von Herbert Ammon
Wenn in diversen Regionen des Globus Kriege oder als ›Bürgerkrieg‹ klassifizierte, blutige Konflikte eklatieren, kommt es hinsichtlich deren weiteren Verlaufs nicht unwesentlich darauf an, wie die Regierungen, Medien und NGOs im Westen darauf reagieren. Ein jüngstes Beispiel ist der Krieg im Kaukasus, der im September 2020 mit dem Angriff Aserbaidschans auf die – nach einem zwei Jahre währenden Krieg und Vertreibung von 600 000 ›Aseris‹ 1994 von Armenien de facto angegliederte – Region Berg-Karabach begann. Ausgestattet mit modernstem Kriegsgerät – Drohnen aus der Türkei und Israel – wählte der aserbaidschanische Präsident Ilhan Alijew den politisch günstigsten Moment für den Revanchekrieg. Dieser endete nach sechs Wochen mit einer vollständigen Niederlage der militärtechnisch unterlegenen Armenier und mit einem am 10. November von Russland als ›Vermittler‹ durchgesetzten Waffenstillstand.
Dessen Vereinbarungen besiegeln die Gebietsgewinne Aserbeidschans, festigen die Position Russlands im Kaukasus und öffnen der Türkei einen Korridor durch Armenien zur turksprachigen ›Brudernation‹ am Kaspischen Meer. Verfügt Russland bereits seit 1992 in Armenien wieder über Militärbasen, so haben sich nach dem jüngsten Krieg, dem Putin über Wochen hin ungerührt zusah, die geopolitischen Gewichte im Kaukasus erneut zu seinen Gunsten verschoben. Angesichts der so geschaffenen Fakten befürchtet man nun auch in Georgien, wo anno 2009 der ›westlich‹ orientierte Präsident Micheil Saakaschwili fahrlässig einen Krieg mit Putin riskierte, den Verlust der prekären Unabhängigkeit und die erzwungene Rückkehr ins russische Imperium.
Unzählige Opfer, gefallene Soldaten und getötete Zivilisten, haben dieses Mal die Armenier zu beklagen. Brennende Häuser, die Flüchtlinge ohne Hoffnung auf Rückkehr selbst angesteckt haben, illustrieren den Fortgang der kaukasischen Tragödie.
Angesichts dieser Szenen stellt sich die Frage, warum während der vergangenen Wochen in Europa, insbesondere in Deutschland – außer eines schwachen Appells des Bundestags – von allgemeiner Entrüstung über Krieg und unschuldiges Leiden wenig zu spüren war. In den Medien okkupierte der amerikanische Wahlkampf und die Entrüstung über Donald Trump, der seine Niederlage nicht eingestehen will, die Seenotrettung im Mittelmeer sowie der islamistische Terror die Berichterstattung. Darüber geriet der Krieg im Kaukasus offenbar in eine Randlage. Dass in der Rede zum ›Volkstrauertag‹, in der Bundespräsident Steinmeier das Totengedenken über den nationalen Rahmen an alle Opfer von Hass, Gewalt und Krieg auszuweiten bestrebt war, jegliche Konkretion fehlte, mag in dem nunmehr universalen Anspruch des deutschen Trauerns begründet sein.
Zwar brachte Außenminister Heiko Maas Besorgnis zum Ausdruck und mahnte die Kriegsparteien zum Frieden. Davon abgesehen übte sich die Bunderegierung in Zurückhaltung. Es wird vermutet, dass Merkel ihr wackeliges ›Flüchtlingsabkommen‹ mit Erdogan nicht weiter gefährden will. Es mag offen bleiben, ob sich Merkel auch an Macron orientierte, der in all den Wochen nicht einziges Mal Frankreichs historische Rolle als westliche Schutzmacht der Armenier in Spiel brachte. Immerhin verhängte Macron ein Verbot der ›Grauen Wölfe‹, die im Lande Hass auf Armenier verbreiteten. Ansonsten allgemeines Schweigen im Westen. Die Erklärung ist leicht zu finden: Man will nicht riskieren, Erdogan – ungeachtet seines Zusammenspiels mit Putin – zu verärgern und die Militärmacht Türkei, noch immer Eckpfeiler der NATO im östlichen Mittelmeer, als Bündnispartner zu verlieren. Diskret übergeht man die Kooperation Israels mit Aserbaidschan, während Armenien aufgrund seiner geographischen und politischen Nähe zum Mullah-Regime im Iran nicht auf Sympathien rechnen darf.
An den realpolitischen Fakten kommt die Analyse des traurigen Geschehens nicht vorbei. Das Nichthandeln des Westens wird dadurch verständlich. Unverständlich bleibt das Schweigen all derer, die in jedem anderen Fall kriegerischer Gewalt als Mahner zum Frieden die Stimme erheben. Wo bleiben die Kirchen? Warum hüten sie sich vor Worten, die als Parteinahme verstanden werden könnte?