von Heinz Theisen

I. Verstrickung der Kulturen

Orient und Okzident sind, wie Goethe einst verkündete, in der Tat nicht mehr zu trennen. Sie haben sich sogar ineinander verstrickt, worüber oft ihre jeweils schlechtesten Seiten zum Durchbruch kommen. Die militärischen Interventionen des Westens zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die Instabilität des Orients in offene Gewalt und Chaos getrieben. Sie waren Ausdruck einer völligen Überschätzung der Universalisierbarkeit von Demokratie und anderer westlicher Werte. Wie wenig beide Kulturen miteinander kompatibel sind, zeigte sich schlaglichtartig als das – nach der Befreiung von den Taliban – frei gewählte Parlament Afghanistans umgehend die Scharia zur Grundlage jeder weiteren Gesetzgebung erhob.

Aber nicht einmal der Rückzug gelingt dem Westen. In das hinterlassene Machtvakuum stoßen umliegende Mächte wie Russland und die Türkei und der revolutionäre Islamismus des Iran, der Taliban und anderer Gruppierungen vor. Die Ausläufer Bündnispartner treiben auch längst in Europa ihr Unwesen.

Wie inkompatibel Religion und Politik beider Kulturkreise sind, zeigt sich mittlerweile vor allem an der Türkei. Hier dienten gerade freie Wahlen dem lange verdeckt operierenden Muslimbruder Erdogan dazu, die autoritär durchgesetzte Laizität des Kemalismus Schritt für Schritt rückgängig zu machen. Da er diese neue Machtergreifung des Islam mit formaldemokratischen Mitteln betrieb, mussten ihm die Bündnispartner aus der NATO-Wertegemeinschaft dabei auch noch zustimmen. Die Europäische Union unterstützt bis heute türkische Beitrittswünsche zur EU mit so genannten Anbahnungsgeldern und mit Schutzgeldern für die Nichtöffnung der türkischen Grenzen für Flüchtlinge nach Europa.

Die Instabilitäten der Region riefen neo-osmanische Ambitionen wach, ob in Syrien, Libyen, Armenien oder bis hin zu Gasbohrungen auf griechischem Staatsgebiet. Zu mehr als verzagten Protesten der EU reicht es nicht. Insbesondere der Flüchtlingsmagnet Deutschland ist darauf angewiesen, dass Erdogan seine Grenzschleusen nicht zu weit öffnet. In Libyen verfolgt die Türkei neben dem Zugriff auf dessen Ölfelder das Ziel, Europa in die Zange von Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen Osten und Afrika nehmen zu können.

Flucht und Terror aus dem Nahen Osten sind zu einer der größten Herausforderungen Europas geworden. Darauf gibt es keine gemeinsame Antwort der Europäer. Während die USA sich in der Zeit von Donald Trump zu einer Neuordnung ihrer Mittelostpolitik aufrafften, den Iran und seine Terror-Satrapen eindämmten und die Annäherung arabischer Staaten an Israel vorantrieben, favorisieren die Europäer weiter eine längst irreale Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israel und den Palästinensern, eine Appeasementpolitik gegenüber dem totalitären Iran und auch nach innen gegenüber dem Vordringen von Islamisten.

Verstrickung im Nahen Osten – Verkennung des Fernen Ostens

Der von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs in der Levante implantierte Nationalstaat fand nie Akzeptanz. Clan- und Stammesstrukturen sowie ethnische und konfessionelle Gemeinschaften standen quer zu ihm. Brutale Diktaturen waren die unvermeidliche Voraussetzung zu ihrem Zusammenhalt. Über die spätere Implantierung der westlichen Demokratie wurden Konflikte und Kämpfe der Konfessionen und Stämme erst recht vorangetrieben.

Die Demokratisierung Afghanistans und des Iraks sowie die Zerstörung Libyens haben zwar Despotien beseitigt, zugleich aber Anarchie und inneren Kriegen den Weg geebnet. Im Syrienkrieg offenbarte sich die ganze strategische Ratlosigkeit des Westens als dieser nicht einmal mehr wusste, ob er vorrangig die säkulare Despotie Assads oder den noch schrecklicheren ›Islamischen Staat‹ in der Levante bekämpfen sollte. Die vielbeschworenen ›Demokratischen Rebellen‹ entpuppten sich als Schimäre, als kleine Gruppen ohne Einfluss, die den Islamisten als Aushängeschilder für den Kampf gegen ›die Diktatur‹ dienten.

