatenbundes im Zentrum Europas. Im System des Wiener Kongresses 1814/15 fiel den Flügelmächten – der Seemacht England und der Landmacht Russland – das Hauptgewicht zu.

Die auf einen deutschen Nationalstaat zielende Märzrevolution 1848 warf unverzüglich die alten Machtfragen wieder auf. Mangels eigener militärischer Kräfte sah sich die Frankfurter Paulskirche im Konflikt mit der dänischen Krone – und den dänischen Nationalliberalen – über die Herzogtümer Schleswig-Holstein-Augustenburg auf die noch vom Frankfurter Bundestag entsandten preußischen Truppen angewiesen. Auf den Vorstoß der Preußen am ›Bosporus an der Ostsee‹ fanden sich rasch die konkurrierenden Mächte England und Russland sowie Frankreich zur konzertierten Aktion zusammen, die in den Waffenstillstand von Malmö (26.8.1848) mündete. Das Fiasko von 1848 inspirierte das liberale deutsche Bürgertum zur patriotischen Idee des Flottenbaus, der gewöhnlich allein imperialistischen Zielsetzungen des 1898 gegründeten Deutschen Flottenvereins zugeschrieben wird.

Die national-demokratische Lösung der ›deutschen Frage‹ scheiterte an der Schwäche und revolutionären Halbherzigkeit des deutschen Bürgertums. Inwieweit ein großdeutscher oder selbst nur ein kleindeutscher demokratischer Nationalstaat für das europäische Staaten- und Machtsystem verträglich gewesen wäre, mag als Gegenstand historischer Spekulation dienen. Nicht anders hätte das vom österreichischen Ministerpräsidenten Fürst Felix von Schwarzenberg (1848-1852) als ›reaktionärer‹ Gegenentwurf ins Spiel gebrachte Projekt eines mitteleuropäischen 70-Millionen-Reiches das europäische Gleichgewicht ausgehebelt. Die Schwarzenberg-Lösung hätte eben jenen mitteleuropäischen Hegemonialblock geschaffen, der im August 1914 in den Weltkrieg (als Zweifrontenkrieg) eintrat.

Der – von Napoleon III. ausgelöste – Krieg gegen Frankreich 1870/71 »bedeutet[e] die deutsche Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts«, verkündete Benjamin Disraeli als Führer der Konservativen im Unterhaus am 9. Februar 1871. Durch die Reichsgründung (18.1.1871) »[ist] das Gleichgewicht der Macht völlig zerstört worden.«

Der Aufstieg des Deutschen Reiches zur europäischen Zentralmacht ließ alsbald – im französisch-russischen Militärbündnis 1892/94 – die vermeintliche Antithese von Revolution, in Gestalt der liberalen Dritten Republik in Frankreich, und Reaktion, verkörpert im autokratischen Russland, vollends obsolet erscheinen. Sodann setzte das Bündnissystem von vor 1914 die klassische geopolitische Konstellation von Seemacht vs. Landmacht außer Kraft. In den Jahrzehnten zuvor war – im Zeichen des Industriekapitalismus – das Potential der europäischen Mächte gewachsen. Ihre Rivalität kam im Übergang vom Freihandelsimperialismus zum Hochimperialismus, im System von Schutzzöllen, im Eisenbahnbau sowie in einer neuen Phase kolonialer Expansion erneut in geopolitischen Dimensionen zur Entfaltung. Die von Bismarck auf dem Berliner Kongress (1878) wahrgenommene Rolle des »ehrlichen Maklers« zwischen den Großmächten blieb in der Ära des Imperialismus eine Episode – mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Imperialismus und geopolitische Doktrinen

In den Krisenzyklen des Industrie- und Finanzkapitalismus, in der Dynamik von Überproduktion und Unterkonsumtion, von Spekulation und Kapitalexport, in der nationalstaatlichen Konkurrenz um Rohstoffquellen und Absatzmärkte fanden Imperialismus-Theorien den Schlüssel für die Kolonialkonflikte in Übersee und für den heraufziehenden europäischen Krieg. Die maßgeblich vor dem Hintergrund des (zweiten) Burenkriegs (1899-1902) entwickelten imperialismuskritischen Theorien (John A. Hobson 1902, Rudolf Hilferding 1910, Rosa Luxemburg 1913, Wladimir I. Lenin 1916) fielen zeitlich zusammen mit den auf globale Räume ausgerichteten geopolitischen Doktrinen (Friedrich Ratzel 1897, Alfred Thayer Mahan 1890/1900, Halford Mackinder 1904, Rudolf Kjellén 1899/1916, Karl Haushofer 1924).

