von Lutz Götze
und nicht alles, was zählt, kann gezählt werden. (Albert Einstein)
»Die Welt ist aus den Fugen; weh' mir zu denken, dass ich geboren ward, sie wieder einzurenken«, klagt Hamlet, und die Gegenwart bietet Anlass genug, dem Satz Glauben zu schenken. Weltweit wird massenhaft aufgerüstet, werden die Atomarsenale gefüllt, wächst die Zahl der Kriegstoten nicht nur in Syrien dramatisch, steigt die Zahl der Flüchtlingsströme und der Klimakatastrophen. Eine Reduktion der Atomraketen weltweit ist nicht in Sicht. Der letzte Atomwaffenbegrenzungsvertrag (INF) wurde von den Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet und stellte die erfolgreichste Abrüstungsvereinbarung der Großmächte aller Zeiten dar. Er ist inzwischen mehrfach gebrochen worden; Russen wie US-Amerikaner entwickeln neue ›kleine‹ Mittelstreckenraketen, die aber immer noch ein Mehrfaches der Hiroshima-Bombe an Vernichtungspotenzial bedeuten. Zudem sind neue Atommächte dazugekommen: Nordkorea, Pakistan und Indien.
Beim Klimawandel sieht es nicht besser aus: Jüngste Forschungen belegen, dass die Meeresspiegel weit schneller und dramatischer ansteigen als bislang behauptet und die Erderwärmung zunimmt. Doch in den verantwortlichen Gremien wird das Problem verdrängt oder gleich ausgespart, so auch in der Koalitionsvereinbarung der Christ-und Sozialdemokraten in Deutschland anno 2018. Der Wahn, es werde schon nicht so schnell und furchtbar kommen, wie Kritiker behaupten, wächst allerorten.
Woran liegt das? Ist es die grundlegende menschliche Neigung, unerfreuliche Dinge zu vergessen oder zumindest schönzureden? Oder auch Umweltkatastrophen abzutun, weil sie in fernen Ländern geschehen? Oder verängstigen immer mehr schlechte Nachrichten in immer kürzeren Abständen die Menschen derart, dass sie einfach weghören? Oder liegt es an den Diktaturen des Ostens – Russland und China vornean –, die die Probleme einfach leugnen oder sie dem Westen anlasten? Oder aber ist es die weltweit um sich greifende Ansicht, den Aussagen der Wissenschaften zu misstrauen und stattdessen lieber den eigenen Überzeugungen – die häufig nichts als Vorurteile sind – zu folgen? Oder ist es schließlich die wachsende Neigung, lieber den populistischen vermeintlichen Heilsbringern nachzulaufen, weil die dort verkündeten ›Wahrheiten‹ so leicht nachvollziehbar und dem Ego dienlich sind?
Existenzielle Sinnkrise des Westens
Das alles greift zu kurz, erklärt allenfalls Oberflächliches. Des Pudels Kern liegt anderswo. Es geht um eine Sinnkrise schlechthin, die die westlich-kapitalistische Gesellschaft insgesamt ergriffen hat. Es fehlt ihr an einem geistig-ethischen Fundament, von dem aus sie ihre Strategien, oder: drei Stufen darunter, ihre Taktiken planen könnte. Exemplarisch seien vier Ereignisse angesprochen: die Machtübernahme durch Donald Trump in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, das Brexit-Votum in Großbritannien, die nationalistisch-chauvinistischen Spielchen der Visegrád-Staaten, zumal Ungarns und Polens, und schließlich die monatelangen Bemühungen um eine Regierungsbildung in Deutschland.
Die Wahl Donald Trumps – vermutlich mit massiver Unterstützung durch Russlands Präsidenten Putin – hat vor allem verdeutlicht, wie leicht es möglich ist, eine vor sich hin taumelnde Bevölkerung mit markanten nationalistisch-chauvinistischen Sprüchen für sich zu gewinnen. US-Amerika hat, auch weit mehr als zweihundert Jahre nach seiner Gründung, kein einziges seiner innenpolitischen Probleme gelöst: die Rassenfrage und rechtliche Gleichstellung von Weißen und Schwarzen, die Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Gesetz, das Nord-Süd-Gefälle, die Stadt-Land-Unterschiede, das friedliche Zusammenleben der Bürger und damit die Gewalt im öffentlichen Raum wie zuletzt an der High School von Portland. Die Mehrheit der Menschen ist unverändert überzeugt, sie müsse ihre Probleme allein und, wenn nötig, mit der Waffe lösen, der Staat solle sich füglich zurückhalten und keineswegs ein Waffenverbot erlassen. Entsprechend instabil ist die Situation im Lande; vereinzelt ist Protest zu vernehmen.