Wenn der Nato-Generalsekretär die Nato-Mitgliedschaft der Türkei mit ihrer Zugehörigkeit zur »westlichen Wertegemeinschaft« begründet (vgl. Neue Zürcher Zeitung v. 14.12.2020), sagt dies alles über die geistige Verfasstheit unserer Eliten. Die Mitgliedschaft der Türkei schwächt den Westen vor allem aufgrund weiterer Verstrickungen in den Nahen Osten. In Syrien bekämpft die Türkei kurdische Volksgruppen, die als vormalige Bodentruppen der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat gedient hatten. Nur durch den Rückzug amerikanischer Truppen aus den Gebieten der verbündeten Kurden wurde ein Zusammenprall der beiden größten Nato-Mächte verhindert. Nach ihrer Besetzung kurdischer Gebiete durften islamistische Söldner die Region brandschatzen, um eine Rückkehr geflohener Kurden auszuschließen.

Je mehr sich der Westen nach dem 11. September 2001 in den Nahen Osten verstrickte, desto mehr übersah er die wirtschaftliche und zunehmend politische Herausforderung Chinas. Ohne sich um humanitäre Aspekte zu kümmern, sucht China wirtschaftliche Beziehungen und Vorteile auszubauen. Politische Interventionen überlässt es dem Westen. Trumps ›America First‹ war ein gutes Konzept zur Eindämmung Chinas, aber es begründete keine westlichen Handelsbündnisse. Chinas ›lautlose Eroberung‹ ist oft noch nicht einmal als Problem erkannt worden. (Clive Hamilton, Mareike Ohlberg, Die lautlose Eroberung. Wie China die westlichen Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet, München 2020) Während die Europäer phantastische Green Deals entwerfen, belasten China und Indien die Welt mit der Hälfte des gesamten CO2-Ausstoßes. Statt über Zölle und Handelsrestriktionen gegenüber ökologischen Dumpingprodukten denken die Europäer über Einschränkungen für ihre Autoindustrie nach.

Da sich China zu einem totalitären Staat entwickelt hat, sollte sich der Westen ihm gegenüber politisch abzugrenzen verstehen, besser noch, eine Alternative zu ihm bieten. Stattdessen droht der Westen China nachzuahmen. Die faktische Unterdrückung der Meinungsfreiheit weist in diese Richtung. Auch gegenüber dem Fernen Osten wären statt Globalismus Abgrenzung und Koexistenz geboten. Die Angleichung der Kulturen in Richtung einer digitalisierten Weltmonokultur verringert die Möglichkeiten gegenseitiger Ergänzungen und intensiviert zugleich den Wettbewerb. Wenn die Chinesen ihre eigene Identität mehr gepflegt hätten, statt den westlichen Kapitalismus auf schlechte Weise nachzuahmen, wären die Auseinandersetzungen weniger konfrontativ. (So der Unternehmer und Kulturtheoretiker Peter Thiel im Interview mit Roger Köppel, in: Die Welt v. 26.12.2020) Die Verschiedenheit und Vielfalt der Kulturen gilt es dementsprechend nicht innerhalb einer Gesellschaft, sondern in der neuen Weltordnung zu fördern.

Der Islam verwirrt und spaltet die Europäer

Der seit den siebziger Jahren ansteigende Ölpreis finanzierte auch das Ansteigen des Islamismus, der seit der Machtergreifung Khomeinis 1979 zunächst die inneren Spannungen des Nahen Ostens sowohl zwischen schiitischen und sunnitischen als auch zwischen säkularen und integristischen Kräften vorantreibt. (Gilles Kepel, Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen, München 2018) Die Öl-Einnahmen ermöglichen es den Islamisten, über ihre Moscheen, Koranschulen und Waffen ihre Ideologie in der vordem eher säkularen Levante und zunehmend auch unter den Muslimen Europas voranzutreiben.

