von Lutz Götze
›Siempre adelante con Evo‹ schreien die Parolen von Wänden und Mauern, als sich der Fremde, von Copacabana am Titicaca-See kommend, über üble Pisten und nicht zu Ende gebaute Vorstädte der bolivianischen Metropole La Paz nähert: ›Immer voran mit Evo‹, dem mythisch verklärten Präsidenten mit aymarischen Wurzeln. Vom armen Bauernsohn auf dem Altiplano ist Evo Morales 2006 zum bolivianischen Präsidenten aufgestiegen und erlebt jetzt, nach der Wiederwahl, seine zweite Amtsperiode. Er residiert, zumeist im alternativen Pullover, an der Plaza de armas im Zentrum der Millionenmetropole: Sitz des Parlaments und der Regierung, nicht aber Hauptstadt. Die bleibt unverändert, seit der Unabhängigkeit und Staatsgründung 1825, Sucre im Süden des Andenstaates.
La Paz ist Unikum und Moloch zugleich. Bienenwaben gleich, kleben die Häuser an den schroff aufstrebenden Bergen des Riesenkessels. Oft werden Teile der Häuser oder ganze Straßenzüge durch Erdbeben oder Erdrutsche nach tagelangen Regengüssen in die Tiefe gerissen. Oben, in El Alto auf viertausend Metern Höhe, wohnen die Indios, also die Armen; unten, auf wenig mehr als dreitausend Metern über dem Meeresspiegel, die Weißen, mithin die Reichen. Bolivien ist ein gespaltenes Land, ein Land mit zwei Gesichtern zweier vollkommen voneinander getrennter Gesellschaften: Las dos Bolivias. Wer in Cayacoto (›die steinige Erde‹ in der Sprache der Ureinwohner) wohnt, weiß nichts von El Alto und seinen Menschen. Umgekehrt ist es anders, denn als Putzleute der Oberschicht und Tagelöhner erfahren die Bewohner des Altiplano die Gegensätze hautnah. Evo Morales will diese unerbittliche Trennung überwinden und das Land einen.
Das erscheint dem Betrachter freilich wie die Quadratur des Kreises. Weiße und Mestizen- die Nachfahren der Verbindungen von Spaniern und Indios – einerseits und andererseits die indianische Landbevölkerung, von den Einwohnern Cayacotos als ›indigene Talibans‹ beschimpft, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Zwischen Arm und Reich findet ein Dialog allenfalls in Ausnahmefällen statt. Edgar Arrantia, Kulturminister im ersten Kabinett von Evo Morales, bestätigt diesen Eindruck, als wir ihn in seiner kleinen Galerie an der Calle Jaén – er ist jetzt wieder Maler wie früher – befragen: ›Die Probleme sind gewaltig, die Zukunft unsicher. Wer viel Geld hat, schafft es ins Ausland. Bolivien verscherbelt seine Reichtümer – Gold, Silber, Kupfer, Eisenbahnstrecken – an Privatpersonen oder Investmentgesellschaften in den USA, dem Nahen Osten oder Europa, an dubiose Briefkastenfirmen in der Karibik. Das will Evo verhindern, aber er kämpft gegen Windmühlen, zumal auch in seinem Kabinett Korruption und Vetternwirtschaft existieren sollen. Die Quellen solcher Informationen sind freilich dubios und können nicht verifiziert werden.‹
Ein Spaziergang durch Cayacoto – Diplomatenviertel und stacheldrahtbewehrte Residenzen der Oberschicht – und, am Folgetag, durch EL Alto – dreckstarrende Barrios der Armen und Landflüchtlinge in viertausend Meter Höhe auf dem Altiplano – verdeutlicht: zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben und, weit schlimmer, es auch nicht wollen. Unten herrschen Goldgräberstimmung und Partylaune, oben bittere Armut, sichtbar an schwere Lasten schleppenden Indiofrauen, Drecksbergen und unerträglichen sanitären Bedingungen. Unten feiern sie ausgelassen Karneval, oben kaufen sie am 24. Januar – ›Las Alasitas‹ -Tag der Wünsche – ihre Träume: Dollarscheine, ein Haus, ein Auto, ein Glückskoffer oder auch ein Universitätsdiplom: alles im Miniformat. Einmal erstanden, werden die Scheine Ekeko, dem Wohlstandsgott der Aymara, geopfert, damit die Wünsche Wirklichkeit werden. Frauen spenden auch gern Pacha Mama, der Urmutter aller Inka: Mit der Melone , dem steifen Filzhut, bedeckt, werfen sie Lamaföten in ein neu entstehendes Haus, auf dass sie schwanger würden und die heurige Ernte gute Früchte bringe. Vielleicht auch, um selbst ein Haus zu erwerben. Die Liste der Wünsche ist ohne Ende. Das ›Tibet Südamerikas‹, eben Bolivien, bleibt dem Fremden ein Rätsel.