US-Amerika hat über Jahre hinweg versucht, die inneren Probleme jenseits seiner Grenzen zu lösen: Einmarsch in den Irak, Unterstützung des terroristischen Wahabiten-Regimes in Saudi-Arabien und damit des islamistischen Terrors, Mauerbau an der mexikanischen Grenze, Guantanamo und andere Folterlager in Polen. Jetzt heißt die nationalistische Devise: ›America first‹: die Vereinigten Staaten wollen sich aus der Weltpolitik verabschieden, was sie natürlich nicht tun. Aber Trumps Ankündigung befriedigt die nationalistischen Spießer im eigenen Lande.
Großbritanniens Brexit ist im Grunde einem Irrtum entsprungen: Premierminister David Cameron wollte eine Zustimmung zu einem Verbleib in der Europäischen Union, freilich zu britisch genehmeren Konditionen. Stattdessen erhielt er eine Ohrfeige, vor allem deshalb, weil eine ganze junge Generation lieber Party feierte als zur Wahlurne zu gehen und damit alten Männern im konservativen Lager die Entscheidung über ihre eigene Zukunft überließ. Am Morgen nach dem Rausch merkten die Jungen, dass sie sich selbst um ihre Berufschancen in Europa gebracht hatten, und forderten eine Wahlwiederholung. Jetzt versucht Premierministerin Theresa May ziel-und konzeptlos, das Schlimmste zu vermeiden und noch einige finanzielle Hilfen für die Insel herauszuholen: peinlich und lächerlich zugleich. Ihr jüngster Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz war nichts als ein Armutszeugnis einer britischen Krämerseele!
Unerträglich und dem europäischen Projekt zutiefst abträglich sind die Taktiken der Visegrád-Staaten, allen voran Ungarns und Polens. Ungarns Regierungschef Orban träumt von einem magyarischen Großreich, errichtet Zäune gegen Einwanderer und verunglimpft Minderheiten. Polens neuer Ministerpräsident Morawiecki verteidigt die Absurdität seiner Regierung, größter Nettoempfänger in der Union zu sein und zugleich keine Flüchtlinge aufzunehmen. Faktisch hat er die Dritte Gewalt, die Judikative, abgeschafft. Obendrein hetzt er gegen Juden, die vermeintlich Mittäter beim Holocaust gewesen seien, und unterstützt die Denunziationen von polnischen Bürgern gegen Landsleute, die sich im Ausland kritisch über den chauvinistischen Kurs der PIS-Partei äußern.
Bleibt das monatelange Gezerre in Deutschland um eine Regierungsbildung. Die Wähler hatten entschieden, nunmehr sieben Parteien im Parlament zu haben und insbesondere die AfD zu stärken. Daraus hätte konsequenterweise folgen müssen, dass die deutschen Sozialdemokraten als großer Wahlverlierer in die Opposition gingen –und sei es nur, um der AfD das Spiel zu verderben, stärkste Oppositionskraft im Bundestag zu sein und damit den Vorsitz im Haushaltsausschuss zu übernehmen. Vor allem aber hätte es der Partei die Chance geboten, sich innerlich zu erneuern und sich über ihre politischen Ziele klar zu werden, genauer: Visionen über den Tag hinaus zu entwickeln.
Das Gegenteil trat ein: Nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen verfiel die Partei in ein jämmerliches Katz-und Maus-Spiel, bewarf den innerparteilichen Gegner mit Schmutz und kungelte Posten in Hinterzimmern aus. Am Ende fiel nicht nur der Parteivorsitzende Schulz um, sondern die gesamte Parteispitze: Die Große Koalition sollte es nun doch werden! Die Bevölkerung, des bösen Spiels vollends überdrüssig, watschte die Partei mit einem historischen Tiefstand in der Wählergunst ab, zumal auch noch bekannt wurde, dass die SPD-Wirtschaftsminister Gabriel und Zypries Waffenexporte in aller Herren Länder genehmigt hatten, statt solche Lieferungen in Krisengebiete zu verbieten.
Was ist aus der einstmals großen Sozialdemokratischen Partei geworden? Sind nur die politischen Akteure – sämtlich allenfalls Mittelmaß – für dieses Desaster verantwortlich? Mitnichten: Es fehlt am Konzept, es fehlt am Denken, es fehlt vor allem an Visionen! Wofür soll diese Partei in ihrer Agonie eigentlich noch stehen?