Die islamistische Verabsolutierung der Religion treibt auch die konfessionellen Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten voran, wodurch der von Samuel P. Huntington analysierte islamisch-westliche »Kampf der Kulturen« um den Kampf in den Kulturen erweitert wurde. Die empirischen Erhebungen sind beunruhigend. Islamistische Erzählungen sind attraktive Motive für die Verlierer der Moderne und gewannen daher parallel zu globalen Modernisierungsprozessen an Bedeutung. Neuere Erhebungen zeigen, wie über den Islamismus die muslimische Welt bezüglich Demokratie, Bildung und wirtschaftliche Lage noch weiter ins Hintertreffen geraten ist. (Vgl. Ruud Koopmans, Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020) Für Gewinner wie für Verlierer bleibt der Westen der Maßstab. Es gilt als religiöse Pflicht, ihn auf dem eigenen Territorium zu bekämpfen und bei Gelegenheit zu erobern.

Je nach historischem Kontext und Denkschule lehrt der Islamismus Zurückhaltung und Verständnis oder Härte und Intoleranz, mal Überzeugung durch die Kraft des Wortes, mal Unterwerfung durch Waffengewalt. Gerade aufgrund der Vielfalt seiner Methoden verwirrt und spaltet der Islam die Europäer.

Die weltanschaulich merkwürdige Sympathie der postmodernen Linken selbst für radikale Varianten des Islams erklärt sich aus der gemeinsamen Gegnerschaft gegen den unvollkommenen bzw. unreinen Westen, der in der Tat weder den utopischen Ansprüchen diesseitiger noch jenseitiger Heilslehren gerecht zu werden vermag. Hinzu gesellte sich die kulturmarxistische Annahme, dass es immer Unterdrücker und Unterdrückte gibt. Darüber erhielten Muslime eine Opferrolle, die selbst noch ihre Integrationsverweigerung und Intoleranz vor Kritik schützt.

Die Behauptung, der Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun, ist ähnlich sinnvoll wie die, dass der Stalinismus nichts mit Marxismus zu tun habe. Sie verhindert eine kritische Auseinandersetzung mit den religiösen Wurzeln der politischen Ansprüche. Ersatzweise werden die Boten für die Botschaft bestraft und mit der Diagnose der ›Islamophobie‹ Islamkritiker zu Kranken oder zu ›Rassisten‹ erklärt. Im Namen der globalistischen Ideologie von der ›Einen Menschheit‹ werden alle Übel dem erfolgreichen Westen in die Schuhe geschoben werden. Die Behauptung von Unterschieden gilt als ›Orientalismus‹ oder ›Rassismus‹, womit sich die One-World-Ideologie eine fast perfekte Immunisierung gegen jegliche Differenzierung gewährleistet.

Die Anti-Rassismus-Bewegung ist der Höhepunkt an Selbstverleugnung der westlichen Kultur, indem vorsätzlich Einzelvorkommnisse zum Systemmerkmal erklärt werden. Da sie mit konsequenter Verleugnung der Schlechtigkeiten anderer Kulturen einhergeht, gefährdet sie unsere Selbstbehauptung. Ehrenmorde, Clankriminalität und Islamismus werden aus dem Kolonialismus oder alltäglichen Diskriminierungen heraus erklärt.

Nur bei Sanktionen gegenüber Russland reicht es noch zur westlichen Gemeinsamkeit. Ausgerechnet gegenüber einem kulturell verwandten Land, mit dem eine Sicherheitspartnerschaft gegenüber dem Islamismus und China notwendig wäre. In seiner Appeasementpolitik gegenüber dem totalitären Gottesstaat Iran lässt Europa dagegen die USA – und die rebellierende Jugend des Iran - schmählich im Stich.

Die mangelnde Handlungsfähigkeit der Europäischen Union erzeugt ein Machtvakuum, welches fast naturgesetzmäßig neue Herausforderer anzieht. Diese nahen nicht mehr in Panzerreihen, sondern erweitern ihre Möglichkeiten kulturell über Zuwanderung und wirtschaftlich über den Welthandel. Anders als im Kalten Krieg sind die Europäer darüber gespalten, ob es diese Bedrohungen überhaupt gibt und wenn ja, wie sie auf diese reagieren sollen.

