von Heinz Theisen

Geopolitik zwischen Imperialismus, Universalismus und Nationalismus

Mit den westlichen Lockangeboten an die Ukraine und Georgien sah sich Russland in seiner Machthemisphäre herausgefordert, die Ukraine wurde gespalten, die Krim von Russland annektiert und die Sicherheitspartnerschaft zwischen Nato und Russland ruiniert. Der Krieg im Donbass hat über 13 000 Menschenleben gekostet. Die Zahl der Binnenvertriebenen wird auf 2,5 Millionen geschätzt.

Mit dem Aufmarsch russischer Truppen an den Grenzen der Ukraine will Putin entweder die Ukraine zurück in ein russisches Imperium holen oder zumindest Sicherheitsgarantien für die Neutralität der Ukraine und anderer Anrainerstaaten einholen. Die Ukraine rechnet er zur Einflusssphäre Russlands. Ähnliches gilt für Weißrussland, den Südkaukasus, die Moldau und einige kleinere orthodox geprägte Staaten des Balkans.

Ein Krieg wäre auch für Russland eine Katastrophe. Nach dem militärischen Sieg würde es einen verlustreichen Guerillakrieg erleiden, der zur inneren Zerstörung Russlands überleiten könnte – so wie der Krieg in Afghanistan zur Zerstörung der Sowjetunion überleitete. Für die Weltordnung würde die Einverleibung der Ukraine für lange Zeit das Ende globaler Gestaltungsansprüche und eine Rückkehr zur reinen Machtpolitik bedeuten.

Imperialismus und Universalismus

Hinter der Ukraine-Krise verbirgt sich ein Ringen um die Weltordnung, in dem der westliche Universalismus und die imperialen Ansprüche Russlands – in Ostasien auch Chinas – aufeinanderprallen. Die Ansprüche Russlands und Chinas auf ihre imperiale Stellung in einer multipolaren Welt wurden von Putin und Xi Jinping in einer gemeinsamen Erklärung unterstrichen.

Darin lehnen sie eine weitere Expansion der Nato ab und rufen das westliche Militärbündnis zur Abkehr von den Konzepten aus der Zeit des Kalten Krieges auf. Sie verurteilten auch das trilaterale Militärbündnis Aukus, welches die USA, Australien und Großbritannien zur Eindämmung Chinas geschlossen haben. Die Nato wird aufgefordert, »die Souveränität, Sicherheit und Interessen anderer Länder zu respektieren.« (Vgl. Der Spiegel online.de vom 4.2.2022. »Russland und China fordern gemeinsam Stopp der Nato-Erweiterung«)

Sie richten sich damit sowohl gegen den Universalismus des Westens auch als auch gegen nationalstaatliche Bestrebungen in ihren Einflusssphären. Über den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums entlang nationaler Grenzen, für Putin ›die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts,‹ ging Russland der freie Zugang zur Ostsee weitgehend verloren. Der Auszug der Ukraine hat die russische Position am Schwarzen Meer entscheidend geschwächt. Mit Odessa ging das Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum verloren.

Der westliche Universalismus beruft sich dagegen auf das im Völkerrecht normierte ›Selbstbestimmungsrecht der Völker‹, einer angesichts von geschätzt 10 000 Völkern endlosen Quelle für neuen Nationalismus. Demnach steht jedem Volk, unabhängig von seiner geostrategischen Lage, Religion und Geschichte ein Selbstbestimmungsrecht darüber zu, welchem Kulturkreis und Mächteverbund es angehören will.

Rücksichtnahmen auf die geostrategischen Interessen Russlands gelten demzufolge als Verrat am Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer, so dass der Westen der Forderungen nach einer Neutralisierung der Ukraine nicht nachzugeben gedenkt. Die Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts ihrer Völker wäre mit der Auflösung des Vielvölkerreichs Russlands identisch, so dass Russland separatistische Abspaltungsversuche wie die der Tschetschenen mit aller Härte unterdrückt.

Der Zerfall eines Vielvölkerstaates leitet – wie nach dem Zerfall Jugoslawiens – oft zu Bürgerkriegen über. Die Balkankriege der neunziger Jahre verliefen entlang der Vielfalt ihrer Ethnien und Religionen. Das Habsburger Reich und das Osmanische Reich sind an nationalistischen Ansprüchen zerbrochen, was bis heute Chaos und Gewalt heraufbeschwört.

