von Herbert Ammon

Zweiter Teil

I

Durch eine Serie von Verträgen (von Maastricht 1992 bis Lissabon 2007) – in summa eine Art Ersatzverfassung – scheinen in Europa die alten, in Krieg und Zerstörung ausufernden Antagonismen zum Nutzen aller in Form eines ›Staatenverbundes‹ – eine Wortschöpfung des deutschen Bundesverfassungsgerichts – endgültig aufgehoben zu sein. Auf der Basis eines Wohlstand generierenden freien Marktes sind gemeinsame Institutionen sowie ein europäisches Rechtssystem – und Machtgeflecht – entstanden, die gegründet auf gemeinsame Werte und getragen vom Willen zu Konsens und Kooperation, dauerhaft Frieden und Freiheit in Europa sichern sollen. Von der ungeklärten Lage auf dem Balkan abgesehen, erscheint dieses Selbstverständnis der Europäischen Union zutreffend.

Cum grano salis. Die Einschränkung bezieht sich hier nicht in erster Linie auf die Kritik an der kontinuierlichen Ausweitung der gouvernementalen und legislativen Kompetenzen der EU-Kommission sowie an der technokratischen Praxis der Brüsseler Bürokratie, wohl aber auf die Folgen dieser Praxis. An erster Stelle ist der von den ›Europäern‹ gänzlich unerwartete Brexit zu nennen – Ausdruck des ›populistischen‹ Widerwillens einer Mehrheit geschichtsbewusster und machtempfindlicher Briten. Über Berechtigung und Qualität dieses Protests ist hier nicht zu urteilen, sondern das Faktum zu benennen: Große Teile der Bevölkerung in England und Wales traten als Störfaktor in einer vermeintlich idealen politischen Ordnung auf den Plan.

Widerstand gegen die politischen Konzepte und Wertvorstellungen der liberalen Eliten regt sich spätestens seit dem von Merkel und ihrem deutschen Führungszirkel eingeleiteten Flüchtlingsstrom. Es dürfte ein Irrtum der EU-Eliten sein, zu glauben, man könne den Widerstand der Osteuropäer, namentlich eines Viktor Orbán, gegen die multikulturelle Transformation ihrer Länder mit materiellem Druck und finanziellen ›Strafen‹ neutralisieren. Polen, Ungarn, Slowaken, Tschechen, zuletzt auch Österreicher verfügen über ein historisch begründetes Selbstverständnis, welches den von den liberalen (und ›grünen‹) Eliten gepflegten Vorstellungen globaler ›Weltoffenheit‹ entgegensteht. Wie die Eliten mit den ›rechtspopulistischen‹ Protesten gegen die anhaltende Einwanderung aus islamischen Ländern fertig werden wollen, steht auf einem anderen Blatt.

Mit dem Eklat um das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien ist – nach dem (vorläufigen?) Ende des Terrors im Baskenland – erneut ein weiteres, den EU-Eliten lästiges Problem ins Bewusstsein gerückt: die Existenz von Minderheiten und/oder Regionen, die geprägt von spezifischem historischem Bewusstsein, sich mit bestehenden Definitionen von Autonomie innerhalb der existierenden Nationalstaaten (hier im Sinne von nation states) nicht begnügen wollen und nach ›nationaler‹ Selbständigkeit streben. Die doppelte Ironie bei den Sezessionsbewegungen in Katalonien und in Schottland liegt darin, dass die Forderung nach Loslösung aus dem Staat maßgeblich von ›linken‹ Aktivisten unter Beschwörung ihrer Identität als ›Europäer‹ vorangetrieben wird. (Siehe: http://www.sueddeutsche.de/kultur/referendum-in-katalonien-spanien-ist-tot-1.3687854 )