Die geopolitischen Raumtheorien verstanden sich als ›realistische‹ Konzepte zur Analyse globaler Machtfaktoren, zugleich als politische Handlungskonzepte. Es handelte sich je nach Perspektive um gegensätzliche und/oder komplementäre Denkschulen. Der Konteradmiral der US Navy Alfred Thayer Mahan (1840-1914) setzte in The Influence of Sea Power in History 1660-1783 (erstmals 1890) unter den Bedingungen für Seemacht – neben Faktoren wie Bevölkerungsgröße, Nationalcharakter und Regierungsform – die physische Geographie eines Landes obenan. Die insulare Position der alten Seemacht England diente ihm als Vorbild für das globale Ausgreifen der USA.

Aus britischer Perspektive, in der neben Russland – im Hinblick auf unterschiedliche Handelsinteressen – auch die auf eine halbkontinentale Landmasse gestützten USA als Konkurrenzmacht des Empire fungierte, verflocht Halford Mackinder (1861-1947) historische Reflektion mit geographischer Deskription zu geopolitischer Doktrin. In seinem epochalen Vortrag vor der Royal Geographic Society 1904 lenkte er den Blick auf Eurasien (»Euro-Asia«). Eine fernöstliche Gefahr einer Welthegemonie sah er in einem nach Russland ausgreifenden chinesisch-japanischen Reich.

Mackinders besondere Warnung galt indes einem – de facto seit 1890 erledigten – Bündnis des Deutschen Reiches mit dem »Heartland« Russland und dessen Schlüsselregion (»pivotal area«) Zentralasien. Es handelt sich um eine bis heute bestehende – seit der deutsch-sowjetischen Allianz in den Jahren der Weimarer Republik bekannt als »Rapallo-Komplex« – realpolitisch bedeutsame Befürchtung. Darüber hinaus erweist ein Axiom des Geographen Mackinder bis heute seine Relevanz: »The actual balance of political power at any given time is, of course, the product, on the one hand, of geographical conditions, both economic and strategic, and, on the other hand, of the relative number, virility, equipment, and organization of the competing peoples.« (In: The Geographical Pivot of History, 1904)

An Friedrich Ratzels (1844-1904) Raumbegriff anknüpfend definierte der schwedische Geograph und Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén (1864-1922) – der Erfinder des Begriffs ›Geopolitik‹ – den ›Lebensraum‹ als die der Bevölkerung eines Staates angemessene materielle Basis. Karl Haushofer (1869-1946) zog die für Deutschland vermeintlich eindeutigen Lehren aus dem verlorenen Weltkrieg und entwickelte in Fortsetzung der Ideen Ratzels und Kjelléns seine folgenreichen geopolitischen Konzepte eines eurasischen Kontinentalblocks, gegründet auf ein Bündnis aus Deutschland, Japan und Russland (in: Zeitschrift für Geopolitik, 1924 ff. sowie in: Wehr-Geopolitik, 1933).

Geopolitik in den Weltkriegen

Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg erwiesen die ›klassischen‹ geopolitischen Doktrinen – ungeachtet der dezisionistischen Momente im Kriegsverlauf des Ersten sowie der spezifisch irrationalen Fixierungen der NS-Akteure im Zweiten Weltkrieg – ihre realpolitische Relevanz. Der »Selbstmord Europas« (Paul Ricœur) entsprang wesentlich der fatalen Logik des Schlieffen-Plans, somit einerseits der im Bündnissystem von vor 1914 verfestigten macht- und geopolitischen Faktizität, andererseits vermeintlicher strategischer Notwendigkeit. Ausschlaggebend für die Niederlage der Mittelmächte 1918 waren die knappen kontinentalen Ressourcen, die britische Seeblockade, nicht zuletzt das materielle Interesse und die Potenz der USA. Das auf Missachtung der Überseemacht USA, auf ›Siegfrieden‹ im Westen sowie auf Machtausdehnung im Osten (bis hinein in den Kaukasus) gerichtete Konzept der OHL scheiterte an Raum (Vormarsch im Osten nach dem Frieden von Brest-Litowsk [3.3.1918]) und Zeit (Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges [1.Februar 1917], Spekulation auf Kriegsentscheidung vor Entfaltung des amerikanischen Militärpotentials, militärischer Zusammenbruch im August/September 1918).