Das Einheitsgebot des Nationalstaats neigt – sofern es nicht föderal untergliedert wird – zur Unterdrückung der Vielfalt nach innen. In Istanbul 1914 waren noch 22 Prozent der Bevölkerung Christen, im Nationalstaat Türkei liegt ihre Zahl heute unter einem Prozent. Auch die als Nationalstaat gedachte Ukraine diskriminierte Minderheiten, Russen vor allem im Osten oder die 150 000 Ungarn im Westen.

Aus der multipolaren Perspektive Moskaus und auch Pekings ist die Nichtanerkennung ihrer Einflusssphären gleichbedeutend mit dem westlichen Streben, die ganze Welt als westliche Einflusssphäre zu betrachten. Der Glaube an die Universalität westlicher Werte entstammt dem westchristlich-aufklärerischen Selbstverständnis. Gerade weil dies den gegenwärtigen Akteuren kaum bewusst zu sein scheint, sind sie unbewusst umso mehr von diesem Denken geprägt und vermögen die geokulturellen Strategien der Gegenseite nicht zu reflektieren. Insofern galten die EU- und Nato-Erweiterungen nicht als strategisches Kalkül, sondern als eine Selbstverständlichkeit. Aus der Perspektive Russlands wurde dies als eine neue Form des europäischen Imperialismus wahrgenommen. Gabriele Krone-Schmalz findet es seltsam, dass die Europäische Union Russland vorwirft, imperialistische Politik zu betreiben. (Gabriele Krone Schmalz, Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist, München 2017)

Die Darstellungen sind umstritten, aber westliche Politiker hatten während der Zeitenwende nach 1990/91 den Eindruck erweckt, die Nato nicht gen Russland erweitern zu wollen. In den neunziger Jahren war Russland verarmt und verunsichert. Es hatte ein Jahrzehnt zusehen müssen, wie eine osteuropäische Nation nach der anderen der EU und oder der Nato beitraten oder beitreten wollten. Die Gegenwehr setzte schon unter Jelzin ein, als er 1999 russische Truppen von Bosnien in das Kosovo verlegte, um die Interessen des verbündeten Serbiens zu stärken. (Tim Marshall, Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert, München 2021, S. 11f. )

Die Wiedervereinigung und die Nato-Mitgliedschaft Deutschlands beruhten auf Zugeständnissen der damaligen Sowjetunion. Danach kam es – aus russischer Sicht – zu einer immer weitergehenden Verletzung seiner Sicherheitsinteressen. Die Nato-Mitgliedschaft Polens war schon ein schwerer Schlag, die der drei baltischen Staaten wurde schon als unerträglich empfunden. Mit der 2008 in Aussicht gestellten ukrainischen und georgischen Nato-Mitgliedschaft hatte der Westen die rote Linie überschritten.

Obwohl Russland traditionell auch Ängste vor China hegt, sieht es dieses heute als das kleinere Übel an. Wie würden die USA reagieren, wenn China Kanada und Mexiko in sein Bündnissystem inkorporieren würde? Die Stimmen, wonach von der Nato keinerlei Gefahr für andere ausgeht, klingen angesichts der Interventionen der letzten zwei Dekaden unglaubwürdig. Auch die Rüstungsausgaben vor allem der USA zeugen von weltpolitischen Ansprüchen.

Die weltweiten Rüstungsausgaben betrugen nach den Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI im Jahre 2020 1.830 Mrd. US-Dollar. An der Spitze stehen die USA mit 738 Mrd. US-Dollar (das sind 40 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben). Sie liegen fast viermal höher als die Chinas (193,3 Mrd. US Dollar) und zwölf Mal höher als die Russlands (60,6 Mrd. US-Dollar). Rechnet man zu den Militärausgaben die von Verbündeten wie Australien, Japan und Südkorea, hinzu, entfallen zwei Drittel der globalen Militärausgaben auf ›den Westen‹. Unter den europäischen NATO-Staaten lag Großbritannien mit 61,5 Mrd. US-Dollar an der Spitze, gefolgt von Frankreich mit 55 Mrd. US-Dollar und Deutschland mit 51,3 Mrd. US-Dollar. Damit geben diese drei Staaten zusammen fast dreimal so viel aus wie Russland.