II

Die Reflektionen über die politische Komplexität der globalen Wirklichkeit – oder umgekehrt über die Komplexität des Politischen – wären unvollständig ohne einen Blick auf die Lage der Dinge in Ostasien sowie in Südostasien zu werfen. Wie sind die Drohungen und Machtprojektionen des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un einzuschätzen? A propos: Wie passen Berichte über die mit der Produktion von Raketenwaffen verknüpften Beziehungen zwischen Nordkorea und Ägypten unter dem mit westlicher Einhilfe installierten Militärdiktator Abd al-Fattah as-Sisi ins Bild? Welche geopolitischen Ambitionen mit aufpolierten sino-marxistischen Doktrinen verfolgt die Han-chinesische Führung des formal kommunistischen China, dem unter marktkapitalistischen Bedingungen ein beispielloser Aufstieg, vergleichbar dem Japans in der Ära der Meiji-Restauration, zur Weltmacht – und zum mutmaßlichen Nachfolger der USA in der Mächtehierarchie – gelungen ist? Wie definiert Japan, das sich anschickt, seine militärische Selbstbeschränkung zu revidieren, seine Position im asiatischen Raum?

Die Liste der Fragen ließe sich hinsichtlich der südostasiatischen Länder, namentlich Vietnam und Indonesien, beliebig verlängern. Im Blick auf das von Überalterung gekennzeichnete Japan tritt allgemein die globale Bevölkerungsentwicklung – siehe Afrika im Vergleich zu Europa, siehe Lateinamerika im Vergleich zu den USA – als unberechenbarer Faktor im weltpolitischen Kontext vor Augen.

Ein weiterer Themenkomplex liegt in der mit der Etablierung des Islam in Europa verbundenen Frage nach der ›Wiederkehr der Religionen‹, genauer: nach den Auswirkungen der islamischen – türkischen, arabischen sowie (in bislang minderer Zahl) schwarz-afrikanischen – Immigration in Europa. Verfügen die säkularen, religiös indifferenten Gesellschaften Westeuropas – die postchristliche Kultur – überhaupt über ein tragfähiges Konzept von ›Integration‹? Welche politischen Konsequenzen zeichnen sich daraus im vergangenheitsfixierten Zentrum Europas ab?

III

Conclusio: Einfache Antworten auf die in der Komplexität des Politischen angelegten Fragen können hier nicht geliefert werden, so wenig wie Geschichtsphilosophie zur Erforschung historischer Komplexität geeignet ist. Damit kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Politische Entscheidungen – oder Nicht-Entscheidungen – entspringen inmitten eines komplexen Zusammenhangs von voraussehbaren oder eben nicht vorhergesehenen Handlungssituationen, die notwendig eine Komplexitätsreduktion bedingen. Sie bergen mithin stets – horribile dictu - ein Element des Dezisionismus, ein Aspekt, der auch in Max Webers Definition von Verantwortungsethik aufscheint.

Risiken sind nicht bis in jedes Detail hinein kalkulierbar. Über Erfolg oder Misserfolg – beispielsweise in der geglückten Befreiung der in der entführten Lufthansa-Maschine festgehaltenen Geiseln in Mogadischu im Oktober 1977 oder umgekehrt bei der missglückten amerikanischen Geiselbefreiungsaktion in Teheran anno 1980 – entscheidet zum einen das von fortuna abhängige Faktum, zum anderen post eventum die Geschichte. Entscheidende Voraussetzung für ›richtiges‹ Handeln ist indes eine eindeutige – wenngleich nicht zwangsläufig erfüllbare – Zielvorstellung, das Gegenteil jenes ›Sprungs ins Dunkle‹ der deutschen Reichsführung am Ende der Julikrise und in den Augusttagen 1914.