Im Jahr 1919 schrieb Mackinder sein als Handreichung für die britischen Vertreter in Versailles gedachtes »geopolitisches Meisterstück« – so der amerikanische Politikwissenschaftler Francis P. Sempa – Democratic Ideals and Reality. Als Vorkehrung gegen ungebrochene deutsche Machtambitionen empfahl er einen cordon sanitaire zwischen Deutschland und Russland. Dazu die klassische Formel: »Who rules East Europe commands the Heartland, Who rules the Heartland commands the World-Island, Who rules the World-Island commands the World.«

Das Buch wurde 1942 neu gedruckt. Mackinders Aufsatz The Round World and the Winning of the Peace erschien im Juli 1943 in »Foreign Affairs«. Gleichsam komplementär zu Nicholas Spykmans »Rimland«-Theorie fanden Mackinders geopolitische Konzepte ihren Niederschlag in der »containment«-Politik der Nachkriegszeit sowie in der geopolitisch angeordneten Blockstruktur, namentlich der NATO.

Aus spezifisch britischer Sicht sprach Winston Churchill nach dem Finale des Zweiten Weltkriegs 1945 von dem zweiten Dreißigjährigen Krieg. Der fernöstliche Kriegsschauplatz blieb in dieser Perspektive ausgeblendet. Tatsächlich ging dem gewöhnlich auf Hitlers Angriff auf Polen am 1. September 1939 datierten Weltkrieg ein zweijähriges Vorspiel 1937-1939 in Fernost voraus. Es begann mit dem Angriff Japans auf China (7.7.1937). Seine seit dem japanisch-russischen Krieg 1904-1905 und der Annexion Koreas betriebene imperialistische Expansionspolitik brachte Japan – nach der ›Öffnung‹ des Inselreiches durch US-Commodore Matthew Perry (1853/54) in wenigen Jahrzehnten zur Großmacht aufgestiegen – spätestens in den 1930er Jahren in Konflikt mit der Pazifikmacht USA. Im August 1939 erlebten die Japaner ihre erste Niederlage gegen sowjetische Panzertruppen unter General Georgi Schukow am Grenzfluss Kwan-long in der Mandschurei. Danach richteten sich – noch nicht endgültig oder zwingend – die japanischen Expansionsgelüste wieder gen Süden und in den indopazifischen Raum. Im Fernen Osten endete der Weltkrieg am 2. September 1945 mit der Kapitulation Japans. Diese erfolgte nicht allein wegen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki (6. und 9. August 1945), sondern auch infolge des in Jalta zugesagten Kriegseintritts Stalins gegen Japan und des Zusammenbruchs der japanischen Kwantung-Armee im August 1945.

In Europa steckte Hitler – ungeachtet des Ribbentrop-Molotow-Abkommens (Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 – von Anbeginn des von ihm entfesselten Krieges (1. September 1939), genauer: seit der Einlösung der britisch-französischen Garantie und Bündnisverpflichtung für Polen (3. 9.1939) und spätestens seit Churchills Übernahme des Kriegskabinetts (10.Mai 1940) in der Napoleon-Falle. Nach der verlorenen »Luftschlacht um England« (»Battle of Britain«) im Sommer 1940 war der Krieg an einem ersten Wendepunkt angelangt. Bereits 1940/41 avancierten die USA erneut zur kriegsentscheidenden Weltmacht. Als Hypothese sei dahingestellt, ob Hitler vermittels des von ihm kurzzeitig ins Auge gefassten – insbesondere von Außenminister Ribbentrop angestrebten – ›Viermächtepakts‹ – des ›Kontinentalblocks‹ nach dem Modell Haushofers – den globalen Konflikt hätte ›neutralisieren‹ können. Die Basis dafür hätte – nach dem Einstreichen der im H-S-Pakt zugesagten Beute – in der Hinnahme der von Stalins Außenminister Molotow beim Berlin-Besuch 12./13. November 1940 präsentierten Konditionen, orientiert an alten russisch-imperialen, geopolitisch definierten Zielen (Dardanellen, Balkan) bestanden.

