von Detlef Lehnert

Mit den Spitzenkandidaturen aus den größeren Fraktionen des Europäischen Parlaments für den Kommissionsvorsitz ist vor und nach dem Wahltermin 25. Mai 2014 eine überraschende Dynamik in den EU-Debatten entstanden. Galt weiteres Absinken der Wahlbeteiligung zuvor als fast unvermeidliches Schicksal einer durch Mitgliederzuwachs und krisenbelastete Expertokratien zunehmend entrückten Staatengemeinschaft, fand diese politische Resignation dann so nicht statt.

Im Gegenteil stieg hierzulande sogar die Wahlbeteiligung – und intensivierte sich noch mehr die Berichterstattung. Zwar war der nach den Umfragen aussichtsreichste Bewerber Jean-Claude Juncker kaum auf deutscher Wahlwerbung zu sehen, obwohl er als hinreichend bekannt gelten durfte, um wenigstens mit der stattdessen wiederum omnipräsenten Bundeskanzlerin Merkel zusammen abgebildet zu werden. Aber wegen der supranational präsentierten Kandidatur des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz wurde auch die bis dahin eindeutig größte Fraktion der (u.a. christdemokratischen) EVP gedrängt, schon vor der Wahl Juncker zu benennen.

Nach dem (knapper) behaupteten Mandatsvorsprung ihn auch im Kreise der Regierungschefs mit 26:2 Länderstimmen zu nominieren und dann vom EU-Parlament zu wählen, erwies sich nur wegen zweier Umstände noch als publizitäts- und konfliktträchtig: Einerseits war das öffentliche Auftreten des britischen Regierungschefs gegen die Nominierung von Juncker aus innenpolitischen Gründen dermaßen überzogen, dass sogar in der teilweise anders gestimmten FAZ.net zuletzt Klartext zu lesen ist: „Die Kampagne, die der britische Premierminister Cameron gegen Juncker in Gang setzen ließ, hat Grenzen des politischen Anstands überschritten; sie war in Teilen ehrabschneidend, maßlos und destruktiv. Denn einen besseren Kandidaten hatten die Briten selbst nie präsentiert“ (29.06.2014). Auch Kommentatoren, die zuvor noch „Juncker ist der Falsche“ betitelten (SPIEGEL Online, 2.6.2014), konzentrieren sich nun auf den verheerenden Eindruck der Cameron-Auftritte: „Warum ein EU-Austritt der Briten von Vorteil wäre“ (30.06.2014). Andererseits wird hinter dem spektakulär inszenierten aktuellen Streitfall der politische Kern möglicher EU-Integrationsperspektiven sichtbar, was allein die nähere Befassung an dieser Stelle lohnt.

Die publizistische Beschreibung vornehmlich in Polaritäten von EU-Parlament vs. Regierungschefs, dieses contra jenes Land, eine bestimmte Person gegen eine andere usw. bedient zwar vordergründige Klischees sowie Vorurteile im Lesepublikum, verfehlt aber wesentliche Hintergründe solcher politischer Entscheidungsprozesse. Zwar ist ein Anti-Parteien-Affekt publizistisch in Mode und wird bewusst oder unbewusst häufig dadurch begünstigt, dass man selbst überparteilich erscheinen mag (oder muss). Überdies sind Parteien auch Konkurrenten des Journalismus im Einfluss auf die öffentliche Meinung, weshalb das Herunterschreiben der Parteipolitik zugleich der eigenen Bedeutung dient. Dennoch wird auf EU-Ebene die genuin politische Verbindungs- und Vermittlungsfunktion der Parteigruppierungen zwischen europäisch (oder global) verselbstständigten Entwicklungen und sich dagegen ohnmächtig wähnenden Zivilgesellschaften greifbar. Jedenfalls lohnt zumindest eine zusätzliche Perspektive, die nicht primär die Entrücktheit der überordneten Strukturen inkl. EuGH und EZB hilflos beklagt oder die zivilgesellschaftliche Aktivierung über Landes- und Sprachgrenzen hinweg recht abstrakt beschwört. Selbstverständlich bedarf es auch weiterer grenzüberschreitender Aktivitäten wie z.B. gewerkschaftlicher, auch in Auspendelung ohnehin auf EU-Ebene organisierter Wirtschaftslobbys. Immerhin spielte es bei der nun endlich durchgesetzten Einführung eines nahezu flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns eine Rolle in der Debatte, dass schon 21 der 27 anderen EU-Staaten einen solchen haben und die Ausnahmen bis auf Italien und Zypern sonst nur skandinavische Länder und Österreich sind, wo ohnehin die Tarifverträge ihrerseits eine ähnlich flächendeckende Wirkung entfalten. Dabei fällt übrigens zusätzlich auf, dass außer Italien alle Gründungsmitglieder – Frankreich, Niederlande, Belgien und Luxemburg – schon jetzt höhere Mindestlöhne von über 9 €/Stunde aufweisen, als sie in Deutschland ab 2015 bzw. (im Falle der Tarifbindung) 2017 gelten.