Fallbeispiel: Wissenschaft
Die Wissenschaften, zumal die Geisteswissenschaften, bieten ein beredtes Beispiel einer eklatanten Fehlentwicklung, die wesentlich mit der Entwicklung und Durchsetzung der neuen Medien zusammenhängt. Albert Einsteins Motto zu diesem Beitrag über das Zählbare und das Zählenswerte hätte zum Nachdenken und zur Besinnung raten können, doch das Gegenteil ist eingetreten. Es wird gezählt, reglementiert, bürokratisiert, ökonomisiert, formalisiert und digitalisiert auf Gedeih und Verderb! Wolfgang Müller-Funk attestiert den modernen Wissenschaften mehrere Wahnvorstellungen und- ziele: Machbarkeitswahn, Homogenitätswahn, Evaluierungswahn, Formalisierungswahn und Perfektionswahn. Alles zusammen verändere die Wissenschaften fundamental und führe zu einem dramatischen Verlust an Erkenntnis sowie Qualität und produziere ›uniformes Denken‹.
Entscheidend ist dabei der Gedanke, alles sei machbar – unabhängig von seinem moralischen Wert – und messbar, also der Evaluierung anheimfallend. Gewaltige Datenmengen werden per Computer aufgetürmt, sodann von sogenannten unabhängigen Gutachtern per peer review evaluiert – damit vermeintlich objektiv beurteilt – und alsbald entschieden, ob ein Antrag förderungswürdig sei oder nicht. Wissenschaften oder Forschungsprojekte, die nicht messbar oder nicht adäquat digitalisiert und formalisiert sind, fallen durch das Raster. Müller-Funk vermutet zu Recht, Kants epochales Werk Kritik der reinen Vernunft würde heute, zur finanziellen Förderung einer Bewilligungsinstanz vorgelegt, bereits im Vorfeld scheitern, weil es nicht ordnungsgemäß formalisiert und digitalisiert präsentiert wurde.
Die ›instrumentelle Vernunft‹ von Max Horkheimer einst als Damoklesschwert der Moderne skizziert, waltet dadurch ubiquitär und wird zum Todesstoß für die Geisteswissenschaften: Was nicht von der Datenmasse des Computers erfasst wird, verfällt augenblicklich zu Müll; die allerorten verwaltete Welt würgt jeden Individualismus und jede Form der Kreativität ab; übrig bleiben Uniformität und Anpassung, für die die Kategorie des Denkens nicht mehr zutrifft. Es sei denn, der Wahnsinn treibe sein Unheil weiter: Denken sei nicht mehr eine Eigenschaft des Individuums, sondern des Kollektivs oder der Masse. Es gibt bereits heute Protagonisten dieser absurden Vorstellung.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Friedrich Hölderlins Vers aus der Patmos-Hymne gilt ebenso hier. Die einschlägige Literatur vermeldet unter dem Titel The Malicious Use of Artificial Intelligence, dass eine hochkarätige Forschergruppe der Universitäten Stanford, Oxford, Yale und anderer ein Moratorium für die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence) gefordert habe. Der Missbrauch etwa bei der Bilderkennung und -generierung mit der Konsequenz politischer Manipulationen und der Schaffung eines ›gläsernen Menschen‹ sei deutlich erkennbar, die Folgen für die Demokratie absehbar. Die Entwicklung der Forschungen zur ›Künstlichen Intelligenz‹ sei an einem Punkt angelangt, an dem man noch gemeinsam eingreifen könne, um Schaden abzuwehren. – Hat die Vernunft noch eine Chance?
Visionen
Das Wähnen in des Wortes doppelter Bedeutung – falscher Glaube einerseits und Hoffnung andererseits – prägt keineswegs nur die Wissenschaften der Moderne. Wahn ist vielmehr zum Charakteristikum der Gegenwart geworden: Vielen Zeitgenossen erscheint alles möglich und machbar, alles messbar, planbar und überprüfbar. Sie verdrängen oder leugnen den Gedanken, sie selbst seien bereits zu einem messbaren Objekt geworden.