Dialektisch fast selbstverständlich trieben die ideologisierte Weltoffenheit und ihre Entgrenzungen dann neuen Nationalismus und Protektionismus hervor. Die Globalisten wollen – teils aus humanitären, teils aus wirtschaftlichen Motiven – eine noch engere Verbindung selbst mit dem Nahen Osten, dort Fluchtursachen bekämpfen, den Palästinensern zu einem eigenen Staat verhelfen, Flüchtlinge aufnehmen und den Islam als Teil des europäischen Regenbogens willkommen heißen. Im UN-Migrationspakt wurde Migration zum Menschenrecht und Offenheit für alle und alles zur Maxime erhoben.

Protektionisten wollen dagegen Europa vor den Islamisten, aber auch generell vor zu viel Migration schützen, Grenzen errichten und diese kontrollieren. Sofern sie an der Fähigkeit Europas dazu verzweifeln, fordern sie den Rückzug auf den Nationalstaat und seine Grenzen. Sowohl ein defensiver Nationalismus als auch ein ›Europa, das schützt‹ würde einen Strategiewandel vom Universalismus und Globalismus zu einer Politik der Abgrenzung und Koexistenz der Kulturen bedeuten.

II. Abgrenzung und Koexistenz der Mächte

Seine von ihm ausgehenden Entgrenzungen fallen heute migrationspolitisch, handelspolitisch und selbst ökologisch auf den Westen zurück. Mit Recht erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer, dass Migration über das Schicksal Europas entscheide. Es gelang ihm während der deutschen Ratspräsidentschaft aber nicht, eine Verständigung über die Grundsätze der EU-Migrations- und Asylpolitik zu erreichen. Seehofers Vorschlag sah eine umfassende Koordination für eine bessere Steuerung, die Entwicklung nachhaltiger legaler Wege für Schutzbedürftige und für Talente, Unterstützungsmaßnahmen, Außengrenzmanagement, Rationalisierung der Asylpolitik und wirksame Rückkehrpolitik sowie von der EU koordinierte Rückführungen vor.

Ungarn lehnte die Vorschläge ab, weil es keine Verpflichtung eingehen wolle, Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika aufzunehmen. Asylanträge sollten grundsätzlich in Hotspots außerhalb der EU-Grenzen verwaltet werden. Linke und Grüne lehnten die Vorschläge wiederum ab, weil diese eine EU-Politik der Abschreckung und Eindämmung von Menschen anstreben, sich für die Stärkung der EU-Außengrenzen aussprechen und sich an die fremdenfeindlichen Positionen der Visegrád-Staaten anlehnen.

Angesichts von so viel Unwillen zur Selbstbehauptung bleibt fast nur noch die Hoffnung auf nachträgliche Einsichten – nach den zu erwartenden Katastrophen. Die Corona-Pandemie könnte sich als Zäsur erweisen. In ihr wurde die Welt zum Opfer ihrer Entgrenzungen und Verstrickungen zu China. Die chinesische Regierung ließ wider besseres Wissen den Virus aus Wuhan in die Welt hinausziehen. Während China das Virus mit totalitären Methoden im eigenen Land in den Griff bekommen hat, nimmt sich der Westen selbst in Gefangenschaft. Taiwan, Südkorea, Japan und Singapur kannten ihre Pappenheimer und hatten die Grenzen zu China nach ersten Gerüchten umgehend geschlossen. Sie hatten auch keine datenschutzrechtlichen Vorbehalte gegen eine Corona-App.

In der weltoffenen Exportnation Deutschland durften Flüge aus China noch bis Mitte April ohne jede Auflage und Quarantänen landen. Kurzfristigkeit als Achillesverse demokratischer Regime zeigt sich im Fehlen jeglicher Prävention. Nicht einmal Schutzmasken für das medizinische Personal waren vorhanden. Und auch hier zeigte sich wieder der ideologisch bedingte Unwillen, rechtzeitig schützende Grenzen zu ziehen. Je weniger Schutz äußere Grenzen bieten, desto mehr wurden innere Grenzen bis hin zur persönlichen Bewegungsunfreiheit gezogen. Die mangelnde Krisen-Resilienz ist ein düsteres Menetekel. Auch hier bleibt nur die Hoffnung auf ein zumindest nachträgliches Lernen.