Auch wenn sich europäische Regierungschefs (beiderlei Geschlechts) in partieller Annäherung an insoweit den US-Politikstil zuweilen quasi-präsidial inszenieren, sind sie tatsächlich nicht nur in eigene Parteiloyalitäten eingebunden, sondern ganz überwiegend auch in Koalitionen. Schon der Blick auf die politische Farbenlehre der anderen 27 EU-Staaten hätte der britischen Regierung die Chancenlosigkeit und Kontraproduktivität der Anti-Juncker-Kampagne verdeutlichen können, wäre diese nicht ohnehin auf eine „heroische“ Außenseiterrolle – bewusst oder dies in Kauf nehmend – angelegt gewesen. Als damals wenig beachtete, nun jedoch ausschlaggebende Entscheidung hat sich die nach vorausgegangenen Wahlen von 2009 erfolgte Verselbstständigung der britischen Konservativen gegenüber der EU-integrationsfreundlicheren EVP herausgestellt. So konnte Juncker dort eben nur ohne britische Mitwirkung nominiert werden. Damit nicht genug: Gewiss wesentlich um drittstärkste Fraktion im EU-Parlament zu werden, nimmt die konservative Fraktion nun auch die „Alternative für Deutschland“ (AfD) mit in ihren Reihen auf. Daraus wird sich die Cameron-Partei kaum Sympathiepunkte bei der deutschen Regierung und den sie tragenden christ- oder sozialdemokratischen Koalitionspartnern versprechen. Es geht also nur um den innenpolitischen Effekt des Konkurrenzverhältnisses zur rechtspopulistisch-antieuropäischen UKIP. Diese wurde mit einem Anteilsgewinn von 16,5 auf 27,5 Prozent in Großbritannien, bei allerdings nur 34 Prozent Wahlbeteiligung, die stärkste Partei vor Labour und Konservativen. Der UKIP-Aufstieg bedroht die ohnehin nur durch eine Koalition mit den Liberalen (ihrerseits durch Verlust der Hälfte des Stimmenanteils abgestraft) an die Macht gekommene Cameron-Partei mit der Abwahl – und der von deren Wirtschaftsunterstützern überwiegend gefürchteten Volksabstimmung zum EU-Austritt.

Weniger übersichtlich als die ungefähr der alten Bundesrepublik (schwarz/rot und etwas gelb) entsprechende Farbenlehre im Europäischen Rat der Regierungschefs gestalten sich die politischen Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament. Aber nach einigen Rechenvarianten ergibt sich: Eine Alternative zu der mit knapp 55 Prozent der Mandate eher nur kleinen „Großen“ Koalition aus EVP (29,4 %) und SP (25,5 %) ist für eine kontinuierliche Arbeitsmehrheit nach links oder rechts nicht in Sicht. Die etwaige „Gesamtlinke“ (SP mit Grünen und Linken) käme nur auf 39 Prozent der Mandate (nicht einmal mit den 9 Prozent Liberalen zusammen reicht es, und das wäre ohnehin inkl. FDP und Linkspartei politisch nicht vorstellbar). Selbst wenn sich EVP und Liberale mit den Konservativen verbündeten (schon wegen der AfD kaum denkbar), wären das auch nur gut 47 Prozent. Der EVP-Vorsprung von 30 Mandaten resultiert fast allein schon aus dem erdrückenden Übergewicht von 35 zu nur 9 der SP in Polen und Ungarn, wo zudem noch eine weitere nationalkonservative (Polen) bzw. rechtsextreme Partei (Ungarn) ein deutlichstes „Anti-Links“-Profil anzeigt. Eine stärkste Nationalpartei im Europäischen Parlaments rechts von der konservativen „EU-skeptischen“ Fraktion haben Frankreich (Front National) und Großbritannien (UKIP) – die beiden größten Länder nach Deutschland.