Das Janusköpfige und deutsche Spuren
Bolivien ist reich. Es verfügt über enorme Schätze an Gold, Silber, Edelsteinen – den berühmten Brasilianita-Stein gibt es nur hier -, Öl-und Gasvorkommen; die Selva, das Tiefland, versorgt das Land mit allen Früchten und Nahrungsmitteln in reicher Fülle. Die Märkte in Sucre, Santa Cruz de la Sierra und La Paz quellen über von goldenen Papaya, bunten Mangos, Quinoa, Unmengen von Kartoffelsorten- Kenner behaupten, es gebe deren mehr als fünfhundert verschiedene Arten- , Bohnen und Gewürzen.
Bolivien ist gleichwohl das ärmste Land Südamerikas mit einem Bruttosozialprodukt von weniger als viertausend Dollar pro Jahr und Kopf der Bevölkerung, bei der Landbevölkerung noch einmal deutlich darunter. Ein Widerspruch? Leicht erklärlich. Der Reichtum des Landes steckt in den Taschen weniger plutokratischer Familien, die Minen und Agrarflächen ausbeuten, ohne nennenswerte Steuern zu bezahlen. Unter ihnen sind zahlreiche Patriarchen mit deutschen Wurzeln, zumal solche, deren Väter oder Vorväter geflüchtete Nazis waren. Der berüchtigtste unter ihnen war Hugo Bantzer, Diktator während der Siebzigerjahre, der Tausende seiner Gegner in Konzentrationslagern ermorden ließ. Eines der übelsten befand sich damals, als wir vor vierzig Jahren erstmals Bolivien bereisten, auf der Isla de la luna, der Mondinsel also, mitten im Titicaca-See. Gegenüber liegt die Isla del sol, vermeintlicher mythischer Ursprung der Inka und noch heute ein Touristenmagnet, weil Mama Occlu- Urmutter der Menschen des Altiplano- dort gehuldigt wurde.
Bantzers Polizeichef und ›Ausbilder‹ der Soldateska war damals Klaus Barbie: der Schlächter von Lyon, in Frankreich zum Tode verurteilt, in Bolivien frei herumlaufend. Genüsslich speiste er im Deutschen Club von La Paz, in dessen Vestibül die Büste von Reichspräsident Hindenburg prangte: im Jahre 1975.
Sucre
Bolivien ist ein gewalttätiges Land. In Sucre, der alten und noch immer ›diensthabenden‹ Hauptstadt, wird es unmittelbar evident. Nach der Staatsgründung in der ehrwürdigen Casa de Libertad im Jahre 1825 unter wesentlicher Beteiligung des Generals, der der Stadt den Namen gab, zerfiel das Reich und erlebte bis 1982 weit mehr als einhundertachtzig Staatsstreiche: Putschweltrekord. Auch heute noch fürchtet mancher Bürger, das Militär könnte ausrücken und den demokratisch gewählten Präsidenten beseitigen.
Angst, Terror und Morde kennzeichnen Boliviens Alltag. Der Karneval macht da keine Ausnahme. Der Umzug in Sucre strotzt vor Gewalt der Marschierenden; begleitet von dröhnender Blasmusik ziehen Vereine um die Straßen, werden von Kindern mit Rasierschaum aus Plastik-Maschinenpistolen besprüht, die Menschen prügeln sich, trinken Unmengen Bier und Whisky, brüllen chaotische Gesänge und urinieren öffentlich. Kein Frohsinn oder Heiterkeit ist dem Zug eigen, von politischer Satire wie beim Rosenmontag an Rhein und Ruhr oder dem Sambaglanz von Rio ist nichts zu spüren. Stattdessen Stumpfsinn in den Gesichtern, brutale Grimassen allerorten. Alkohol und verstärkter Koka-Konsum zeigen ihre Wirkung. Der Besucher wendet sich ab.
Ruhe und Faszination stellen sich erst im hoch über der Stadt gelegenen Indianer-Museum ein: herrliche Webereien der Jalqa, Yampara und Tinquipaya, Gesänge und Flötenspiel der Stämme, traditionelle Tanzbräuche der Aymara, Gold-und Silberschmuck, der vor den räuberischen Spaniern gerettet werden konnte.
