Die Neue Weltordnung 100 Jahre nach der Oktoberrevolution
von Gernot Erler
I. Von der »Pax Americana« zur multipolaren Weltordnung
Weltordnungen neigen dazu, länger zu halten. Sie wandeln sich nach dramatischen Ereignissen. Die letzte länger bestehende Weltordnung währte 40 Jahre lang, von 1949 bis 1989, und entstand in Folge des 2. Weltkrieges. Diese vier Jahrzehnte waren geprägt von der Blockkonfrontation, vom Kalten Krieg und von einem atomaren Patt, dessen Abschreckungswirkung funktionierte. Das Spannungsverhältnis zwischen Osten und Westen war nicht ganz neu, es ging eigentlich schon auf die Folgen der Oktoberrevolution von 1917 zurück.
Diese bipolare Weltordnung endete in den Jahren 1989–1991 mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, ein Prozess, der als ›Sieg des Westens‹ wahrgenommen wurde. Ein neues Weltsystem kam in Sicht, das einen unipolaren Charakter trug: Der Triumph der Vereinigten Staaten in der Systemkonkurrenz erschien vollständig. Der Weg war frei für eine konkurrenzlose »Pax Americana«, und Francis Fukuyama verkündete gar das »Ende der Geschichte«. Es war Zeit, die ›Friedensdividende‹ einzusammeln, während die USA sich bestenfalls noch mit der Unbotmäßigkeit einiger ›Schurkenstaaten‹ (Rogue States) auseinandersetzen mussten.
Das Hochgefühl des Systemsieges hielt etwa zehn Jahre an. Dann kam der 11. September 2001 und offenbarte die Verwundbarkeit der einzigen und unverzichtbaren Weltmacht. Washington fühlte sich gezwungen, den Respekt vor seiner Weltrolle mit militärischen Mitteln wiederherzustellen und erklärte der »Achse des Bösen« den Krieg. Es sah so aus, als könnten schnelle militärische Erfolge in Afghanistan und dann 2003 im Irak die bedrohte »Pax Americana« wiederherstellen.
Aber das funktionierte weder militärisch noch politisch. Ein Teil der europäischen Länder versagte Amerika schon beim Irak-Krieg die Gefolgschaft, um ab 2003 dann beim Konflikt um das iranische Atomprogramm auf einen Verhandlungsprozess zu setzen, der nach 12 Jahren tatsächlich zum Erfolg führen sollte. Das militärische Engagement in Afghanistan und im Irak schleppte sich dahin und war verlustreich. Innenpolitisch konnte sich George W. Bush zwei Legislaturperioden lang von 2000 bis 2008 auf den »War on Terrorism« stützen. Aber die Interventionspolitik verlor am Ende immer mehr an Zustimmung. Von der Euphorie der 1990er Jahre blieb nichts übrig.
Barack Obama beendete die unpopulären Militärinterventionen und gab der amerikanischen Globalpolitik eine neue Ausrichtung. Sein Blick richtete sich auf Chinas scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg – und das mit wachsender Sorge. Die Antwort lautete »Pivot to Asia«, mit dem Versuch, aus Amerika eine Pazifische Macht zu schaffen. Dazu gehörte auch ein siebenjähriges Ringen (bis Ende 2015) um die Trans-Pacific-Partnership (TPP), aus deren zwölf Partnerländern ein Gegengewicht zu China gebildet werden sollte. Obamas Engagement in Asien konnte aber nicht verhindern, dass geopolitisch seine Amtszeit mit einem Teilrückzug der Vereinigten Staaten aus der globalen Verantwortung verbunden wird.
Was passierte parallel dazu im Bereich der ehemaligen Sowjetunion? Aus ihr entstanden bis 1991 fünfzehn selbstständige Republiken. In einigen von ihnen führten Separationskonflikte zu blutigen Auseinandersetzungen, die bis ins Jahr 1994 anhielten. Betroffen waren Georgien (mit Abchasien und Südossetien), die Republik Moldowa (Transnistrien) sowie Armenien und Aserbaidschan mit dem Nagorno-Karabach-Konflikt. Aber auch wirtschaftlich machten die Nachfolgerepubliken krisenhafte Zeiten durch: Die Industrieproduktion ging um bis zu 60 Prozent zurück. In der Russischen Föderation, dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion, regierte Boris Jelzin – im Westen gefeiert als der Reformer, der in Russland Demokratie und Marktwirtschaft durchsetzte. Im Lande selbst aber wird seine Zeit mit Chaos und großer Not verbunden, mit der Nichtauszahlung von Löhnen, Gehältern und Renten, mit dem katastrophalen Rubel-Kollaps vom August 1998, mit der Schwächung der Moskauer Zentralmacht und mit dem Tschetschenienkrieg. Das Land war mit sich selbst beschäftigt und die Menschen mit ihrem Überlebenskampf im Alltag.
Und trotzdem gab es Versuche zur Reorganisation des postsowjetischen Raumes, sichtbar etwa in dem Bemühen um die »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS), in der Ideologie des ›Nahen Auslands‹, für das sich Moskau zuständig fühlte, und in der Thematisierung des Schicksals von 25 Millionen Auslandsrussen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion plötzlich in nichtrussischen Republiken wiederfanden. Man fühlte sich zuständig in Moskau, aber es fehlte die Kraft, entsprechende Initiativen zu ergreifen.