In politikwissenschaftlicher Terminologie formuliert: Offenbar konnten EVP und SP (sowie Liberale, Grüne und Linke) mit ihren Spitzenkandidaturen die gerade angesichts des Anti-EU-Populismus absehbar unvermeidliche konkordanzparlamentarische Konfiguration hinsichtlich der Nominierung für den Kommissionspräsidenten auch konkurrenzdemokratisch inszenieren. Das wird man ihnen zunächst so wenig vorwerfen können wie z.B. (ohne Parallele, nur illustrativ gemeint) der Weimarer Koalition von Sozialdemokraten, Liberalen und Zentrum deren Kooperation angesichts offen antiparlamentarischer Gegenkräfte. Allerdings könnte bei den wohl auf unabsehbare Zeit unhintergehbar konkordanzparlamentarischen Verhältnissen dann generell Minimalkonsens mit allen integrationsfreundlichen Gruppierungen angestrebt werden. Dafür bestehen Ansatzpunkte, wenn sich über ohnehin in den Einzelstaaten zuweilen in EVP- oder SP-Regierungen vertretenen Liberalen und Grünen hinaus z.B. auch der griechische Linkspartei-Wahlsieger und EU-Spitzenkandidat zugunsten der Respektierung des Wahlergebnisses hinsichtlich Junckers äußerte. Dabei macht dieses natürlich einen strategischen Unterschied aus: ob man wie die britischen Konservativen alternativ zur EU auf die globale angelsächsische Hegemonialposition setzen zu können meint – oder im europäischen Süden umgekehrt in Richtung einer Lockerung des neokonservativ-neoliberalen (De-)Regulierungsregimes auf Unterstützung aus dem christ- und sozialdemokratischen Regierungs-Mainstream angewiesen ist.

Außerhalb der heiklen rechts-, wirtschafts-, sozial-, finanz- sowie außenpolitischen Grundsatzfragen ist jedoch auch mit wechselnden Mehrheiten zu rechnen. Das gilt besonders für alle wesentlich symbolpolitisch aufgeladenen Konfliktlinien, die insofern Chancen zu einer Profilierung bieten und einen ausschließlich konkordanzorientierten Eindruck zu vermeiden haben. Zu solchen dem Anschein durchgängiger großkoalitionärer „Kumpanei“ entgegenwirkenden Symbolakten gehört z.B. die Weigerung einer mit 30 zu 21 Stimmen (bei sechs Enthaltungen) recht eindeutigen Mehrheit im Wirtschafts- und Währungsausschuss des EU-Parlaments, mit dem Herrn Lucke von der AfD ausgerechnet einen Euro-„Skeptiker“ als stellvertretenden Vorsitzenden akzeptieren zu sollen. Da hatten die britischen und polnischen Konservativen als stärkste Teilgruppen dieser Fraktion erneut den Provokationseffekt übersehen. Dieser fand sogar mehr als „nur“ geschlossene Ablehnung der Linken, Grünen, Liberalen und SP-Fraktion, die auch bei vollständiger Anwesenheit keine 30 Stimmen aufbieten können und in Sachfragen überdies schwer auf einen Nenner zu bringen wären.