Handeln wie Nichthandeln sind Aktionsweisen des Politischen – im positiven wie im negativen Sinne – (siehe Zeitfenster, dort u.a. »Verfehlungen des Opportunen« ). Für beide Modi bietet die Geschichte hinreichend Anschauungsmaterial. Als beliebige Beispiele für ›richtiges‹ d.h. erfolgreiches Handeln, kommen das zielgerichtete ›Nichthandeln‹ eines Quintus Fabius Maximus Verrucosus Cunctator im Zweiten Punischen Krieg (218-201 v. Chr.) oder die Rückzugsstrategie eines Michail Kutusow gegenüber dem Invasor Napoleon in den Sinn, als ›richtige‹ Reaktion erscheint – im Rückblick – der Nato-Doppelbeschluss vom Herbst 1979. Als Beispiele für ›richtiges‹ Handeln, welches die Mitakteure und/oder Kontrahenten unter Zugzwang setzte und zum Erfolg führte, ließen sich in der deutschen Nachkriegsgeschichte der Moskau-Besuch von Bundeskanzler Adenauer im September 1955 oder die langfristig angelegte Ostpolitik von Willy Brandt sowie der von Franz-Josef Strauß anno 1983 eingefädelte Milliardenkredit an die marode DDR Honeckers nennen. (Natürlich wird diese Sicht der Dinge nicht bei jedem Leser auf Zustimmung treffen.) Ein hervorragendes Beispiel für erfolgreiche Komplexitätsreduktion samt Handlungserfolg war schließlich das 10-Punkte-Programm, mit dem Bundeskanzler Helmut Kohl nach dem Mauerfall im November 1989 den weiteren Verlauf der Dinge bestimmte, die ein Jahr später zur deutschen Wiederverereingung führten.

Als ein anderer deutscher Bundeskanzler, der mit seiner Weigerung, sich am Irak-Krieg 2003 nicht zu beteiligen, eine vernünftige Entscheidung traf, wäre Gerhard Schröder zu nennen. Für seine engen Beziehungen zum – offenbar risikobewussten – russischen Machtpolitiker Wladimir Putin wird Schröder allerorten gescholten, insbesondere von Protagonisten der Menschenrechte, die für das ›richtige‹ Verhalten gegenüber Putin ebensowenig ein Rezept haben, wie für den Umgang mit den gegenüber derlei Fragen immunen Chinesen. Schröders Kritikern fällt außer der Forderung nach mehr oder minder erfolgreichen Sanktionen keine andere Politik im Umgang mit der wiedererstandenen Großmacht ein – soviel zum viel geschmähten Begriff ›Realpolitik‹.

*

Für die Akteure der Politik – zuvörderst ›in diesem unserem Lande‹ – ginge es auf allen Ebenen um behutsames, von verantwortungsethischen Überlegungen geleitetes Handeln, um ein Handeln ohne einfache Erfolgsgarantie. In Konfliktfällen geht es um realistische, gleichwohl an ethische Maximen gebundene Entscheidungen. Noch einmal: Merkels ›Grenzöffnung‹ im September 2015 ist zwar als Komplexitätsreduktion zu qualifizieren, bedeutete aber – nicht anders als ihre Tsunami-Reaktion 2011 (›Energiewende‹) – das Gegenteil verantwortungvollen Handelns.

Für die am Politischen Interessierten und von politischen Entscheidungen Betroffenen, die sich oft mit dem Begriff ›Intellektuelle‹ schmücken, d.h. für diejenigen, die mit der Muße und dem Privileg zur Reflexion von Geschichte, Gesellschaft und Politik ausgestattet sind, geht es angesichts der komplexen Realität um distanzierte, differenzierende Wahrnehmung, um Erkenntnis und Darstellung der Wirklichkeit. Dazu gehört die Erkenntnis, dass im Hinblick auf die skizzierte Komplexität des Politischen die ideologische Scheidelinie zwischen ›links‹ und ›rechts‹ – die moralisch überhöhte Feinderklärung eines Carl Schmitt – nichts anderes ist als ein in Europa erfundender, ideologischer Faktor des Politischen. Das Fortbestehen der Dichotomie sowie deren politische Brisanz liefern hinsichtlich der komplexen Realität nur dürftigen Erkenntniswert.

 – zum ersten Teil des Beitrags