Russlands defensiver Imperialismus

Seit dem 18. Jahrhundert gehörten weite Teile der heutigen Ukraine zur russischen Einflusssphäre. Es kam zu weitverzweigten Verbindungen zwischen beiden Völkern. Aufgrund dieser Nähe hat die Ukraine für Moskau eine andere Bedeutung als etwa das Baltikum oder Polen. Dies gilt auch in sicherheitspolitischer Hinsicht. Russland nahm die von der Ukraine betriebene Schaukelpolitik zwischen Ost und West hin, solange diese nicht auf eine Nato-Mitgliedschaft abzielte.

Die Selbstbehauptung des riesigen Flächenstaates Russlands war in seiner Geschichte oft in Frage gestellt. Das aus europäischer Sicht anachronistisch wirkende Denken in Vorfeldsicherungen und Pufferzonen ist aus der Geschichte Russlands zu verstehen. Auch in Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan in Zentralasien unterhält Moskau Truppenstützpunkte. In Transnistrien, Abchasien, und Südossetien hält es das russlandorientierte Regime am Leben.

Schon auf dem Nato-Treffen in Bukarest 2008 wurde der Beschluss gefasst, der Ukraine und Georgien eine Nato-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Dies wertete Russland als direkte Bedrohung und beantworte diese in Georgien schon im August 2008 mit einer Intervention zugunsten russischer Separatisten in Südossetien und Abchasien.

Die EU wollte die Ukraine 2014 unterhalb der Schwelle einer vollen Mitgliedschaft so nahe wie möglich an die EU heranführen. Eine volle Mitgliedschaft wurde nur vorläufig ausgeschlossen, da die Ukraine noch nicht die Aufnahmekriterien der EU erfüllte. (Thomas Beck, Ukrainische Außenpolitik seit der Präsidentschaft Selenskyij – Balanceakt zwischen Russland und dem Westen, in: Martin H.W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hg), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2020//2021, Frankfurt/M 2021, S.781ff.)

Die Hauptursache für den zweiten Maidan-Aufstand war die Weigerung des Präsidenten Janukowytsch, ein ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Der nach Russland hin orientierte Präsident hatte dafür als Gegenleistung erhebliche Gasrabatte seitens Russland erhalten. Gemäß der machtpolitischen Logik Putins musste eine dauerhafte Westbindung der Ukraine verhindert werden.

Unter westlicher Vermittlung wurden in der Ukraine Neuwahlen vereinbart. Die Aufständischen gaben sich damit nicht zufrieden und verjagten den gewählte Präsidenten nach Russland. So falsch das Vordringen des Westens war, welches die bis 2014 geltende Neutralität der Ukraine zu zerstören half, (bis 2014 waren auch die Befürworter eines Nato-Beitritts klar in der Minderheit) so verhängnisvoll war die russische Reaktion darauf. Die Einverleibung der Krim und die von Russland unterstützten Kriegshandlungen in der Ostukraine, dem Donbass, führten zum definitiven Zerwürfnis der einstigen ›Brudervölker‹. Ein Zurück der Ukraine gen Russland ist seitdem nicht mehr denkbar. Da geopolitisch für die Ukraine kein Tor zum Westen offen steht, bleibt nur ihre Neutralität.

Bei der Annexion der Krim handelt es sich um eine Völkerrechtsverletzung – wie zuvor bei den US-Kriegen gegen Serbien oder gegen den Irak. Weltmächte setzen sich leicht über das Völkerrecht hinweg. Der Unterschied des heutigen Russland zum expansiven Zarenreich und zum Universalismus der Sowjetunion liegt darin, dass Russland sich nicht mehr in fremde Kulturen ausdehnen, sondern seinen slawisch-russischen Kulturkreis zusammenhalten will. Man könnte dies als defensiven Imperialismus beschreiben.

Putin – so Ivan Krastev und Stephen Holmes – träume nicht davon, Warschau zu erobern oder Riga wieder zu besetzen. Im Gegenteil sei seine Politik Ausdruck eines »aggressiven Isolationismus«, ein Versuch, den eigenen Kulturraum zu konsolidieren. Sie verkörpere auch eine defensive Reaktion auf die Bedrohung Russlands durch globale ökonomische Verflechtungen sowie auf die scheinbar unaufhaltsame Ausbreitung westlicher Normen. Putins Politik sei Teil eines weltweiten Widerstands gegen eine zu wenig regulierte Globalisierung. (Ivan Krastev, Stephen Holmes, Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Berlin 2019, 4. Aufl. S. 182f.)