Von sogleich beklagter Diskriminierung kann nicht die Rede sein, zumal parallel der einstige Arbeitgeberpräsident Henkel im Industrieausschuss für die AfD in gleicher Funktion akzeptiert wurde. Auch wenn nur 19 der 28 EU-Mitglieder der Eurozone angehören, sind doch außer Dänemark und Großbritannien (mit vertraglicher „Opt-Out-Klausel“) die restlichen Staaten verpflichtet, den Euro nach Erfüllung der Kriterien einzuführen. Der Euro ist also kein Steckenpferd eines besonderen Länderclubs, sondern konstitutives Element der EU-Integration. Der Vergleich mit der innerdeutschen Währungsunion ist hier keineswegs vollkommen abwegig: Ökonomisch ließen sich gegen beide Projekte wegen der Ungleichgewichte manche Bedenken anmelden, doch politisch waren sie dennoch so gewollt (wenn auch jeweils mit Vorbehalten in Teilen der Bevölkerung). Aber dann muss eben auch in „Euroland“, nun ohne die Möglichkeit der Abwertung in ökonomisch weniger konkurrenzfähigen Staaten, ein hinreichendes Maß an struktur- und sozialpolitischer Flankierung der immer auch vorauseilenden Währungsintegration stattfinden.

Die Verweigerung dieses erforderlichen Ausmaßes der Solidarität, die aber in der Konsequenz einer Währungsunion als Element einer politischen Union liegt, ist wohl der Minimalkonsens unter den mehr konservativen „EU-Skeptikern“ – unterschieden von überwiegend rechtsradikalen „EU-Feinden“. Jüngst ist vorgeschlagen worden, das Problem der politischen Einordnung der AfD mit der Charakterisierung als „Wettbewerbspopulismus“ zu lösen (Bebnowski/Förster 2014). In jener Studie wurde die Verbindung mit der um britische Konservative gruppierten Fraktion des EU-Parlaments bereits richtig vorausgesagt: „Ein inhaltlicher Austausch ist über die ökonomischen Erstunterstützer der AfD über die ‚New Direction Foundation’, die Stiftung der Fraktion, längst initiiert“ (S. 26). Eine paradoxe Integration sachlich unvereinbarer Ziele und Mittel ist dabei – neben manchen Parolen auf Wahlplakaten – das wichtigste Indiz eines populistischen Einschlags trotz des bürgerlich-konservativ anmutenden Führungspersonals: „Als Lösung für die materiellen Ängste werden schließlich ausgerechnet weitere Wettbewerbsintensivierungen gefordert. Der AfD gelingt es also, exakt jene Mechanismen, die erst für die Ängste gesorgt haben, als Problemlösung anzubieten“ (S. 31). Das zielt allerdings mehr auf den erheblichen Anteil der fluktuierenden Proteststimmen von Nicht-Privilegierten und Nicht-Etablierten, die im Unterschied zu den auffällig überrepräsentierten Berufsökonomen im Kreis der Erstunterstützer weniger vom Globalisierungswettbewerb profitieren können, jedoch ressentimentanfällig sind: für einen Abstiegsängste gegen (wie auch immer definierte) Nicht-Inländer wendenden – obschon materiell häufig recht bescheiden ausgestatteten – Wohlstandschauvinismus aus der „Mitte“ der Gesellschaft.

Diese eigentümliche Verbindung zwischen Berufsökonomen, deren Ansehen seit der zumeist nicht vorausgesehenen, eher durch Neigung zu Deregulierungs-Empfehlungen auch noch geförderten internationalen Finanzkrise gelitten hat, und diffuser Unzufriedenheit wäre für sich genommen kein einflussreicher Faktor. Doch auch ohne AfD-Präferenz wird deren Stimmungsumfeld von einer wiederum breit gefächerten Presselandschaft bereitet. Der Streit um die Nominierung Junckers ist dafür exemplarisch. „Was kassiert Juncker nebenbei ab?“, fragt BILD.de (25.06.2014) in einem keiner näheren Analyse bedürftigen, den Populismus befeuernden Stil: „Weicher Euro für Präsidenten-Posten. Wird der Juncker-Deal ein ganz schmutziges Ding?“ (18.06.2014). Aber die zugehörigen Fotos (unvorteilhaft mit dem Mittelfinger unter der eigenen Nase bzw. die linke Hand auf dem Kopf) sind noch moderat im Vergleich zur (vermeintlich) seriöseren Konkurrenz. Der „SPIEGEL“ (Online, 26.05.2014) versteckt sich zwar hinter tendenziöser Kolportage anderer: „Honorare von Lobbyisten, angebliche Alkoholprobleme, eine Geheimdienstaffäre – in Brüssel werden immer neue Gerüchte gegen Jean-Claude Juncker gestreut. Doch der Kandidat für die EU-Kommissionsspitze taucht ab“ – dazu ein Foto der Agentur Reuters, auf dem sich ein (wohl nach langer Sitzung) müde aussehender Juncker mit einem Taschentuch die Stirn abwischt. Am nächsten Tag wird ergänzt: „Angela Merkel bekommt einen Kommissionschef, den sie eigentlich nicht wollte. Und die Wähler dürfen fünf Jahre auf einen wirklich fähigen Kandidaten warten“ (27.06.2014). Wer dies allerdings schon jetzt gewesen sein könnte, bleibt unfassliches Geheimnis.