Mit dem Entschluss (»Weisung Barbarossa« vom 18.12.1940) zu dem seit Anfang Juli 1940 ventilierten Angriff auf die Sowjetunion (22.Juni 1941) war – gepaart mit der rassenideologischen Missachtung der einzig anderen Chance eines Befreiungskrieges – das Scheitern von Hitlers Macht- und Lebensraumprojektionen historisch vorgezeichnet. (Der im Gefolge des Angriffs vollzogene nationalsozialistische millionenfache Judenmord sprengt dabei jeden Begriffsrahmen.) An den von Schukow aus Fernost herangeführten Truppen zerbrach der von Hitlers Generälen ausgearbeitete Kriegsplan und die Illusion eines Sieges am 5.12.1941 vor Moskau. Die schwache Möglichkeit eines neuerlichen Arrangements mit Stalin (unter der Hypothek einer sowjetischen Vormacht in Europa) ließ Hitler aus ideologischen und psychologischen Motiven unversucht.

Hitlers und Mussolinis Kriegserklärungen an die USA (11.12.1941) komplettierten das Mächtedrama des Zweiten Weltkriegs. Die USA mochten seit Frühjahr 1941 (Lend-Lease-Gesetz, Hilfslieferungen an England und die Sowjetunion) de facto bereits die Rolle einer Kriegspartei eingenommen haben. Dessen ungeachtet erscheinen die nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor (7.12.1941) erfolgten Kriegserklärungen der Achsenmächte weder von der Bündnislogik noch vom Wortlaut des Dreimächtepakts (27.9.1940) zwingend geboten. Vielmehr entzieht sich unter dem Aspekt des japanisch-sowjetischen Nichtangriffspaktes (13.4.1941) sowie insbesondere vor dem Hintergrund des vor Moskau gescheiterten deutschen Angriffs das Vorgehen der faschistischen Diktatoren einer die Kriegschancen abwägenden Logik. Der »revisionistische« Historiker Sean McMeekin nennt – im Hinblick auf Japans Eigeninteressen – Hitlers Agieren schlicht »foolish«. (McMeekin: Stalins War, Penguin Books 2022, S.386)


Rimland and Heartland

Vor und während des II. Weltkrieges entwickelte der aus den Niederlanden stammende Theoretiker Nicholas Spykman (1893-1943), ein Kenner der Geopolitik Karl Haushofers, ein zukunftsweisendes geopolitisches Modell. 1938/39 trat er als Gegner des – in den Neutralitätsgesetzen der 1930er Jahre verfestigten – amerikanischen Isolationismus hervor. Für Spykman, Gründer des Institute of International Studies in Yale und Vertreter der realistischen Schule unter den amerikanischen Politiktheoretikern, war die Geographie »die dauerhafteste« historisch-politische Wirkungskraft, die geographische Lage eines Staates war »the most fundamental factor in its foreign policy«. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, zur Zeit des japanisch-chinesischen Krieges in Fernost, des italienischen Abessinien-Krieges und des Spanischen Bürgerkrieges in Europa, erkannte Spykman die Vorboten eines neuen großen Krieges. Vor diesem Hintergrund spitzte er seine Doktrin in dem Satz zu: »The geographic area of the state is the territorial base from which it operates in time of war and the strategic position which it occupies during the temporary armistice called peace.« (Zitate in: Francis P. Sempa: Spykman´s World, in: American Diplomacy 2006, http://www.unc.edu/depts/diplomat/item/2006/0406/semp/sempa_spykman.html)

Internationale Politik unterliegt nach Spykman allein der allen Staaten inhärenten Machtdynamik. Aus diesem Faktum ergibt sich das Bild eines sich permanent wandelnden Magnetfeldes. Der geläufige Begriff der Machtpole (etwa in dem 1989/91 untergegangenen ›bipolaren System‹) entspringt dieser Machtmetaphorik. »A shift in the relative strength of the poles or the emergence of new poles will change the field and shift the lines of force.« Staatsräson war für Spykman Machträson, in unverblümt darwinistischer Begrifflichkeit »identical with the struggle for survival«.

Unter dem dominanten Aspekt der Geographie subsumierte Spykman, Berater des Präsidenten Franklin D. Roosevelt, 1942, in dem Buch America's Strategy in World Politics: The United States and the Balance of Power zehn Machtfaktoren eines Staates: Fläche, Grenzen, Bevölkerung, Rohstoffe, ökonomisch-technischer Entwicklungsstand, Kapitalkraft, ethnische Homogenität, soziale Integration, politische Stabilität, Moral (»national spirit«), Stärke seiner Feinde. In klassischer Denktradition seit Machiavelli – dem amerikanischen moralischen Selbstbild klar entgegengesetzt – ordnete er Moral der Macht unter: »The search for power is not made for the achievement of moral values; moral values are used to facilitate the attainment of power.«