Russlands aggressiver Isolationismus, verbunden mit imperialen Arrondierungen, rief bei der Nato den Willen zur Eindämmung Russlands hervor. Diese dann als Einkreisung empfundene Eindämmungspolitik ruft wiederum Aggressionen Russlands hervor. Krastev und Holmes können auch Chinas Politik defensive Elemente abgewinnen. Chinas wolle seine Vorrangstellung – anders als im Werteuniversalismus des Westens – nicht als Ausweitung von kultureller Dominanz verstanden wissen. Die schon legendäre Neue-Seidenstraße-Initiative schaffe Integration, Vernetzung und wechselseitige Abhängigkeit, ohne irgendwie auf Indoktrinierung über die Landesgrenzen hinweg zu setzen. Umgekehrt gedenkt China sich aber auch nicht zu verwestlichen. China verbindet die zahlreichen Vorteile einer Übernahme westlicher Technologien und sogar Konsummuster mit einer Zurückweisung westlicher Normen. (Ebd. S. 299f.)

Auch China soll durch das Aukus-Bündnis eingedämmt und – nach chinesischer Lesart – eingekreist werden. Die tragische Dialektik von Eindämmung und Einkreisung lag schon dem Krieg zwischen Großbritannien und Deutschland im Ersten Weltkrieg zugrunde. Die von Großbritannien als aggressiv empfundene Flottenpolitik des Kaiserreichs wurde damit begründet, sich aus der britischen Umklammerung befreien und mehr Zugang zur Rohstoffen erhalten zu wollen. Das schürte die Ängste in Großbritannien vor der Konkurrenz Deutschlands und trug zu dem als Präventivkrieg verstandenen Kriegseintritt Großbritanniens bei.

Die notwendige Selbstbegrenzung des Westens

Innerhalb der außenpolitischen Theorien überwiegen im Westen noch immer die multilateralen und globalistischen Vorstellungen von der ›Einen-Welt‹. Solche Phantasien lassen sich in der Realität nicht durchhalten, so dass es zu kruden Mischungen zwischen der Macht- und Interessenpolitik – etwa im Falle Saudi-Arabiens – und gesinnungsethischer Moralpolitik kommt. Diese verwirrt allerdings Freund und Feind.

Widersprüchlich zum Universalismus ist auch die fortdauernde Geltung der Monroe-Doktrin in den USA, derzufolge keine äußere Macht in die amerikanische Hemisphäre eindringen darf. In der Kubakrise waren die USA dafür sogar bereit, einen Atomkrieg zu riskieren. Diese Doktrin hätte zur Konzentration der USA auf ihre eigene Einflusssphäre überleiten sollen. Sie stünden viel besser da, wenn sie ihre Grenzen nach Süden geschützt und sich – statt um den Mittleren Osten – mehr um die Entwicklung Mittelamerikas gesorgt hätten.

John Mearsheimer und Samuel Huntington stellen dem globalen Hegemoniestreben eine Politik des Global Balancing gegenüber. (John J. Mearsheimer, The Great Delusion: Liberal Dreams and International Realities, Chicago 2018. Bis 2014 wäre alles in Ordnung gewesen. Für das Geschehen danach hält er den Westen für verantwortlich, weil dieser die Ukraine in seine Einflusssphäre habe einverleiben wollen. Vgl. als Überblick Heinz Theisen, Der Westen und die neue Weltordnung, Stuttgart 2017)

Huntington übertrug diesen Ansatz auf den Kampf der Kulturen. Nach dem Ende der ideologischen Systemkonkurrenz hatten sich die Auseinandersetzungen auf identitäre, oft religiös motivierte Konflikte verlagert. (Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wien, München 197, 4. Aufl.) Beide Denker sahen dementsprechend aus der kulturellen Zerrissenheit zwischen der West-Ukraine und der russlandorientierten Bevölkerung die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufziehen.

Unter der Ägide von Henry Kissinger und Richard Nixon herrschten in der amerikanischen Außenpolitik eine Zeitlang Vorstellungen von einer weltpolitischen Balance of Power vor, bevor sich diese in den nachfolgenden Regierungen wieder in universalistischen Ideologien verloren. Wie wichtig diese Balance of Power, verbunden mit einer ordnungspolitischen Zusammenarbeit der Großmächte gewesen wäre, zeigt sich nicht zuletzt in der westlichen Überforderung im Nahen Osten.