Das änderte sich erst im Jahre 2000 mit dem Amtsantritt von Wladimir Putin. Mit ihm verbinden die Russen ein Ende des Chaos der Jelzin-Zeit, eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung, eine Wiederherstellung der Autorität der Staatsmacht und eine Wiedererstarkung des Moskauer Zentrums. Dieses Wiedererwachen von Selbstwertgefühlen wirkt sich auch auf die russischen Vorstellungen von Weltordnung aus. Aus russischer Sicht hat das unipolare System ausgedient. Man formuliert den Anspruch, als Weltmacht auf gleicher Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten wahrgenommen zu werden. Putin nimmt 9/11 zum Anlass, Washington einen gemeinsamen Kampf gegen den Al-Kaida-Terror anzubieten – natürlich als gleichberechtigter Partner. Das Desinteresse in Washington löst in Russland eine tiefe Frustration aus. In der Folge wird die westliche Politik von den russischen Eliten als gegen die Interessen von Russland gerichtet wahrgenommen. Die Liste der Gravamina ist lang – sie reicht von der Ablehnung der Osterweiterung von NATO und EU über den Protest gegen den Kosovo- und Irak-Krieg bis zur Interpretation der sogenannten ›Farbigen Revolutionen‹ (die Umstürze in Georgien, Ukraine und Kirgistan 2003–2005) als US-gesteuerte Regime Changes zu Lasten von Russland.
Hier nähern wir uns bereits der Vorgeschichte des aktuellen Ukraine-Konflikts. Das Angebot eines Assoziierungsabkommens der EU an die Ukraine wurde in Moskau als definitiver machtpolitischer Zugriff des Westens auf das unmittelbare Nachbarland Russlands interpretiert, mit dem Endziel der Aufnahme Kiews in NATO und EU. Die Antwort war die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine durch die Unterstützung der Separatisten in der Donbass-Region.
Daraus ist bis heute der tiefste Konflikt zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Krieges geworden. Wir beklagen eine ernsthafte Beschädigung der »Europäischen Friedensordnung«, die auf den Regeln und Prinzipien der OSZE aufbaut, niedergelegt in der »Schlussakte von Helsinki« (1975) und der »Charta von Paris für ein neues Europa« (1990) – beides von Moskau anerkannt, aber eindeutig verletzt durch das aktuelle russische Vorgehen in der Ukraine.
Schauen wir, die Entwicklung in Sachen Weltordnung in den Blick nehmend, auf den Zwischenstand: Die Vereinigten Staaten haben sich in der Amtszeit von Barack Obama nicht nur geographisch aus dem Irak und Afghanistan weitgehend zurückgezogen und überlassen die Verantwortung für eine Lösung des Ukraine-Konflikts faktisch den europäischen Partnern. Der Anspruch auf eine unipolare Weltordnung mit den USA als einziger Ordnungsmacht lässt sich nicht mehr halten. Das Russland unter Putin lehnt einen solchen Anspruch entschieden ab und kommt voran mit seinem Ringen um gleiche Augenhöhe mit Washington – sichtbar etwa in Moskaus neuer Rolle beim Syrien-Konflikt, bei dem inzwischen eine Lösung ohne Russland als ausgeschlossen gelten kann.
Chinas ökonomischer und politischer Aufstieg beschäftigt die amerikanische Politik und hat Obamas »Pivot to Asia« ausgelöst. Auch Peking will das unipolare Weltsystem definitiv durch ein multipolares ersetzen und entwickelt dafür eigene spezifische Strategien. Auf diese wollen wir jetzt einen Blick werfen.
II. Chinas Marsch nach Westen
Im September 2013 unternahm der neue Generalsekretär der KPCh und Staatspräsident der Volksrepublik China Xi Jinping eine zehntägige Reise durch Zentralasien. Am 7. des Monats hielt er in Astana, der kasachischen Hauptstadt, eine programmatische Rede. In ihr verkündete er den Aufbau eines Silk Road Economic Belt, also eines ›Ökonomischen Gürtels Seidenstraße‹. Auf einer Konferenz der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) mit 21 Teilnehmerstaaten im Oktober desselben Jahres präsentierte der Staatspräsident eine Ergänzung dieser Initiative und verkündete den Plan zu einer ›Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts‹.
Schon der Name dieser chinesischen Globalstrategie erscheint gut gewählt. Der Mythos der historischen Seidenstraße als Kultur- und Handelsbrücke zwischen Asien und Europa ist ungebrochen. Kaum ein Präsident der zentralasiatischen Staaten hat es in der Vergangenheit versäumt, wenigstens ein Buch zum Thema Seidenstraße zu veröffentlichen. Die chinesische Führung fügt im weiteren die beiden genannten Programme zu einem zusammen, das die Bezeichnung »One Belt, One Road« (OBOR) erhält. Im Kern handelt es sich um ein gigantisches Infrastruktur-Investitionsprogramm, das den Bau von Eisenbahnlinien, darunter die renommierten chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge HSR (High Speed Rail), von Straßen, Brücken, Tunneln, Flug- und Seehäfen sowie Pipelines vorsieht – und zwar in wichtigen Nachbarregionen Chinas.