Demnach unterliegt selbst das für Friedensperioden unerlässliche Machtgleichgewicht dem Vorbehalt des Machtvorteils, des Gewinns eines »großzügig bemessenen Vorsprungs« der jeweiligen Staaten (»Not an equilibrium, but a generous margin is their objective.«). In der Konsequenz der ewigen Realität von Macht liegen Allianzen und Rüstungskonkurrenz, zuweilen Krieg. Moralische Abscheu gegen Krieg entspringt nach Spykman verwirrten Emotionen und unklarem Denken. Krieg im 20. Jahrhundert wurde militärisch, politisch, wirtschaftlich und ideologisch geführt, bedeutete somit »totalen Krieg«, so die Schlussfolgerung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis P. Sempa.

Für die USA definierte Spykman anno 1942 die bis heute gültige Perspektive auf Europa: »We have an interest in the European balance, as the British have an interest in the continental balance.« ( Den Globus teilte er in Anlehnung an Mahan und Mackinder in geopolitische Regionen ein. Schlüsselregionen waren Mackinders »Heartland«, die Meeresregionen um Eurasien als »the great circumferential maritime highway of the world«, die »große konzentrische Pufferzone«, bestehend aus Europa, Persien, dem Nahen Osten, Südwestasien, China, Indochina und Ostsibirien. Von besonderer strategischer Bedeutung erkannte er den Bogen vom Nahen Osten über den Golf hin zum »südwestlichen Asien« wegen der dortigen Ölregionen.

Mitten im Krieg gegen Japan prognostizierte Spykman den Aufstieg Chinas und folgerte daraus die Notwendigkeit einer Allianz USA-Japan zur Erhaltung des asiatischen Machtgleichgewichts. Spykman starb am 26. Juni 1943. Aus seinem Nachlass erschien 1944 ein Buch mit dem progammatischen Titel The Geography of Peace. Aus amerikanischer Perspektive – von der kontinentalen ›Insel‹ in der westlichen Hemisphäre aus – revidierte Spykman Mackinders Betonung des ›Heartland‹ zugunsten des ›Rimland‹. Materiell und machtpolitisch relevant sei die Pufferzone zwischen dem ›Heartland‹ und den angrenzenden Meeren. Die Gefahr für eine Seemacht (USA) liege im Zugriff einer eurasischen Landmacht auf die Randzonen. Mackinders Formel war daher abzuändern. Spykmans auf das ›Rimland‹ gerichtete geopolitische Doktrin lautete: »Who controls the Rimland rules Eurasia, who rules Eurasia controls the destiny of the world.«

Geopolitik im Kalten Krieg

Die ›Rimland‹-Theorie fand ihren faktischen Niederschlag in dem noch im Zweiten Weltkrieg ausgehandelten Verträgen der USA mit Saudi-Arabien. Im geostrategischen Rahmen kam sie – als geographisch exakte Entsprechung zu Mackinders ›Heartland‹ – in den Paktsystemen der 50er Jahre (NATO, CENTO, ANZUS) zum Vorschein. Derzeit ist der im September 2021 – gezielt gegen die Weltmacht China – zwischen den USA, Großbritannien und Australien beschlossene Militärpakt (AUKUS), der den älteren, 1951 geschaffenen ANZUS-Pakt (Australien, Neuseeland, USA) überlagert bzw. ersetzt, der skizzierten Doktrin zuzuordnen.

In den amerikanischen Konzepten für eine Nachkriegsordnung und den daraus hervorgegangenen Institutionen (Bretton-Woods-System mit IWF und Weltbank, UNO) treten geopolitische Aspekte kaum hervor. Sie werden allenfalls erkennbar in der Doktrin weltweiten Freihandels sowie in dem antikolonialen Selbstverständnis der amerikanischen Außenpolitik. In den Jahren des Kalten Krieges trat diese ›idealistische‹ Dimension amerikanischer Außenpolitik hinter vermeintlicher geostrategischer Zweckmäßigkeit zurück, insbesondere in der Unterstützung und Fortsetzung des französischen Kolonialkriegs in Indochina.

In der Phase der Entkolonialisierung (zeitlich markierbar mit der Unabhängigkeit Ghanas 1957) traten die USA mit einem vor allem auf Afrika gemünzten Konzept des ›nation-building‹ (innerhalb der als unveränderlich dekretierten Kolonialgrenzen) auf den Plan. Das politologisch fundierte Konzept einer sich auf liberaler Wirtschaftsordnung erhebenden demokratischen Staatsordnung diente nicht nur als Gegenentwurf zu den kommunistisch inspirierten, von sowjetrussischer Seite instrumentalisierten Befreiungsbewegungen. Es sollte zugleich die nach Unabhängigkeit strebenden Territorien in einen vom amerikanischen Interesse her definierten liberalen Weltmarkt einordnen.

Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht des ›Großdeutschen Reiches‹ zerbrach die Anti-Hitler-Koalition in den Jahren 1947/48 an den machtpolitischen, ideologisch zugespitzten Konflikten über die Kontrolle des Kontinents, insbesondere über das Potential des besiegten Deutschland. Der neue Globalkonflikt mündete in den mit teils herkömmlichen, teils ›modernen‹ geopolitischen Instrumenten (komplexe konventionelle und nukleare Waffensysteme, Militärbündnisse) und geopolitischen Zielen (Besetzung von politisch-militärischen Operationsbasen, Sicherung von Energiequellen, Besetzung von geostrategischen Positionen) ausgetragenen Kalten Krieg.

Im Zeichen des atomaren Patt entzündete sich der Ost-West-Konflikt – außerhalb des geteilten Deutschlands und Europas – nur in Stellvertreterkriegen in der ›Dritten Welt‹. Oberhalb dieser Konfliktebene gipfelte die Rivalität der beiden Weltmächte – vierzehn Monate nach dem Mauerbau in Berlin – in der Kubakrise 1962. Von dieser hochbrisanten – auch geopolitisch zu deutenden – Episode sowie dem ebenfalls ab 1962 eskalierenden Vietnamkrieg abgesehen, fungierte das machtpolitische Arrangement in Europa– begrifflich überhöht im Zeichen des ›bipolaren Systems‹ – im Kalten Krieg als eine Art Friedensgarantie. War die Hegemonie der östlichen Weltmacht in ganz Osteuropa auf reinen Zwang gegründet und somit stets labil, blieb die ›sanfte‹ Führungsrolle der USA ungeachtet des Vietnam-Protestes im wesentlichen unangefochten. Die von der amerikanischen Kulturrevolution inspirierte ›68er‹-Bewegung trug langfristig sogar zur Festigung der amerikanischen Kulturhegemonie – und Machtposition – bei.

Das »bipolare System« zerbrach in den 1980er Jahren. Geopolitische und geostrategische Faktoren bedingten maßgeblich den Zusammenbruch der Sowjetunion (Einmarsch [29.12 1979] und Scheitern in Afghanistan, ökonomisch-technische Herausforderung durch die »Strategic Defense Initiative« [SDI] des US-Präsidenten Ronald Reagan ab 1983). Mit dem Fall der Mauer, dem Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums, mit der aufgrund der deutschen Wiedervereinigung forcierten Gründung der EU sowie mit dem rapiden (Wieder-)Aufstieg Chinas zur Weltmacht trat die Weltgeschichte in eine neue Epoche ein.

Geopolitische Perspektiven anno 2022

Seit Beginn des Ukraine-Krieg ist der Begriff ›Geopolitik‹ in aller Munde. Zum populären Thema historisch-politischer Analysen wurde er bereits, als Wladimir Putin anno 2005, fünf Jahre nach seinem Machtantritt, den Untergang der Sowjetunion als »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnete. Mit seiner Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 kündigte er die Abkehr von einem Kurs der weltpolitischen Kooperation mit dem Westen an. Er begründete dies mit der auf dauerhafte Schwächung Russlands gerichteten Politik des Westens unter Führung der USA, wie sie durch die Ostausdehnung der NATO sowie durch die – völkerrechtlich fragwürdige – Intervention der NATO gegen Serbien im Kosovo-Konflikt 1999 manifest geworden sei.

Ein Jahr später, im August 2008, ließ Putin Panzer in Georgien einrollen, nachdem der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili – in völliger Fehlwahrnehmung der Machtverhältnisse – und naivem Vertrauen auf NATO-Unterstützung an der Grenze zu dem 1990 mit sowjetischer Unterstützung abgefallenen südlichen Ossetien einen Angriff riskiert hatte. Seither befindet sich das russische Traumland Georgien in Gefahr direkter Annexion. 2017 besetzte die vom Selbstverständnis her gekränkte, noch immer als geschwächt geltende Großmacht Russland die seit Katharina II. d. Gr. in russischem Besitz befindliche Krim mit der Schlüsselposition Sewastopol, dem Haupthafen der russischen Schwarzmeerflotte.