Überboten wird das noch in „Süddeutsche.de“ (26.06.2014), die auf einem dpa-Foto Juncker in geradezu brutalstmöglicher Entstellung einer Großaufnahme vorführt: Oben ein Teil des Kopfes weggeschnitten, unten Mund und Wange von Mikrofonen verdeckt, die Augen geschlossen und verdunkelt, ein großes Taschentuch auf der in extremer Nahaufnahme besonders faltigen Stirn (Juncker ist übrigens einige Monate jünger als Kanzlerin Merkel). Darunter der Text zu dieser Bild-Kampagne: „Warum Juncker nicht der Richtige ist“ (und Link zu einem Video-Kommentar mit u.a. der These „Cameron sagt, was viele denken“), sowie der nachfolgenden Behauptung: „Die Durchsetzung Junckers als Kommissionspräsident ist ein plumper Missbrauch der europäischen Institutionen“. Weil offenbar jenes Foto dermaßen „schön“ (auf persönliche Herabwürdigung zielend) zu darunter platzierten Gerüchten passt, dass Juncker „raucht“ und „trinkt“, bringt es taggleich auch „Handelsblatt.com“ mit Bezugnahme auf britische Presse – unter der insofern auf die Kolporteure zurück verweisenden Frage: „Schmutzige Kampagne?“ Zwar verzichtet der betreffende „FAZ.net“-Artikel auf derlei Text-Garnierung, zeigt aber ebenso taggleich (26.06.2014) jenes indiskret-diskreditierende Foto unter der solches Negativ-Campaigning komplettierenden Schlagzeile „Gelähmtes Europa“, mit fast schon verschwörungstheoretischer Unterstellung: „Vielleicht hatten die Erfinder des ‚Spitzenkandidaten’ genau das im Sinn.“

In „WELT.de“ wurde frühzeitig (28.05.2014) eine sich als vergeblich erweisende Politikberatung betrieben: „Merkel sollte diese Schein-Demokratie blockieren“, denn es handele sich um ein „Selbstermächtigungsprojekt“ unter dem „heimlichen Anführer Martin Schulz (SPD)“. Auf „Cicero Online“ (11.06.2014) wird „Der absurde Zirkus um Jean-Claude Juncker“ über einem Foto mit Kanzlerin Merkel in einem Boot mit Cameron (und dem rechtsliberalen niederländischen sowie derzeit konservativen schwedischen Regierungschef) ganz ähnlich polemisch als „ein illegitimer Akt der Selbstermächtigung“ und „bewussten Wählertäuschung“ beklagt. In der FAZ.net-Wirtschaftsredaktion, die u.a. auch „Noch mehr Geld nach Südeuropa“ fließen sieht (01.06.2014), ist gar der britische Premier unter der Überschrift „Mehr davon, Mister Cameron!“ zum „Gewinner der Herzen“ stilisiert, zumal „die Briten“ für „Freiheit der Wirtschaft“ und „gegen Umverteilung der Vermögen“ einstehen (28.06.2014). Mehr Cameron lässt sich aber (was unerwähnt bleibt) in Deutschland nur bekommen, wenn man die Fraktionskollegen der britischen Konservativen, nämlich die AfD-Wirtschaftsfreiheitskämpfer und Anti-Umverteiler Henkel und Lucke unterstützt.