Der Blick richtet sich dabei – von China aus – nach Westen. Dieses Programm wurde, durchaus typisch für die chinesische politische Kultur, lange vorbereitet und öffentlich diskutiert. Eine wichtige Rolle dabei spielte Wang Jisi, der Dekan der Pekinger Schule für Internationale Studien, der im Oktober 2012 einen Artikel unter dem Titel schrieb »Marching Westwards: The Rebalancing of China’s Geostrategy«. Hier fällt der Startschuss für die Strategie von ›Chinas Marsch nach Wes- ten‹ (chinesisch: Xi jin), in der sich globale und innenpolitische Ziele Pekings miteinander verbinden. Deutlich wird etwa die Stabilisierung der Autonomen Region Xinjiang, einem ausgesprochenen Problemgebiet, wo es mit den Minderheiten der Uiguren, Tibeter und Mongolen immer wieder zu teils von Gewalt begleiteten Spannungen kommt. Die Öffnung nach Westen soll über den Außenhandel eine wirtschaftliche Belebung dieser Region auslösen. Fernziel ist der Ausgleich des gefährlichen Ost-West-Gefälles in Chinas Wohlstandsverteilung über die Erschließung neuer Märkte, die das Land auch als Antwort auf die erhebliche industrielle Überproduktion gut gebrauchen kann.
OBOR untermauert seinen globalen Ansatz mit der Definition von sechs regionalen Korridoren, in die das Programm ausgreifen soll. Die Nummer 1 dieser Korridore nennt als Stationen China – Zentralasien – Russland – Europa und soll an den Ostseehäfen ihre Endstation finden. Der ›Marsch nach Westen‹ geht also in Richtung Europa, konzentriert sich aber vorerst auf die zentralasiatische Brückenregion der fünf Staaten Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan. Die milliardenschweren Investitionen sollen zum großen Teil über die im Jahr 2015 gegründete »Asiatische Infrastruktur Investment« Bank (AIIB) mit Sitz in Peking abgewickelt werden – ein Bankhaus, das viele Betrachter als geplante chinesische Konkurrenz zu Weltbank und IWF verstehen. Außerdem läuft die Finanzierung über einen eigens gegründeten und großzügig ausgestatteten Seidenstraßenfond.
Das führt uns zu der übergeordneten Zielsetzung des Projekts: China tritt bei dem Unternehmen Seidenstraße als guter Nachbar auf, der Nachbarn bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen hilft, von denen die Partnerländer profitieren können, die aber vor allem chinesische Waren auf ihrem Weg nach Westen schneller aufnehmen und weiterleiten sollen. Dieser wirtschaftliche Aspekt verbindet sich mit globalpolitischen Absichten. Peking will die bisher von der amerikanischen Dominanz geprägte herrschende Weltordnung mit ihrem westlich kontrollierten Institutionensystem aufbrechen und eine ›Multipolare Weltordnung‹ etablieren. Insofern ist die ›Neue Seidenstraße‹ auch die chinesische Antwort auf die Ende 2011 von der Obama-Administration ausgerufene »Pivot to Asia«-Politik, die mit Recht in Peking als Versuch gesehen wird, Chinas wachsende Dominanz im gesamtasiatischen Raum einzuhegen.
Aber es geht nicht nur um die geostrategische Konkurrenz mit der Supermacht Amerika und um den Versuch, eine als solche wahrgenommene Monopolstellung Washingtons aufzubrechen. Die Seidenstraße-Offensive drückt auch ein wachsendes Selbstbewusstsein Chinas als asiatische Ordnungsmacht aus, die es nicht mehr zulassen will, an anderswo definierten Kriterien gemessen zu werden. China spricht neuerdings von sich selbst als der ›Größten Demokratie der Welt‹, ein Attribut, das man bisher eher Indien zugeordnet hat. Dabei räumt Peking aber ein, eine eigene Vorstellung von Demokratie zu haben. Wir verfügen über viele Belege dafür, dass sich die chinesische Führung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten bekennt. Aber hinter diesen übernommenen Postulaten steht eine andere politische und gesellschaftliche Realität.
China reklamiert das Recht, selbst entscheiden zu können, was im eigenen Land Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeuten. Die Unterschiede zu den westlichen Vorstellungen werden gar nicht geleugnet, sondern als Resultate einer eigenständigen kulturellen Entwicklung offensiv bekräftigt. Das heißt natürlich nichts anderes, als dass die neue Ordnungsmacht China – trotz des proklamierten ›Weges nach Westen‹ – aus der Gemeinschaft aussteigt, die sich zu universellen Werten und unveräußerlichen Prinzipien im Sinne einer Weltzivilisation bekennt. Mit der Folge, dass ab sofort Mahnungen oder Einforderungen dieser universellen Werte ins Leere laufen – und das ist auch gewollt so.
An dieser Stelle macht es Sinn, einen vergleichenden Blick auf die Entwicklung in der Russischen Föderation zu werfen.
III. Moskau: Der neue Blick nach Asien
Was Russland angeht, waren wir vorhin stehengeblieben bei dem krisenhaften Verhältnis zum Westen durch eine fortschreitende Entfremdung mit dem Überschreiten ›Roter Linien‹ bei der Annexion der Krim und mit der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine. Die westliche Reaktion, wirtschaftliche Sanktionen als Druckmittel zu verwenden, um Moskau zur Umsetzung des Minsker Abkommens zu drängen, trifft Russland in einer Phase ökonomischer Schwierigkeiten wegen des gesunkenen Ölpreises auf dem Weltmarkt. Das hat aber nichts an Präsident Putins Ziel geändert, endlich die ›gleiche Augenhöhe‹ mit der Weltmacht USA zu erreichen.