Die Behauptung der amerikanischen Position im »euroatlantischen Raum« (bis zum Bug, nicht bis Wladiwostok) – so Zbigniew Brzezinski (1928-2017) in seinem Buch The Grand Chessboard 1997 – war das Ziel hinter der Osterweiterung der NATO in der Ära Clinton, wodurch die 1990 zwischen Präsident Bush Sr. und Präsident Gorbatschow – im Blick auf die noch bis Dezember 1991 bestehende Sowjetunion – de facto getroffene Übereinkunft negiert wurde. Frankreich, für eine eigenständige Rolle gegenüber den USA zu schwach, wies Brzezinski die Kontrolle Deutschlands zu. In Bezug auf Russland bezeichnete er die Ukraine – neben dem Kaukasus – als geopolitischen Angelpunkt.

Brzezinski, geboren als polnischer Diplomatensohn in Warschau, konnte sich – durch die maßgeblich von ihm inspirierte amerikanische Rolle in Afghanistan vor und nach der sowjetischen Intervention 1979 – einen hohen Anteil am Zusammenbruch des Sowjetimperiums zuschreiben. Nichtsdestoweniger warnte er später – nicht anders als der andere Realpolitiker Henry Kissinger – angesichts der durch den »Euro-Maidan« und den Machtwechsel in Kiew 2014 ausgelösten Kämpfe in der Ostukraine – vor einer unbedachten Herausforderung Russlands. Er empfahl »ein ähnliches Arrangement wie jenes zwischen Russland und Finnland, das seit Jahrzehnten für Stabilität und Frieden sorgt.« (Spiegel-online, 29.06.2015, 13.16 Uhr https://www.spiegel.de/politik/ausland/interview-mit-brzezinski-usa-russland-im-kalten-krieg-a-1040744.html).

Bei seinem 24. Februar 2022 an mehreren Fronten – von Norden, Osten und Süden – eröffneten Großangriff auf die Ukraine spekulierte Putin auf einen blitzkriegartigen Erfolg seiner »militärischen Spezialoperation«. Unabhängig von Dauer und Ausgang dieses – anders als die Kriege im zerfallenen Jugoslawien in den 1990er Jahren – für nahezu undenkbar gehaltenen Krieges hat das russische Vorgehen die geopolitische Landkarte Europas auf lange Sicht grundlegend verändert. Anstelle der von Putin angestrebten Zurückdrängung der USA hat der Krieg zur Festigung des atlantisch-europäischen Bündnisses und – durch den Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO – zur weiteren Schwächung der russischen geostrategischen Position in Europa geführt. Die – militärisch gestützte – Führungsrolle der USA in Europa ist stärker den je. Hingegen sind – nicht nur hinsichtlich der Blockade von Nordstream 2 – die vielerorts mit Misstrauen und Ablehnung verfolgten deutschen Sonderbeziehungen zu Russland offenbar dauerhaft beendet. Damit ist die Position Deutschlands innerhalb EU-Europas erkennbar gemindert.

Was die EU betrifft, so stellt sie – ungeachtet der hinsichtlich des Ukrainekriegs demonstrierten Einigkeit – entgegen den Intentionen seiner Protagonisten noch keinen geschlossenen Machtkomplex dar. Zum einen liegt ein politisch eigenständig agierendes Europa entgegen aller Rhetorik nicht im Interesse der USA. Die Vereinigten Staaten stützen ihre Position in Europa – nicht nur im Rahmen der NATO – durch ein weitgefächertes System von Militärbasen. Außer ihrer Sonderbeziehung zu Großbritannien verfügen sie über starke Einflussmöglichkeiten in Polen sowie in den baltischen Staaten. Zum anderen verfügt die EU – außer kleineren bi- oder multilateralen Einheiten – über keine eigenständige Verteidigungsstruktur, sondern die Mitgliedstaaten – wiederum mit Ausnahme Frankreichs – sind auf den Nuklearschirm der USA angewiesen. Zum dritten steht als ständiger ökonomisch-politischer Unsicherheitsfaktor die Frage der Umverteilung innerhalb der EU im Raum. Der von der Brüsseler Zentrale betriebene Abbau noch fortbestehender Nationalstaatlichkeit könnte vor allem in Ostmitteleuropa – nicht allein wie derzeit seitens Viktor Orbáns in Ungarn – Renitenz bewirken. Völlig unklar bleiben – abgesehen von den jüngsten Beitrittszusagen an die Ukraine und Moldavien (aber nicht an Georgien) – die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die künftige Machtverteilung innerhalb der EU.