Überhaupt Spanien: Die Konquistadoren haben seit 1532 in Alto Peru, Bolivien also, gehaust wie die Vandalen: goldgierige Raubgesellen, die endlich El Dorado gefunden hatten. Obendrein schleppten sie Krankheiten in das Land, die die indianische Bevölkerung in Scharen umbrachten. Viele andere fielen der Sklavenarbeit in den Minen zum Opfer. Spanien hat sich bis heute nicht für seine Verbrechen entschuldigt und die geraubten Schätze zurückgegeben: eine Schande für einen demokratischen Rechtsstaat.
Santa Cruz de la Sierra
Santa Cruz gilt für viele Bolivianer als größte Stadt des Landes, weil sie die zwei Millionen Einwohner in EL Alto – offiziell Stadtteil von La Paz – einfach ausklammern und nur die gut eine Million reicher Bürger des Regierungssitzes zählen. Santa Cruz, nahe der brasilianischen Grenze am Regenwald gelegen, ist ›boom-town‹. Ölverarbeitungsbetriebe, Maschinenbau, Nahrungsmittelindustrie und Edelsteinverarbeitung mehren den Reichtum. Die Stadt freilich ist unansehnlich. Selbst die Kathedrale an der Plaza de armas, errichtet im 19.Jahrhundert, ist ohne Reiz.
Die Regenzeit, obwohl dem Ende nahe, erlaubt keinen Ausflug in das Dickicht, nahe dem brasilianischen Pantanal. So machen wir uns auf den Weg nach La Higuera, wo die campesinos 1967 Che Guevara verrieten und an das Militär auslieferten, das ihn, nach tagelangem Verhör, ermordete. Seine letzte Forderung, zwei, drei, viele Vietnams zu schaffen, blieb uneingelöst.
Doch nach hundert Kilometern in strömendem Regen ist unsere Fahrt zu Ende. Bauern der Region haben die Straße mit gefällten Bäumen gesperrt; ein Durchkommen ist nicht möglich. Sie fordern versprochene Subventionen von der Regierung, die seit Monaten ausgeblieben seien. Unsere Sympathie mit ihren Forderungen stärkt erkennbar den Kampfesmut der Mehrzahl; gleichzeitig aber wirken andere unter den Bauern desillusioniert und verbittert. Von Evo erwarten sie nichts mehr; nur wenige Besetzer stehen noch zum Präsidenten. Bei zahlreichen Männern erkennen wir die charakteristische Koka-Backe: Ergebnis jahrelangen Kokakauens und Kokainverzehrs. Von Che wissen sie nichts. Enttäuscht kehren wir nach Santa Cruz zurück.
Fazit
Bolivien nennt sich seit 2010 stolz einen plurinationalen Staat. Zu Recht hatte Evo Morales damals erklärt, Bolivien sei eine multiethnische Gesellschaft, eine Gemeinschaft verschiedener indigener Völker: Aymara, Baure, Canichana und weitere dreiunddreißig Ethnien. Sie lieben einander selten, oft bricht offener Hass aus. Vor allem aber bestehen sie darauf, ihre je eigene Rechtsprechung zu praktizieren und das für alle gültige Recht der bolivianischen Verfassung nicht anzuerkennen. Das führt zu Gewalt. Lynchjustiz gegen Angehörige anderer Ethnien wird häufig praktiziert. Die Idee einer multiethnischen Gesellschaft wird so zur Farce, kreiert alltäglichen Terror.
Ob Evo Morales sein Ziel einer gerechten bolivianischen Gesellschaft erreicht, ist zweifelhaft. Zwar feiert ihn die Masse, zumal der Landbevölkerung, nach wie vor frenetisch. Mit markigen Sprüchen gegen das internationale Monopolkapital begeistert er sie. Doch gleichzeitig spielt er im globalen Ölgeschäft kräftig mit und straft seine eigene Umweltpolitik Lügen, wenn er ein gigantisches Staudammprojekt im Madidi- Nationalpark vorantreibt, das ein Weltnaturerbe zerstören wird und den Lebensraum der indianischen Urbevölkerung vernichtet. Auch seine Koka-Politik ist eher dubios.
Morales ist Getriebener und Antreiber zugleich. Er wird sein Werk nur dann vollenden können, wenn er die konsequente Unterstützung linker und demokratischer Kräfte im Lande und von außerhalb erhält.