Die verspäteten Grenzziehungen enthalten Lehren, auf die Thilo Sarrazin aufmerksam macht. Die angeblich unaufhaltsame Globalisierungsdynamik habe sich sehr wohl als aufhaltbar erwiesen. Eine arbeitsteilige Gewinnung von Wissen und Warenproduktion sei möglich, wenn Grenzen für Menschen weitgehend geschlossen blieben. Auch die Kontrolle der Wanderung von Personen über Staatsgrenzen hinweg habe sich als möglich erwiesen. Gesundheitskontrollen an Grenzen galten nicht mehr als ›nationalistisch‹, sondern als Ausdruck legitimer Schutzbedürfnisse. (Thilo Sarrazin, Der Staat in seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart, München 2020)

Hinsichtlich der Migration sprechen Aufwand und Gefahr für den Einzelnen sowie die Kosten der Aufnahmegesellschaft gegen offene Grenzen. Nur mit staatlichen Grenzen – so Julian Nida-Rümelin – ließen sich der Primat des Politischen und Humanität langfristig behaupten. Kosmopolitische und humanitäre Perspektiven sprächen gegen eine Politik der offenen Grenzen. (Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Hamburg 2017)

Europas langsame Heimkehr in den westlichen Kulturkreis

Die ›hirntote‹ NATO (Emmanuel Macron) weiß im Nahen Osten nicht einmal zwischen Freund, Gegner und Feind zu unterscheiden. Hier wäre eine Politik des kleineren Übels gefordert, die zwischen autoritär-säkularen Regimen und dem revolutionären Islamismus unterscheidet. Die alte, immer noch gängige Unterscheidung von ›Demokratie oder Diktatur‹ führt schon begrifflich ins Chaos.

In einer multipolaren Welt braucht Europa weniger gute Beziehungen zum Iran als zu den USA. Die USA haben durch die Antithesen von Donald Trump zumindest wieder in Alternativen zu denken gelernt. Sein Rückzug vom Nahen Osten hat die gemäßigten arabischen Staaten gezwungen, sich untereinander und mit Israel zu arrangieren. Bis dahin hatten sie sich auf den Schutz der USA verlassen. Irans Kontermöglichkeiten bleiben eine Gefahr, indem es revolutionäre Islamisten vor allem gegenüber Israel in Stellung zu bringen versucht.

Die Überdehnung der Nato bis hin zu den Interventionen im Mittleren und Nahen Osten ist gescheitert und hat umgekehrt den Weg frei gemacht für das Vorrücken der anderen: vor allem des islamischen Kulturuniversalismus und des ökonomischen Imperialismus Chinas. Sobald der westliche Universalismus überwunden ist, kann die Nato sich auf die Eindämmung des Universalismus der Anderen konzentrieren.

Eine konföderierte, nach innen den Nationalstaaten mehr Souveränität und Vielfalt ermöglichende und nach außen handlungsfähige Europäische Union könnte eine Burg in einer multipolaren Weltordnung aufbauen helfen. In ihr müssen sich die Mächte auf ihre eigene Hemisphäre begrenzen und diese behaupten. Das ›globale Engagement‹ zeigt alle Zeichen von Überdehnung. Europas Vorfeldsicherung sollte nicht am Hindukusch, sondern im Mittelmeerraum, auf dem Balkan, in der Levante und in Nordafrika einsetzen: vor allem mit Hilfen beim Aufbau von Berufsausbildung, Infrastruktur und Produktionsstätten.

Strategiewandel vom Universalismus zu Neutralität und Koexistenz

Die Schweiz war im 16. Jahrhundert die größte Militärmacht Europas. Nach der Niederlage bei Mariagnano 1515 zogen sich die als unbesiegbar geltenden Schweizer zurück auf die Selbstbehauptung ihres Territoriums. In der Schweiz leben – wie in der Europäischen Union im großen – viele Sprachen und Ethnien zusammen, jahrhundertelang geeint zum Schutz gegen äußere Mächte. Mit ihrer aktiven Neutralität verbindet sie ihren Verzicht auf politische Einmischung mit humanitären Hilfestellungen. (Michele Calmy-Rey, Die Neutralität. Zwischen Mythos und Vorbild, Zürich 2020)

Eine Politik der Koexistenz ginge statt von der Relativität von der Inkompatibilität jedenfalls der westöstlichen Kulturen aus. Eine säkulare und liberale Wertordnung bildet keinen Regenbogen mit dem islamischen Fundamentalismus und dem chinesischen Totalitarismus. Während die Ideen von Universalismus und Globalismus Konflikte zwischen den Kulturen eher vorantreiben, könnte eine Politik der Koexistenz von Kulturen friedensstiftend wirken – wie bei der Koexistenz der Ideologien im Kalten Krieg. Mit autoritären Mächten kann man nach dem Prinzip Gegenseitigkeit kooperieren, mit totalitären Mächten lässt sich nur in Koexistenz leben, sofern zuvor deren Eindämmung gelungen ist.