Innerhalb der EU – in einer speziellen Beziehung zu Frankreich – verfügte Deutschland, dank hoch entwickelter Wissenschaft und Technik und leistungsfähiger, exportorientierter Industrie, bis dato über eine Art halbhegemoniale Führungsposition. Wie lange diese – im Hinblick auf den Ukrainekrieg sowie auf die Beziehungen zum größten Handelspartner China – vorhält, steht offen. Als – bezüglich der Sozialsysteme sowie der unübersehbaren Defizite im Bildungssektor – gesellschaftlich und politisch schwächende Faktoren wirken in der Mittelmacht Deutschland die demographische Entwicklung, das Anwachsen der Alterspyramide und der unverminderte, politisch geförderte Einwanderungsdruck (›Migration‹), insbesondere aus dem islamischen Raum. Die Tabuisierung der Thematik – gerade im Hinblick auf die stets beschworene Integration – ist kennzeichnend für eine »grün« dominierte politische Klasse ohne historischen Weitblick.

Peter Brandt hat – in Kontrast zur vorherrschenden Sichtweise – in Globkult darauf hingewiesen, dass es sich in der Ukraine auch um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland handelt (Globkult v. 27.08.2022, https://globkult.de/politik/welt/2238-kein-stabiler-frieden-in-europa-ohne-russland). Zudem sind in der auf den Ukrainekrieg fixierten Wahrnehmung andere hard facts deutscher – und europäischer – Außenpolitik aus dem Blick geraten. Dazu gehört maßgeblich der – nicht nur auf den Fernen Osten beschränkte – neue Kalte Krieg zwischen den USA und China. (Dazu: H.A.: Der neue kalte Krieg, in: Tichys Einblick 02/2022, S. 20-24)

Vor diesem Hintergrund bringt der französische Publizist Michel Gurfinkiel die geopolitischen Aspekte des »heißen« Krieges in der Ukraine und der durch den Aufstieg Chinas geschaffenen Konfliktlage zu Bewusstsein. Im Blick auf die – nach fünfzig Jahren unerwartet erneuerte – Achse Russland/China spricht er von der potentiellen Herausbildung eines riesigen »heartland« und stellt die Frage, ob die Bündnissysteme des »globalen Westens« die Expansionskräfte eine solchen eurasischen Landmasse eindämmen können. (M. Gurfinkiel: Can the Rimland Contain China and Russia? The West is restoring the global strategic vision that gave it victory in the world wars and the Cold War, in: Wall Street Journal, July 29, 2022, https://www.wsj.com/articles/can-the-rimland-contain-china-and-russia-spykman-mackinder-eurasia-nato-aukus-quad-i2u2-middle-east-economy-technology-strategy-11659125573?st=g7vtax07crkuytn&reflink=article_email_share; siehe auch: Timothy Hopper: US And Russia’s Attempt To Rule The Heartland Of Greater Eurasia, in: eurasia review, Sept. 1, 2022, https://www.eurasiareview.com/01092022-us-and-russias-attempt-to-rule-the-heartland-of-greater-eurasia-oped/#comment-1063955)

In summa: Geopolitische Fakten und Momente erweisen ungeachtet der immensen Steigerung der militärischen Vernichtungspotentiale seit 1945, des veränderten Zeitfaktors im digitalen Zeitalter sowie des Ausgreifens der großen Mächte in den Weltraum ihre historische Wirkungsmacht. Der ›ewige Friede‹ (Immanuel Kant) mag im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit erstrebenswert und geboten sein, er bleibt angesichts der fortwirkenden antagonistischen Momente in einer multipolaren Welt ungesichert. »International systems are anarchic, theorists tell us, in that no component within them is fully in control,« schreiben Hal Brands und John L. Gaddis (in: The New Cold War. America, China, and the Echoes of History, in: Foreign Affairs vol. 100, 6 (November/December) 2021– https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2021-10-19/new-cold-war).

Derlei Einsichten in die Realitäten der »anarchischen« Weltordnung des 21. Jahrhunderts sind hierzulande noch immer wenig verbreitet.

 

Der obige Text ist die aktualisierte Version meines 2009 erschienenen Aufsatzes »Geopolitik – Zur Wiederkehr eines verloren geglaubten Begriffs im 21. Jahrhundert« (in: Iablis, 8.Jg. 2009)