Diesem Ziel ist die russische Strategie mit ihrer Syrienpolitik deutlich nähergekommen. Die russische militärische Intervention zwang Präsident Obama zu direkten Gesprächen mit der russischen Seite, um bei den eigenen Militärschlägen gegen Stellungen des IS nicht das Risiko militärischer Kollisionen zwischen beiden Mächten einzugehen. Heute besteht kein Zweifel, dass eine politische Lösung des Syrienkonflikts ohne Russland nicht mehr realistisch ist. Moskaus Vorgehen in dem geschundenen Land, das im Westen vor allem mit den erschütternden Bildern des menschlichen Leidens in Aleppo in Verbindung gebracht wird, hat die Zustimmungsraten des Präsidenten zuhause eher stabilisiert.
Auf Zustimmung kann Präsident Putin auch bei seinen anhaltenden Bemühungen um die sogenannte ›Reorganisation des postsowjetischen Raumes‹ rechnen. Auch wenn die 2010 auf den Weg gebrachte Zollunion mit Kasachstan und Belarus (Weißrussland) auf den Wunschpartner Ukraine verzichten musste, entwickelte Putin diese Politik weiter mit dem Start in die »Eurasische Wirtschaftsunion« (EaWu) am 1. Januar 2015. Eine Schöpfung, die durchaus der EU nachempfunden ist, quasi als ›Ost-EU« konzipiert und nicht zufällig auch mit einer EaWu-Kommission in Moskau als Pendant zur Brüsseler EU-KOM ausgestattet. Gegenwärtig gehören der »Eurasischen Wirtschaftsunion« die fünf Länder Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Armenien an, mit immerhin 170 Millionen Menschen (EU: derzeit noch 530 Millionen). Aber Putins Ehrgeiz, weitere Teilnehmerstaaten zu werben, ist ungebrochen. Und außerdem finden ständig Verhandlungen der EaWu über bilaterale Freihandelsabkommen statt, so mit Indien, Pakistan, Korea, Singapur, Iran und Israel, während das Abkommen mit Vietnam bereits seit dem 5. Oktober 2016 in Kraft getreten ist.
In letzter Zeit lässt Wladimir Putin keine Gelegenheit aus, in seinen Reden die ›Große Eurasische Partnerschaft‹ anzusprechen. Dabei geht es um die russische Antwort auf die chinesische Seidenstraßen-Offensive. Moskau plädiert für eine Vernetzung der Eurasischen Wirtschaftsunion mit einer ganzen Reihe anderer regionaler Kollektivsysteme, an erster Stelle mit Pekings Seidenstraßenprojekt OBOR, aber auch mit der »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (SCO), jener Sicherheitszusammenarbeit zwischen China, Russland und vier zentralasiatischen Staaten mit Ambitionen, auch Länder wie Indien, Pakistan, die Mongolei, Iran, Afghanistan und Weißrussland zu beteiligen. Einbezogen werden soll aber auch ASEAN, die Südasien-Assoziierung von zehn Staaten, und BRICS als das Kollektivsystem der früher ›Schwellenländer‹ genannten Staaten mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
Putin zielt damit auf eine gigantische Freihandelszone auf dem eurasischen Kontinent, die geopolitische Relevanz beansprucht. Das Ganze kommt daher als Politik des Grand Design, als russisches geostrategisches Konzept, das unverkennbar anknüpft an die Vorschläge des russischen Präsidenten von 2010 für einen gesamtkontinentalen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok und das diese Idee weiterentwickelt. Schaut man genauer hin, dann erkennt man mehrere Einzelmotive für das Moskauer Vorgehen. Russland wendet sich nach Osten und will sich als Ordnungsmacht im eurasischen Raum profilieren. Die Antwort auf Obamas »Pivot to Asia« ist Putins ›Hinwendung nach Osten‹ (russisch »Povorot na Vostok« – auch idiomatisch eine Anlehnung an den amerikanischen Vorläufer). Was den Umgang mit der offensiven OBOR-Initiative angeht, kann man von einer Umarmungsstrategie sprechen. Tatsächlich kann Moskau der OBOR-Dynamik mit den riesigen Infrastrukturprojekten wenig entgegensetzen: Schon vor Jahren hat China Russland als wichtigster Wirtschaftspartner der zentralasiatischen Staaten abgelöst. In diesem Kontext enthält die ›Große Eurasische Partnerschaft‹ von Wladimir Putin auch stark defensive Elemente.
Und dann gibt es den Kontext mit der Krise im europäisch-russischen Verhältnis und mit der Frage der Sanktionen. Moskau hat hier ohne Zögern zunächst die chinesische Karte gezogen, um die Lücken bei Handel und Beschaffung zu schließen. Die Parolen lauteten ›Wir haben Alternativen!‹ und ›Wir sind nicht isoliert!‹. Inzwischen ist dabei aber eine gewisse Ernüchterung eingekehrt. Die Chinesen haben sich als knallharte Verhandlungspartner erwiesen, erpicht auf den kurzfristigen Vorteil und weit von Ambitionen entfernt, sich Russland als nachhaltiger Modernisierungspartner anzubieten. Als Paradebeispiel dafür gilt das bilaterale Pipelineprojekt »Sila Sibiri« (Kraft Sibiriens), bei dem schon heute feststeht, dass Moskau schmerzhaft draufzahlen wird. Die ›Große Eurasische Partnerschaft‹ mit OBOR und mit den asiatischen Kollektivgemeinschaften verlagert, auf dieser Erfahrung aufbauend, de Schwerpunkt: Die politische Botschaft an den Westen und die EU lautet jetzt, die Eurasische Wirtschaftsunion bietet sich als ›Brücke nach Asien‹ an und ist offen für eine direkte Kooperation mit nder Europäischen Union. Das stößt in westlichen Wirtschaftskreisen durchaus auf Interesse, während im politischen Umfeld noch abgewogen wird, ob Kontakte mit der EaWu nicht eine zu starke und nicht in die Zeit passende Aufwertung der Politik Moskaus darstellen würden.
