von Herbert Ammon
Eigentlich legt das Datum des 11. September 2001– nine eleven – Betrachtungen über den Weltzustand nahe, die über das bekannte Erklärungsschema Islamismus (oder islamischer Fundamentalismus) versus westlicher Liberalismus (oder liberales Wertesystem) hinausreichen. Mit einer Analyse, die das Ursachengeflecht von europäisch-westlicher Expansion und traditonsgebundener Kultur im 19. Jahrhundert, von archaischen Herrschaftsstrukturen und liberalen, nationalistischen oder sozialistischen Modernisierungsideologien im 20. Jahrhundert, sowie von geopolitischen oder weltpolitischen Rivalitäten nach dem Zweiten Weltkrieg auszuloten versucht, kommen wir den Ursprüngen der Schreckensbilder jenes Tages vor neunzehn Jahren fraglos näher.
Nichtsdestoweniger trüge eine solche historische Analyse nichts zur Behebung jener Zustände bei, die seit Jahren – Merkels deutsches Merkdatum 2015 – unter dem Kennwort ›humanitäre Katastrophen‹ das spezifisch deutsche Weltgewissen aufrühren. Derzeit sind es die Zustände auf der griechischen Insel Lesbos, wo Aktivisten unter den Flüchtlingen und/oder Migranten – im offenkundigen Zusammenspiel mit moralmonopolistischen NGOs – die Behausungen in ihrem Lager angezündet haben, just nachdem am Tag zuvor vor dem Berliner Reichstag 13000 Plastikstühle in Stellung gebracht worden waren. Seither geht die politisch-mediale Debatte in Deutschland nicht mehr primär um Corona, sondern wieder einmal um Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen (›Geflüchtete‹), diesmal aus Moria auf Lesbos.
Über die Zustände auf der Insel vor der türkischen Küste berichtet die frühere UNO-Mitarbeiterin Rebecca Sommer: »In Lesbos ist die Lage nach der Brandstiftung im Migrantenlager Moria angespannt. Die Einheimischen fühlen sich von den Migranten bedroht und von der Regierung übervorteilt. Und mittendrin sitzen NGO-Leute mit Rasta-Haaren, die Spendenaufrufe schreiben.« (https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/aus-aller-welt/report-aus-moria-wuetende-dorfbewohner-vor-inferno-kulisse/)
Als Wortführer humanitärer Hilfsaktionen tritt auf Facebook Thomas von der Osten-Sacken hervor, Journalist und Geschäftsführer der von der Roland Berger Stiftung ausgezeichneten, vor allem im kurdischen Irak tätigen Organisation Wadi e.V., Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit. Er stellte das von einem Moria Corona Awareness Team übermittelte Bild von auf einem christlich-orthodoxen Friedhof kampierenden Menschen ins Internet (s. auch: https://jungle.world/blog/von-tunis-nach-teheran/2020/09/eine-nacht-auf-lesbos). Er kommentierte das Bild wie folgt: »Heute ist 9/11. 80 Prozent dieser Menschen kommen aus Afghanistan. Man versprach ihnen damals (,) mit Taliban in ihrem Land aufzuräumen. Wäre es getan worden (,) müssten sie jetzt nicht in Europa neben Grabsteinen schlafen.«
Die zitierte Passage bedarf einer Interpretation. Offenbar versteht sich der committed journalist nicht als Pazifist, sondern als Protagonist militärischer, ›humanitärer‹ Interventionen. Wer eine solche Position vertritt, begibt sich auf das Feld militärischer Machtpolitik, mit all ihren Implikationen, politischen Ungewissheiten und moralischen Fragwürdigkeiten. Inwieweit es sich dabei um ›Realpolitik‹ – ein hierzulande verpönter Begriff – handelt, erscheint dabei als müßige Frage. Immerhin mag eine solche Haltung als respektabel gelten, im Sinne der angestrebten Friedensstiftung sogar als moralisch. Indes befreit das Konzept humanitärer Intervention nicht von moralischer Verstrickung in actu sowie vom banalen Risiko des Scheiterns.
Gerade die jüngere Geschichte des Landes am Hindukusch kann als Lehrbeispiel dienen. Als weitere Beispiele kommen etwa der ›dritte‹ Irak-Krieg gegen Saddam Hussein – Auslöser für den Dschihad des ›Islamischen Staates‹ – sowie die Folgen des Sturzes des Diktators Gaddafi in Libyen in Betracht. ›Humanitäre‹ Interventionen erfolgen – ungeachtet aller universalistischen Bekenntnisse – stets selektiv, was den Anspruch auf ethisch-moralische Lauterkeit zusätzlich in Frage stellt.
Vor derlei kritischen Überlegungen schützt politischer Moralismus. Mehr noch: Moralische Selbstgewissheit erfüllt die Seele mit kämpferischer Überlegenheit. Als auf Facebook Philipp Rohwedder, Förderer (›Standortpate‹) eines ›Bonner Bildungsfonds‹ bei der ›Bonner Bürgerstiftung‹, gegen das Engagement der NGOs sowie das dahinterstehende Konzept: globale Migration(en) – no borders – ›Menschenrecht‹ auf Einwanderung Zweifel anmeldete, tat der derzeit auf Lesbos weilende Osten-Sacken seine moralische Empörung kund: »PS. Ich werde manchmal gefragt warum ich mit Gestalten wie dem Rohwedder auf FB ›befreundet‹ bin. Genau darum: Um authentische Einblicke in die Abgründe jener Kloaken zu haben, die da sind, wo andere Leute das haben, was man früher Seele nannte.«
Rationaler Argumentation ist derlei Attitüde unzugänglich.Vergeblich verteidigt sich der attackierte Rohwedder mit Verweis auf seine stetige Hilfs- und Spendenbereitschaft. Da die Moralaktivisten über starken Rückhalt in der materiell gut ausgestatteten ›Zivilgesellschaft‹ sowie in der etablierten Politik verfügen, scheint eine offene Debatte über Abhilfe hinsichtlich der Zustände auf Moria – und/oder über die ›Migration‹ über das Mittelmeer – in diesem unserem Lande kaum noch möglich.