Für den Aufbau der Weltordnung wäre zunächst die Anerkennung der Realität gefordert. Daraus müssten Strategien abgeleitet werden, die eine für Freund und Gegner verstehbare Außenpolitik ermöglichen. Kissinger erinnert an die im Gefolge des Wiener Kongresses 1815 entworfene Machtbalance in Europa. (Henry Kissinger, Weltordnung, München 2014, S. 422ff.) In Bezug auf die Ukraine sprach er von »Finnlandisierung«, ein Begriff, der zu Unrecht oft negativ konnotiert wird. Sie hat Finnland den Frieden und der Sowjetunion die Gesichtswahrung ermöglicht. Der kulturellen Integration Finnlands in den Westen hat sie nicht geschadet.

Kulturelle Grenzen zwischen West- und Osteuropa

Die seit 1000 Jahren durch Europa verlaufende innere Grenze zwischen dem Westchristentum einschließlich Reformation und Aufklärung zu dem orthodoxen Kulturkreis spielte in den Erweiterungsüberlegungen keine Rolle. Die Orthodoxie ist aber aus der Abgrenzung zum Westen entstanden. Aufklärung und Reform gelten ihr keineswegs als Bestimmung der Geschichte, sondern als eine Form menschlicher Hybris.

Die EU hat sich kulturell und politisch mit ihrer Osterweiterung – bis in den orthodoxen Kulturraum hinein – übernommen. Profitieren kann sie hingegen von ihrer Offenheit im Falle Ungarns und Polens, die im Gegensatz zu dem Wertekanon des profanierten Westens noch moralische Grenzziehungen nach innen und physische Grenzziehungen für notwendig erachten. Aber auch die Offenheit gegenüber dem meist noch katholisch geprägten Mittelosteuropa ist paradox. Der Antiliberalismus in Polen und Ungarn wird vom nationalistischen Groll gegen die postnationale Europäische Union angetrieben.

Die Sicherheit Polens wie die anderer osteuropäischer Staaten wird von der Ukraine-Krise unberührt bleiben, solange Russland diese Staaten zur westlichen Einflusssphäre rechnet. Die kulturellen Grenzen Europas müssten daher gegenseitig anerkannt werden. Die Aufnahme des Baltikums in westliche Organisationen ergibt sich aus seiner kulturellen Zugehörigkeit zum Westen.

Die kulturelle Überdehnung der Europäischen Union resultiert vor allem aus den Übergang vom okzidental-westchristlichen in den orthodoxen und schließlich in den russischen Kulturraum. Das heute zersplitterte Nachjugoslawien hat im Zuge der Kriege und Sezessionen sieben neue Nationalstaaten hervorgebracht, die oft kaum selbstbehauptungsfähig und als Protektorate für die EU belastend sind. (Vgl. Heinz Theisen, Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen, Reinbek 2022.)

Auch das tief orthodox geprägte Rumänien hat sich nach der ersten Begeisterung über die aus Brüssel fließenden Gelder vom Westen abgewandt. Eine prowestliche Regierung wurde 2021 demontiert, zuvor hatte die antiwestliche Rhetorik stetig zugenommen. Im orthodoxen Bulgarien wurde ein russlandfreundlicher Präsident wiedergewählt. Auch das Russland zugewandte Serbien und andere Kleinstaaten Südosteuropas interessieren sich als Beitrittskandidaten zur EU nur für die Anbahnungsgelder. Die EU hätte sich auf die westlich orientierten Teile des Balkans – fraglos Kroatien und Slowenien – beschränken sollen. (Heinz Theisen Die Grenzen Europas. Die Europäische Union zwischen Erweiterung und Überdehnung, Opladen 2006)

Neutralisierung und Föderalisierung der Ukraine

Mit der Ukraine als Mitglied wäre die EU überdehnt und überfordert worden. Auch die Nato sollte ukrainische Beitrittswünsche definitiv ablehnen und sich auf die Sicherheit des westlichen Kulturkreises konzentrieren. Idealerweise würde die Abgrenzung zwischen der westlichen und der russischen Hemisphäre durch eine Pufferzone in der Ukraine abgefedert.