Putins Vorstellungen vom ›Greater Eurasia‹ greifen objektiv auch in einen innerrussischen Diskurs über die generelle Ausrichtung der russischen Gesellschaft und Politik ein. Dieser Diskurs setzt eine Kontroverse fort, die schon seit dem 19. Jahrhundert in Russland zwischen den sogenannten ›Westlern‹ und ›Slawophilen‹ ausgetragen wird. Die Grundfrage lautet in Kurzform: Wo liegt Russlands Zukunft – als Partner des Westens oder als asiatische Macht? Mit diesem Thema haben sich schon russische Klassiker wie Fedor Dostojewski und Konstantin Leontjew und Philosophen wie Wladimir Solowjew und Lew Gumiljow beschäftigt, während sich im Westen der Reigen der ideengeschichtlich Beteiligten von Karl Haushofer über Oswald Spengler, Martin Heidegger und C. G. Jung bis Carl Schmitt spannt. Aktuell prägt die schillernde Figur von Alexander Dugin seit Jahren die russische Diskussion, ein Philosoph, Politikberater und Autor, der über einen direkten Zugang zu Präsident Putin verfügt. Sein fast tausendseitiges Werk »Grundlagen der Geopolitik« erschien zuerst 1996 und wurde bis heute immer wieder neu aufgelegt und im Januar 2004 mit dem Band »Projekt Eurasien« ergänzt.
Man kann sich vorstellen, dass die sogenannten ›Eurasier‹ Putins gesamtasiatische Pläne mit großer Sympathie begleiten. Aber der russische Präsident legt sich nicht fest und lässt sich verschiedene Optionen offen. Das lässt sich daran sehen, dass er dem ›Westler‹ Alexej Kudrin, dem ehemaligen russischen Finanzminister (2000–2011), Aufträge für Reformkonzepte zur Modernisierung der russischen Wirtschaft erteilt. Wenig überraschend hat sich Kudrin in seinen jüngsten Vorlagen klar für eine Kooperation Russlands mit dem Westen ausgesprochen. Die Frage der langfristigen geopolitischen Orientierung Russlands bleibt vorerst unentschieden – trotz der ›Hinwendung zum Osten‹, und die Diskussion geht weiter.
IV. Die Multipolarisierung der Wertesysteme
Anders läuft es in der russischen Innenpolitik. Hier werden Fakten geschaffen. In der Zeit von 2000 bis 2011 sah es so aus, als könnte Russland den Weg einer schrittweisen Europäisierung gehen. Es entstand eine neue Mittelschicht, deren Vertreter in Westeuropa als Geschäftsleute und Touristen auftraten. Verlässliche Reallohnzuwächse ermöglichten ein bestimmtes Niveau von Wohlstand. Man sprach von einem ›unsichtbaren Gesellschaftsvertrag‹, der darin bestand, dass die Bürger auf eine Einmischung in die Politik verzichteten, solange die Führung für Stabilität und Prosperität sorgte.
Viele Hoffnungen richteten sich auf die Präsidentschaft von Dmitrij Medwedjew zwischen 2008 und 2012. Das war die Zeit, wo zwischen seinem Team und Vertretern Deutschlands die ›Modernisierungspartnerschaft‹ entworfen wurde – ein Plan für eine umfassende Zusammenarbeit bei der Erneuerung von Industrie und Wirtschaft, von Administration und Verwaltung, von Zivilgesellschaft und gesellschaftlichen Institutionen.
Aber dann kam der 24. September 2011, an dem Wladimir Putin, in Medwedjews Zeit auf den Platz des Premierministers gerückt, seine erneute Kandidatur als Kreml-Chef verkündete. Plötzlich stand Medwedjew als einflussloser Platzhalter oder gar als Marionette Putins da, erschien seine Präsidentschaft wie ein bloßes Zwischenspiel in Putins Strategie des Machterhalts. Die öffentlichen Reaktionen darauf waren kritisch bis negativ, was Putins Crew irritierte. Bei den Dumawahlen im Dezember 2011 deckten Organe der russischen Zivilgesellschaft massive Wahlfälschungen zugunsten der Kreml-Partei ›Einheitliches Russland‹ auf. Es begannen Massendemonstrationen, die bis zur Präsidentenwahl im März 2012 anhielten. Das Programm des Protestes reduzierte sich auf eine einzige Forderung, immer wieder auf selbstgefertigten Tafeln in den Himmel gereckt: ›Russland ohne Putin‹ (russisch »Rossija bes Putina«). Deutlicher konnte die Aufkündigung des langjährigen unsichtbaren ›Gesellschaftsvertrages‹ nicht ausfallen.