Eine die eigene Kultur bewahrende Realpolitik müsste von den Einheits- und Gleichheitsutopien zur Differenzierung schreiten und zwischen kulturellen und zivilisatorischen Kategorien unterscheiden. Die drohende Verstrickung inkompatibler Kulturen gilt es in Zukunft zu vermeiden und stattdessen die Vernetzung von instrumentellen Funktionssystemen vorantreiben.

Eine Vernetzung des Wissens müsste vorweg allerdings auch innerhalb der Scientific Community praktiziert werden. Stattdessen dominieren in ihr selbstbezügliche Komitees von Gleichgläubigen, die anderen Gleichgläubigen Geld geben, eine unglaubwürdige und korrupte Struktur, die ein Denken in Alternativen etwa zum Klimawandel oder zur Corona-Pandemie unterbindet und spätere politische Widerstände provoziert. (Peter Thiel im Interview mit Roger Köppel, in: Die Welt v. 26.12.2020)

Auch in den internationalen Beziehungen gilt die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme. Während in Kultur, Religion und Politik Abgrenzungen zum Nahen Osten geboten sind, sind wissensbasierte Funktionssystemen strukturell universalistisch und vernetzbar. Die neue arabisch-israelische Kooperation über unterschiedliche Kulturen und politische Mächte hinweg könnte den Übergang vom Kulturalismus zu einer wissensbasierten Zivilisation einleiten, mit der die Bedeutung von Religionen und Nationen relativiert wird. (Heinz Theisen, Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation, Reinbek 2015)

III. Vernetzung von Funktionssystemen

Der Niedergang des Islam im Mittelalter wird auf den Sieg seiner Fundamentalisten zurückgeführt. Der Niedergang der Ausdifferenzierung durch die Entdifferenzierung von Religion und Politik wirkt bis heute nach. Während in der Renaissance die Wissenschaft in Europa enorme Fortschritte machte, kam die Forschung in der islamischen Welt praktisch zum Erliegen. Wissenschaft wurde weitgehend auf die Verehrung bewährten Wissens reduziert. (Bernard Lewis, Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vorherrschaft verlor, Bergisch-Gladbach 2020, SS. 114) Darüber war keine Anschlussfähigkeit an spätere industriegesellschaftliche Entwicklungen gegeben. Mit der wissensbasierten Weltwirtschaft erhält die islamische Welt heute eine zweite Chance.

Israel als Modell zivilisatorischer Selbstbehauptung

Das palästinensische Narrativ, wonach jedes Volk Anspruch auf einen eigenen Nationalstaat habe, verliert angesichts des Zerfalls der Nationalstaaten in ihrer Umgebung an Sinnhaftigkeit. Kurden und andere Volksgruppen könnten mit gleichem Recht eigene Staaten fordern, was die Region endgültig in einen Flickenteppich verwandeln würde. Das nationalistische Narrativ konkurriert auf selbstzerstörerische Weise mit dem islamistischen der Hamas. Palästinenser leben umso besser, je mehr sie sich mit dem hochentwickelten Israel einlassen. Dies gilt vor allem für die 1,6 Millionen israelischen Palästinenser und auch dort, wo die Fatah in der Westbank mit Israel diskret kollaboriert.

Eine den Nahen Osten besonders stark treffende Bedrohung ist die Ausbreitung von Wüsten, Trockengebieten und Steppen – bei gleichzeitig ansteigender Bevölkerung. Sie breiten sich jedes Jahr um eine Fläche aus, die ungefähr der Größe Deutschlands entspricht. Rund ein Drittel der globalen Anbauflächen musste in den letzten Jahrzehnten wegen Erosion aufgegeben werden.