Die inneren Kulturkonflikte in der Ukraine hätten durch eine Föderalisierung abgefedert werden können, wie sie von Putin in Minsk vorgeschlagen, aber vom ukrainischen Präsidenten Selenskyi abgewiesen worden war. (Vgl. Elena Welytschko, Aussicht auf Frieden im Donbass mit der Steinmeier-Formel?, in: Wostok. Informationen aus dem Osten für den Westen, NR.3-4 2019, S. 112ff.) Eine Föderalisierung mit hoher Autonomie kulturell differenter Regionen wäre generell ein Weg, den Zusammenprall der Kulturen zu mäßigen. (Michael Wolffsohn, Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf, München 2015)

Statt sich – wie nach früheren Wahlen in der Ukraine – abwechselnd auf die russische oder europäische Seite zu schlagen und sich darüber gegenseitig zu zerreißen, hätten die Ukrainer einen Schritt zurücksetzen, in die Geschichte blicken und sich gemeinsam auf die Suche nach neutralen und föderalen Wegen begeben sollen.

Die Schweiz vermochte ihren multinationalen Staat durch die Gleichzeitigkeit von Neutralität nach außen und Föderalisierung nach innen zu sichern. Hätten sich die Deutschschweizer zu sehr nach Deutschland hin orientiert, wären die Romanen aus der Eidgenossenschaft ausgeschieden.

Die EU kann kein Nationalstaat, aber ein Imperium sein

Wir befinden uns – so formulierte es schon vor über zehn Jahren Peter Scholl-Latour – in der absurden Lage, dass die letzten Staatswesen der »weißen Menschheit«, die notfalls noch in der Lage wären, ein mächtiges Militärpotential gegen die geballte Wucht Asiens aufbieten zu können, einen »stupiden Bruderkrieg« untereinander austragen, unter Vernachlässigung ihrer gemeinsamen geostrategischen Interessen. (Peter Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang, Berlin 2009, S. 399)

Was bedeutet die Ukraine-Krise für Deutschland und die Europäische Union? Das heutige Deutschland will weder länger ein Nationalstaat, der für seine eigenen Interessen eintritt, noch ein verlässlicher Verbündeter in der EU und Nato sein. Mit seinem National-Globalismus setzt es sich zwischen alle Stühle. Mit seiner an globaler Klimaneutralität ausgerichteten Energiepolitik hat es sich in Abhängigkeit zu Russland gebracht. Gazprom deckt etwas mehr als die Hälfte des deutschen Erdgasbedarfs, den Bedarf an Steinkohle deckt Russland zu 45 Prozent, den an Erdöl zu mehr als einem Drittel ab. Ein ›Aus für Nord Stream 2‹, wie es die Außenministerin meint Russland androhen zu können, würde für Deutschland einen Energie-Blackout bedeuten. Die Prämissen deutscher Energie- und Außenpolitik haben uns auf einem neuen Sonderweg in ein Zwischenreich zwischen den Machtpolen dieser Welt geführt.

Bleibt die Hoffnung auf eine Neugestaltung Europas. Die Europäische Union ist weder ein Nationalstaat noch ein Imperium. Die EU kann als Nationalstaat über ihren 27 bestehenden Nationalstaaten nicht funktionieren. Eine einheitliche Form der Zugehörigkeit wird von der Vielfalt ihrer Nationen nicht mitgetragen. Die einheitliche Zugehörigkeit macht ihre Außengrenzen weiterhin zu Exklusionsgrenzen, wodurch immer neue Beitrittswünsche provoziert werden. Ein imperiales Ordnungsmodell müsse dagegen – so Herfried Münckler – auf eine Diversifizierung der verschiedenen Grenzlinien hinauslaufen. Imperiale Ordnungen hatten zumeist weiche Grenzen, an denen sich der Regulierungsanspruch des Zentrums allmählich verliere. (Vgl. Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den vereinigten Staaten, Köln 2005)

In einer defensiver agierenden Europäischen Union würden mehr Nationalstaatlichkeit nach innen und mehr imperiale Schutzmacht gegenüber außen gebraucht. Abgestufte Gemeinsamkeiten würden mehr Vielfalt nach innen und eine größere Einheit nach außen ermöglichen. Die Zukunft gehört dem großregionalen Zusammenschluss der Völker Europas.

Die Europäische Union wird sich nur über ihre Selbstbegrenzung nach Süden und Osten behaupten können. Insofern könnte mit der Gefahr auch das Rettende wachsen. Russland und die Europäische Union stehen gemeinsamen Gefahren gegenüber: dem Islamismus im Süden und einer alles erdrückenden Dominanz Chinas im Osten. Russland und Europa müssen sich gegenüber beiden Herausfordererkulturen gegenseitig ergänzen. Auch wenn die Chancen dazu auf lange Zeit verspielt worden sind, wird es dazu langfristig keine Alternative geben.

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