Zwischen den beiden Wahlgängen deutete die Staatsmacht eine gewisse Kompromissbereitschaft an und ging auf einige Forderungen nach Gesetzesänderungen ein. Die Oppositionellen bereiteten sich auf einen Dialog nach der Wiederwahl Putins vor. Aber der kam nicht zustande. Der wiedergewählte Präsident entschied sich, die Opposition zu kriminalisieren und zu marginalisieren. Wortführer und Teilnehmer an den Demonstrationen wurden vor Gericht gestellt, so in den berüchtigten ›Bolotnaja-Prozessen‹, wo mehrjährige Gefängnisstrafen verhängt wurden. Nichtregierungsorganisationen wurden mit dem ›Agenten-Gesetz‹ gezwungen, sich selber als ›ausländische Agenten‹ zu bezeichnen, wenn sie mit Finanzmitteln befreundeter Organisationen oder Stiftungen aus dem Ausland arbeiteten, und das Gesetz über ›unerwünschte ausländische Organisationen‹ verbot die Tätigkeit solcher Partner aus dem Ausland in einer wachsenden Zahl von Fällen gänzlich. Trauriger Höhepunkt war die Ermordung des bekannten Oppositionsführers Boris Nemzow am 27. Februar 2015 auf offener Straße, unweit des Moskauer Kremls.
Nach der Annexion der Krim schüchterte Putin alle potentiellen Kritiker seiner Ukraine-Politik ein und nannte sie vorab ›Nationalverräter‹ oder Vertreter einer 5. Kolonne. Das erwies sich als voreilig: Nur vereinzelt meldeten sich in Russland selbst ablehnende Stimmen zur Einverleibung der Krim. Anders war das im Ausland. Es hagelte Kritik am Umgang mit Opposition und friedlichen Demonstranten, an der systematischen Ausgrenzung und Schwächung der kritischen Zivilgesellschaft und an der Verletzung von Regeln und Prinzipien im Ukraine-Konflikt bis hin zur Infragestellung der Grundlagen der europäischen Friedensordnung. Und in der russischen Politik wurden Parallelen zur Entwicklung in China sichtbar.
Auch das Russland Putins sieht sich selbst als Ordnungsmacht mit einem eigenen Wertesystem, das aus der russischen Nationalkultur gewachsen ist. Die Propagandisten dieses eigenen Wertesystems berufen sich dabei auf die ›traditionellen russischen Werte‹, die um Begriffe wie Heimat, Vaterland, Religion, Familie kreisen und ein offenes Bekenntnis zur weitverbreiteten Homophobie durchaus einschließen. Man grenzt sich ab von der Dekadenz und dem Werteverfall, der angeblich im Westen stattfindet, und vermeidet jeden Bezug zu universell anerkannten Werten, Regeln und Prinzipien.
In letzter Zeit ist die Tatsache auffällig geworden, dass die russische Führung auf Tuchfühlung mit den europäischen Rechtspopulisten geht. Das gilt für Kontakte mit solchen Parteien aus den drei wichtigen Wahlländern des Jahres 2017 – also der Partei von Geert Wilders in den Niederlanden, dem Front National von Marine Le Pen in Frankreich und der AfD in Deutschland –, erstreckt sich aber auch auf andere radikal-nationalistische Gruppierungen von den Anhängern der bulgarischen Ataka, von Jobbik in Ungarn bis zu den Wahren Finnen und anderen. Diese politische Offensive des Kremls, die in aller Offenheit demonstriert wird, hat einen doppelten Hintergrund. Einmal werden die europäischen Rechtspopulisten gestützt, weil sie durchweg die Brüsseler Sanktionspolitik gegen Russland kritisieren und zu Fall bringen wollen und weil sie in der Regel EU-feindliche Ziele verfolgen, die im Erfolgsfall die EU schwächen würden. Mittelfristig erscheint aber noch wichtiger, dass die kulturellen Wertvorstellungen der Rechtspopulisten recht gut passen zu den ›traditionellen russischen Werten‹. Die taktische Kooperation mit diesen Kräften kommt insofern im Kleid einer ›Seelenverwandtschaft‹ daher, was sie nicht unbedingt appetitlicher macht.
Aber eines ist klar: Auch die russische Führung hat sich aus dem Bekenntnis zu universell gültigen Werten und Normen verabschiedet. Jede Kritik an der Politik des Landes und an den Zuständen im Innern wird abgewehrt mit dem Argument, es gäbe eben einen eigenen tradierten russischen Wertekanon, dem man folge, und dieser könne Gleichberechtigung mit anderen Zivilisationen beanspruchen. Es gibt einen kleinen, aber aufschlussreichen Beleg für diesen Ansatz: Im Juni 2016 eröffnete Wladimir Jakunin, ein reicher Oligarch, ehemaliger russischer Bahnchef und Putinvertrauter, in Berlin einen Think Tank, der einiges Aufsehen erregte. Die neue Denkfabrik nennt sich DOC, was für »Dialogue of Civilizations Research Institute« steht. Man braucht nur diesen Namen zu nehmen, um die Grundthese zu verstehen. Es gibt eben mehrere Zivilisationen – ihr habt eure, wir unsere eigene – aber lasst uns darüber ins Gespräch kommen. Das muss nicht verkehrt sein und ist allemal besser als der einst von Samuel Huntington beschworene »Clash of Civilizations«.