Die Versteppung der Erde hat wenig mit Klimaerwärmung zu tun. Im Gegenteil beschleunigt ein hoher CO2-Gehalt das Pflanzenwachstum. Desertifikation geht nicht von der Luft, sondern vom Boden aus. Sie ist eine Folge der Überbevölkerung, wofür nicht der Westen, sondern die Bewohner dieser Länder verantwortlich sind. Schließlich treibt sie deren überschüssige Jugend nach Norden.

Der israelische Schriftsteller Chaim Noll sieht eine Tragödie unserer Tage darin bestehen, dass dem Westen technische und wissenschaftliche Möglichkeiten gegeben sind, um die Wüstengebiete der Erde in ein zivilisiertes, lebensfähiges und mit moderner Infrastruktur versehenes Ambiente zu verwandeln. Millionen in Lager lebenden Menschen könnten erträgliche Lebensumstände verschafft werden. Bisher verharren die meisten Wüstenstaaten aber in starren, innovationsfeindlichen Strukturen oder fallen sogar in Bürgerkriege zurück.

Auf die Bedrohung durch die Wüste gebe es – so Chaim Noll – zwei Antworten: Flucht oder Widerstehen. Neben den Landschaften der Versteppung und Desertifikation stünden hunderte Projekte bereit, Wüsten zu bewässern und sie für Menschen bewohnbar zu machen. Technologien, die die Segen der Wüste – weite Räume, Sonnenenergie, fruchtbare, mineralhaltige Böden, unterirdische Gewässer – für die Völker der Region in praktische Hilfe verwandeln könnten, wurden längst entwickelt und zeitigen erstaunliche Wirkungen. Die Annäherung arabischer Staaten an Israel werde eine enge Kooperation in der Wüstentechnologie zur Folge haben, zwecks Schaffung von Infrastruktur und Bewässerungssystemen, beim Pflanzenanbau und in der Städteplanung. (Chaim Noll, Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen, Leipzig 2020. S.677ff.)

Jedenfalls aus zivilisatorischer Perspektive sind Kulturen nicht gleichwertig. Im Jahr 2017 meldeten die fünf arabischen Länder Irak, Palästina, Jemen, Syrien und Jordanien zusammen neun hochkarätige Patente an. Aus Israel kamen mehr als zweihundertmal so viele. Israel kann seine Existenzberechtigung im Nahen Osten schon aus seinen zivilisatorischen Leistungen ableiten. Allerdings sind – im Gegensatz zu Europa – in Israel diese Kompetenzen mit Wehrhaftigkeit zur Bewahrung ihrer Voraussetzungen verbunden.

Ausblick auf ein westöstliches Brain Circulation

Während sich die Eliten des globalen Südens weiter in korrupte Machenschaften oder in Konflikte um Ressourcen verstricken, wollen sich junge Emigranten mit der Weltzivilisation vernetzen. Dieser Brain Drain bietet jedoch keine Lösung, sondern stellt selbst schon zwischen Südost- und Westeuropa ein gravierendes Problem dar. Während es den Westen im Erfolgsfall bereichert, schwächt es den Aufbau Kroatiens. (Tado Juric The contemporary migration of Croats to Germany, in: Hans Hobelsberger (ed.) Social Glocalization and Education, Opladen 2021, S. 323)

Statt eines Brain Drain bräuchte die Welt ein Brain Circulation, in dem nicht nur wie bisher 20 Prozent der Migranten nach Hause zurückkehren. In einem abgestimmten Austausch über Grenzen hinweg müssten Geld und Knowhow zirkulieren lernen. Bevor wir uns in Hoffnungen auf einen neuen Ausgleich zwischen globalen und lokalen Ansprüchen ergehen, müsste es innerhalb der westlichen Gesellschaften zum Ausgleich zwischen globalistischen Utopien und protektionistischen Rückzügen kommen. (Heinz Theisen, Brain Circulation as a precondition of glocalization, in; Hans Hobelsberger, (ed.) ebd., S. 317ff.) Daraus könnten dritte, gewissermaßen glokale Wege hervorgehen. Flüchtlinge können umso eher aufgenommen werden, wenn ihre Qualifizierung dann glaubhaft eingefordert dem späteren Wiederaufbau ihrer Heimat dient.

Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit fremden Kulturen wäre geistesgeschichtliche Bildung gefordert. Unter Europas Eliten kann sie nicht mehr vorausgesetzt werden. Im Gegenteil: Der an den Philosophischen Fakultäten vorherrschende postmoderne Dekonstruktivismus hat letztlich auch die westliche Kultur dekonstruiert. Der daraus hervorgegangene Kulturrelativismus hat die Grundlagen für ein globalistisches Einheits- und Gleichheitsdenkens gelegt. Seitdem gilt jede Differenzierung zwischen den Kulturen, das Nachdenken über ihre Grenzen und Möglichkeiten als inkorrekt, was fatale analytische Konsequenzen für die Integrations-, Entwicklungs- und Außenpolitik hat.

Wir müssen also mit einem Wiederaufbau von Begriffen beginnen, die besser begreifen helfen. Der Kulturphilosoph Johann Gottfried Herder hatte bereits vor 200 Jahren die Unterscheidung von Kultur und Zivilisation getroffen. Kultur sind Religion, Familie, Nation und andere kollektive Identitäten. Zivilisation meint wissenschaftliche, technologische und ökonomische Kompetenzen. In einer wissensbasierten Weltzivilisation sollten Hochschulen sich nicht länger den privaten Identitäten aller möglichen Minderheiten widmen, sondern Zusammenhänge lehren sowie individuelle Kompetenzen und Vernetzungen aufbauen. Die neuen Kommunikationstechnologien eröffnen technische Chancen auf die Zirkulation von Knowhow.

Für einen Paradigmenwandel bedarf es meist einschneidender negativer Vorerfahrungen. In diesem Sinne lassen sich auch erst aus den gravierenden Krisen des heutigen Nahen Ostens einschlägige Lernerfahrungen erhoffen. Kernenergie und alternative Energien, aber auch Fracking in den USA haben den Westen energieunabhängiger gemacht. Mit der Corona-Pandemie sind die Ölpreise ins Bodenlose gefallen. Bereits vor dem Preissturz im Frühjahr 2020 auf 15 bis 25 Dollar pro Fass waren deren Budgets stark defizitär. (Christian Weisflog, Die Ölkrise erschüttert den Nahen Osten, in: Neue Zürcher Zeitung v. 27.4.2020)

Die jüngsten arabisch-israelischen Verträge signalisieren den Paradigmenwandel vom Kulturalismus zur wissensbasierten Zivilisation. In den neuen Abkommen gelten nicht mehr Besitzverhältnisse über Heilige Berge und nicht einmal ein palästinensischer Nationalstaat als vorrangig. Die anvisierte Zusammenarbeit bei Landwirtschaft, Forschung, Tourismus und Terrorbekämpfung soll über gemeinsame Projekte erfolgen.

Doch weiterhin tobt im Nahen Osten der Konflikt zwischen denjenigen, die sich dem universellen Knowhow öffnen wollen und denjenigen, die den regressiven Rückzug auf sich selbst betreiben. Der Ausgang dieses Ringens wird für Europa Konsequenzen haben. Während Islamisten ihre Ausdehnung in die Sozialsysteme Europas hinein und schließlich dessen säkulare Kultur besiegen wollen, kämpfen andere für ihre Anschlussfähigkeit an globale Produkt- und Wissensströme.

Auf den Ausgang dieses Ringens sollte der Westen durch Bildungsvernetzung Einfluss nehmen und sich dabei jeweils auf die Seite der säkularen Muslime schlagen. Eine Schlüsselrolle in diesen inneren und äußeren Kulturkämpfen kommt den sich emanzipierenden Frauen des Nahen Ostens zu. Die Imperative einer wissensbasierten Wirtschaft passen nicht zu ihrer Unterwerfung unter patriarchale Werte und Strukturen. Die Geburtenrate in vielen nahöstlichen Gesellschaften fällt und trägt zu mehr Freiheit der Frauen bei. An vielen Hochschulen im Nahen Osten sind Frauen in der Mehrzahl, womit sich deren Ansprüche auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik ankündigen.

Westliche Genderaktivistinnen fänden bei der Integrationsarbeit in Europa und bei nahöstlichen Emanzipationsprojekten geeignete Felder für ihren Eifer. Ein New Deal von sich unterscheidenden und deshalb ergänzenden Kulturen böte noch eine Chance, den Niedergang des Westens über eine neue Rolle in der wissensbasierten Weltzivilisation aufzuhalten.