Andere hingegen warnen vor den globalen Folgen: weltweite Umweltzerstörungen, Kriege rund um den Globus, gigantische Flüchtlingsströme, Menschenrechtsverletzungen allerorten. Sie wollen Erkenntnis als Grundlage und Voraussetzung weiteren Handelns, wollen Antworten auf ihre Fragen statt der allgegenwärtigen Schönfärberei. Das trifft allenthalben auf Misstrauen, weil es Machtstrukturen gefährdet. Der Zustand der Europäischen Union ist ein probates Beispiel: Sie ist durch das Einstimmigkeitsprinzips seit Jahren gelähmt, da immer mindestens ein Mitglied der Union mit seiner Stimme sinnvolles und energisches Handeln der Gemeinschaft verhindert. Derzeit sind es vor allem die Visegrád-Staaten, allen voran die diktatorisch regierten Länder Ungarn und Polen, die alles boykottieren, was ihnen nicht passt. Die Verhandlungen über den Haushalt, nach dem Ausscheiden Großbritanniens im Jahre 2019, sind ein erschreckendes Beispiel. Von europäischem Geist der Aufklärung ungetrübt, wird geschachert wie auf einem orientalischen Basar. Dabei tut sich insbesondere Polen hervor: größter Nettoempfänger, aber Verweigerer jeglicher Solidaritätsleistungen – etwa, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Europa wird dergestalt auf die lächerlichste Art von nationalistischen Wirrköpfen vorgeführt. Insgesamt wird deutlich, dass ein Großteil der Mitgliedsstaaten nicht reif für Europa ist und, von Anbeginn an, in Brüssel nur die Kuh sah, die es zu melken galt.
Was tun?
Ökonomen wie Hans-Werner Sinn warnen (FAZ 23.2.18) vor einem Brexit und seinen ökonomischen Folgen für die Gemeinschaft, besonders für die deutsche Wirtschaft. Seine Argumentation ist, ausschließlich ökonomisch betrachtet, zwingend. Er plädiert für ein Entgegenkommen, um die Briten bei einem zweiten Referendum für einen Verbleib in der Gemeinschaft zu motivieren.
Ich halte nichts davon, weil Europa kein Basar, kein Börsenverein oder ein Wirtschaftsimperium ist. Europa ist vielmehr eine Idee, gespeist aus den Grundwerten der Französischen Revolution Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit und fortentwickelt als Garant des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität. Würden auch fürderhin nur die Ökonomen das Sagen haben, wäre dies lediglich die Fortsetzung der bisherigen Politik, bei der stets mit Forderungen einzelner Länder die Gemeinschaft erpresst wurde. Europa als Ganzes wäre am Ende nicht mehr erkennbar, sondern ein Sammelsurium von Staaten, die sich die Rosinen aus dem europäischen Kuchen picken und ansonsten ihre nationale Hoheit betonen. Die Vision eines geeinten, friedlichen und starken Europas würde zur Farce verkommen. Es fehlt an Ideen und Visionen, die die Zukunft des Kontinents bestimmen sollten: Gelegentlich traut sich einer der Protagonisten, von einem ›Europa der zwei Geschwindigkeiten‹ zu sprechen, um sodann freilich, nach heftigen Protesten der Länder im Süden und Osten, schnell wieder auf Tauchstation zu gehen.
Was fehlt, ist die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann. Europa kann nur überleben, wenn als erstes das zutiefst undemokratische Prinzip der Einstimmigkeit beseitigt wird. Unanimität und Demokratie schließen einander aus. Demokratie heißt Mehrheitsentscheidung. Diesem Votum hat sich die Minderheit zu fügen. Anderenfalls muss sie die Union verlassen. Zweitens müssen, in aller Entschiedenheit, jene Staaten, die demokratische Grundprinzipien mit Füßen treten, aus der Union ausgeschlossen werden, derzeit also vor allem Ungarn und Polen. Androhungen, sie von finanziellen Förderungen auszuschließen, sind wirkungslos, wie die Vergangenheit bewiesen hat. Drittens aber sollten die Staaten der Union, die eine gemeinsame zukunftsweisende Politik in der Außen-und Innenpolitik, Kulturpolitik, Wirtschafts-und Finanzpolitik anstreben, den Austritt Großbritanniens zum Anlass nehmen, selbst die Gemeinschaft zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen. Andere Staaten können dazukommen, aber nur bei Erfüllung zentraler Forderungen wie: Gemeinsamer Haushalt, gemeinsame Wirtschafts-und Finanzpolitik, gemeinsame Sicherheitspolitik, erweiterte Kompetenzen für das Europäische Parlament und schrittweise Abgabe nationaler Souveränität, gemeinsames solidarisches Handeln und Aufnahme von Flüchtlingen.
Derzeit dümpelt Europa vor sich hin. Ein gemeinsames Handeln ist nicht in Sicht. Nur durch einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und einen Neuanfang hat Europa noch eine Chance.