Aber die Multipolarisierung der Wertesysteme als Merkmal einer von Peking wie von Moskau aktiv vorangetriebenen neuen Weltordnung ist eine politische Herausforderung, der wir uns stellen müssen.
V. Zwei Fragezeichen als Ausblick
Für die Zukunft bleiben zwei große Fragezeichen. Das erste bezieht sich auf das Amerika des Donald Trump. Die ersten Wochen dieser Präsidentschaft, verbunden mit einigen Aussagen aus dem Wahlkampf, zeichnen eine Entwicklung, die von folgenden Schlagworten geprägt wird: Abschottung, Protektionismus, Ablehnung multilateraler Vereinbarungen. Ein Mauerbau soll die Grenze zu Mexiko abriegeln, die Einreise aus sieben muslimischen Staaten soll verweigert werden, gegen Waren und Produkte, die nicht in den Vereinigten Staaten hergestellt werden, sollen Strafzölle verhängt werden, der Ausstieg aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) ist bereits beschlossene Sache und TTIP wird infrage gestellt.
Auf die harten Worte gegen die NATO (›obsolet‹) sind vorerst keine Taten gefolgt, doch Trumps Lob für den Brexit stellt die Frage nach dem US-Verhältnis zur EU, die sich außerdem durch die lobenden Worte des Präsidenten in Richtung Moskau verunsichert zeigt. Es kann sein, dass die kritische Bewertung des Atomvertrags mit dem Iran, um den die Europäer zwölf Jahre lang gerungen haben, vorerst noch folgenlos bleibt. Aber was China angeht, sehen Beobachter bei Trump eine deutlich gewachsene Konfliktbereitschaft.
Die Parole »America first« erweist sich nach ersten Beobachtungen als ein Streben nach für die USA günstigen ›Deals‹, wobei zu fragen ist, inwieweit die umstandslose Übertragung von Praktiken aus dem Geschäftsleben, die einem Donald Trump natürlich sehr vertraut sind, auf die Politik tatsächlich immer verträglich ist. Was die zweite Parole »Make America great again« angeht, gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass dies die Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung bedeutet, also die Annahme der traditionellen Rolle Amerikas als die führende westliche Ordnungsmacht. Eher sieht es so aus, als gehe es in Verbindung mit der ersten Maxime um die Umschreibung des Ziels, egoistische Vorteilsinteressen des Landes durch gute ›Geschäftsabschlüsse‹ im bilateralen Bereich voranzubringen.
Diese Entwicklung, die natürlich als vorläufig zu betrachten ist und sich jederzeit ändern kann, wirft die Frage auf: Wird das Trump-Amerika überhaupt die Rolle als führende westliche Ordnungsmacht fortsetzen wollen und in diese Aufgabe investieren? Und hätte das jemals Erfolgsaussichten, nachdem die Art und Weise, mit welchen Mitteln der Wahlkampf um die Präsidentschaft geführt wurde und wie die Einreisebeschränkungen begründet und gegen heftigsten öffentlichen Widerstand angeordnet wurden, doch erhebliche Zweifel darüber ausgelöst haben, ob hierbei nicht traditionelle amerikanische und westliche Werte über Bord geworfen werden? Wie will ein Land, das einen Wahlkampf mit erfundenen Wahrheiten und der Nutzung von Hacker-Angriffen auf die Konkurrenz akzeptiert und in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung ›alternative Fakten‹ toleriert, eigentlich gegen Mängel in der politischen Kultur anderer Länder und anderer politischer Systeme angehen?
Im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob das Amerika des Donald Trump mit einem entschlossenen Führungsanspruch den Befürwortern der multipolaren Weltordnung entgegentreten wird. Was nicht ausschließt, dass Washington die Ansprüche Pekings im südchinesischen Meer infrage stellen und bei den Wirtschaftsbeziehungen mit China US-Interessen mit vollem Risiko vertreten wird, möglicherweise bis hin zum Handelskrieg. Und was nicht ausschließt, dass Präsident Trump weiter die Annexion der Krim nicht anerkennt und gegenüber Moskau auf eine Umsetzung des Minsker Abkommens drängt. Aber das ist nicht identisch mit einem Auflehnen gegen die tendenzielle Auflösung eines Regelkanons, der auf universal anerkannten Werten und Prinzipien aufbaut. Man kann davon ausgehen, dass die Verhaltensweisen der Vereinigten Staaten in dieser Frage sehr sorgfältig beobachtet und bewertet werden. Von den Vereinigten Staaten hängt ab, ob Moskau und Peking noch selbstbewusster werden bei ihrem Anspruch, als Ordnungsmächte mit ihrem eigenen Normen- und Wertesystem anerkannt zu werden.
Bleibt das zweite Fragezeichen mit dem Blick auf die künftige Rolle der EU in diesem Kontext. Wir wissen, die EU befindet sich ausgerechnet jetzt in einer geschwächten Situation. Hintergrund dafür ist eine seit Jahren anhaltende unzureichende Problemlösungskompetenz. Die Anziehungskraft der Europäischen Union beruht auf drei Versprechen: gewaltfreie Lösung aller Konflikte, also Frieden und Prosperität, vor allem durch den gemeinsamen Markt, sowie Solidarität, gewährleistet durch annährend vergleichbare Lebensstandards über das Mittel der Struktur- und Ausgleichsfonds und durch Beistand in Notlagen. Alle drei Versprechen sind gegenwärtig ins Wanken geraten: Nicht in der EU, aber an ihrem Rand in der Ukraine tobt ein verlustreicher Krieg, in dem die EU trotz aller Bemühungen noch keinen Durchbruch zu einer politischen Lösung vermitteln konnte. Der Wohlstand verteilt sich immer unausgewogener: Während einige Länder in der Wohlstandsfrage glänzend dastehen, Deutschland zum Beispiel gestützt auf immer neue Rekord-Exportvolumina Jahr für Jahr, gibt es auf der anderen Seite besonders im Süden Mitgliedstaaten, in denen das Prosperitätsversprechen schal klingt und in denen beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit die 50 Prozent übersteigt.
Die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre nach 2008 sind immer noch nicht endgültig überwunden, sichtbar besonders am Fall Griechenland. Die auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich in Europa stellt eine Herausforderung für das Solidaritätsprinzip dar. Und Solidarität wird auch bei der Frage der Verteilung der Flüchtlingslasten von mehreren EU-Staaten ausdrücklich und offensiv verweigert. Dazu kommt der Brexit, verbunden mit der bangen Frage, ob andere Länder dem britischen Beispiel folgen werden, und begleitet von einer Verunsicherung bei der EU-Erweiterungsstrategie, die lange Zeit ein wichtiges Instrument der europäischen Stabilitäts- und Friedenspolitik darstellte. Und nicht zuletzt muss der Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien und Strömungen beunruhigen, von denen die meisten die EU schwächen wollen, aber auch ihre Werte- und Regelbasis nicht anerkennen. Schließlich erleben wir auch eine krisenhafte Entwicklung im Verhältnis mit einem wichtigen Nachbarn der EU, nämlich der Türkei.
Keine Frage, diese zum Teil miteinander verflochtenen Probleme und Herausforderungen engen die Handlungsmöglichkeiten der EU ein und schaden ihrem Image. Es gibt aber keinen Grund zum Fatalismus, ja ein solcher wäre unverantwortlich. Die EU muss wieder mehr Problemlösungskompetenz gewinnen und ihre Schwächen überwinden. Denn sie wird gebraucht, so bei der politischen Konfliktlösung von der Ukraine über den Krisenbogen in Nahost bis zum Kampf gegen den Terror des Islamischen Staates, so auch bei einer entschlossenen Fluchtursachenbekämpfung und bei einer Lösung der Flüchtlingsprobleme auf der Basis humanitärer Prinzipien, und so auch bei den globalen Herausforderungen des Klimawandels, der Wasserverknappung und der Nahrungsmittelversorgung. Nur als europäische Ordnungsmacht mit wiedergewonnener Stärke kann die EU auch der Beschädigung der europäischen Friedensordnung entgegenstehen – nicht mit der Bereitschaft für faule Kompromisse, sondern entschlossen zur Wiederherstellung der Verbindlichkeit jener Werte und Regeln, wie sie in der »Schlussakte von Helsinki« von 1975 und der »Charta von Paris für ein neues Europa« von 1990 niedergelegt sind und gültig bleiben müssen für alle 57 OSZE-Teilnehmerstaaten.
Der Weg in ein multipolares Weltsystem erscheint nicht aufhaltbar. Der Anspruch großer Länder auf den Status einer Ordnungsmacht wirft Fragen auf. Wie ist dieser Anspruch zu verstehen? Bedeutet er den Griff nach regionaler Kontrolle über andere Staaten oder anerkennt er den Zusammenhang von Ordnungsfunktion und politischer Verantwortung? Natürlich gibt es sehr unterschiedliche Staatsformen und politische Kulturen, auch innerhalb der EU und in der Familie der liberalen Demokratien. Export oder gar Oktroi von eigenen Ordnungsvorstellungen auf andere Gesellschaften stoßen auf Widerstand und erweisen sich als wenig nachhaltig. Die Vielfalt staatlicher Systeme und gesellschaftlicher Ordnungen ist ein real existierendes Merkmal unseres Wertesystems.
Aber der Gedanke einer allgemein anerkannten Weltzivilisation, die sich auf universale Grundwerte stützt und deren Beachtung von den Vereinten Nationen als Weltorganisation, deren Durchsetzungskraft vor allem für schwächere Mitgliedstaaten unersetzlich ist, sichergestellt wird – dieser Gedanke darf nicht aufgegeben werden! Das ist das einzige Bollwerk gegen eine Fragmentierung wertebasierter Regelsysteme, gegen den Einzug von Beliebigkeit in die politische Kultur, gegen einen Auseinanderfall des menschlichen Zusammenlebens in antagonistische Partikularinteressen, die nach dem Prinzip des Rechts des Stärkeren verfochten werden, was letztlich durchaus in einem Clash of Civilizations enden kann.
Ohne eine Reparatur und Renaissance der Europäischen Union als Wertegemeinschaft und Ordnungsmacht auf der Basis universell geltender Regeln und Prinzipien – davon bin ich überzeugt – wird sich die gegenwärtige krisenhafte und gefährliche Entwicklung nicht aufhalten lassen!
(Friedrich-Ebert-Gedächtnis-Vortrag 2017; als gedruckter Text herausgegeben von Walter Mühlhausen im Auftrag der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, ©2017 Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Untere Str. 27, D – 69117 Heidelberg; ISBN 978-3-928880-52-7)