Noch einen Schritt weiter geht der Londoner Korrespondent für FAZ.net (27.05.2014): Der im EU-Parlament wesentlich durch Polemik und teilweise auch persönliche Beleidigungen (die wohlbemerkt als „Hit auf der Videoplattform ‚Youtube’“ empfohlen werden) auffallende Nigel Farage wird als „Der Gentleman unter den Populisten“ vorgestellt und zu einem „fast liebenswerten Volkstribun“ erhoben: „Seine schnörkellose Sprache und sein breites Lachen, das meistens mit einem Glas Bier in der Hand korrespondiert, haben ihn zur fast archetypischen Gegenfigur des politischen Establishments werden lassen ... Statt zu studieren verdiente Farage lieber Geld in der City“. Dazu wird dann auch noch „seine deutsche Ehefrau“ mit der Besorgnis zitiert, „dass ihr Mann zu viel trinke und zu viel rauche“, aber das gehöre offenbar derart „zum ‚Lifestyle’ ihres Mannes, dass wohl auch dies wieder zugunsten des neuen politischen Helden ausschlägt“. Das aber ganz im Unterschied zum herabwürdigenden Tenor, mit dem bezüglich Junckers solche Begleiterscheinungen eines Berufspolitiker-„Lifestyles“ präsentiert werden!

Sogar in der „ZEIT Online“, wo sich auch die Positiv-Variante „Europa springt nach vorne“ findet (27.06.2014), liest man am gleichen Tag die Negativ-Schlagzeile des Europa-Korrespondenten: „Auch die EU hat verloren“, und direkt weiter: „Die Nominierung Jean-Claude Junckers ist kein Triumph der Demokratie. Sie bedroht den europäischen Zusammenhalt.“ Im Kleingedruckten wird dann ersichtlich, dass es bei solcher Bedrohung zunächst nur um die Haltung Camerons geht: „Großbritannien will nicht länger Teil einer immer engeren Union sein. Der Triumph der europäischen Demokratie könnte sich noch als ein schwarzer Tag für die europäische Integration erweisen.“ Die im Online-Journalismus grassierende bunte Vermischung von Information und Meinung ist erneut offensichtlich. Denn wie eingangs mit dem „SPIEGEL“ zitiert, ließe sich genau umgekehrt aus dem klärenden Entscheidungsdruck für Großbritannien auch eine neue Chance der EU-Integration herauslesen. Ersichtlich geht es also um verschiedene Grundauffassungen, die sich allerdings gegenüber den Zeiten der Kanzler Brandt/Schmidt oder Kohl (also beide Volksparteien umfassend, insoweit die FDP Scheels/Genschers oder später die Grünen J. Fischers einschließend) in der veröffentlichten Meinung nun ganz unübersehbar im Sinne von „EU-Skepsis“ verschoben haben. Ebenso deutlich tritt hervor, dass Verständnis oder offene Sympathie für die EU-Dissidenz Camerons mit einem betont wirtschaftsliberalen Profil einhergeht. Dieses macht Teile der „bürgerlich-konservativen“ Publizistik nach dem Verfehlen der 5 Prozent-Hürde zum Bundestag gleichermaßen durch FDP und AfD gewissermaßen zur außerparlamentarischen Opposition.

Weniger bekannt oder bewusst dürfte sein, dass derartige Nähe zum angelsächsischen Typus von (wenig sozialer) Marktwirtschaft häufig auch mit außenpolitischen Präferenzen in „atlantischer“ Richtung einhergeht, wozu enger werdende EU-Integration ohnehin kaum passend erscheint. Durch „Netzwerkanalyse“ lässt sich in publizistikwissenschaftlicher Empirie nachweisen, dass besonders außen- und europapolitische Kommentatoren von „WELT“, „FAZ“ und „Süddeutsche“ (beide letztgenannte oben auch mit der Anti-Juncker-Kampagne zitiert), in zweiter Linie auch noch der „ZEIT“, in ein sicherheitspolitisches „Elitenmilieu“ mit erkennbarer NATO- und US-Affinität einbezogen sind – dies aber ohne gleichwertige EU-Verbindungen. Jenseits solcher Unterstellungen wie umgekehrt im Falle Junckers lautet das Analyse-Fazit recht behutsam: „Journalisten werden von Politik- und Wirtschaftseliten nur dann kooptiert, wenn sie keine allzu kritischen Einstellungen aufweisen, und die Einbindung in das Elitenmilieu macht es immer unwahrscheinlicher, dass ein Konsens unter Eliten hinterfragt wird“ (Krüger 2013, S. 28). In der Online-Version des „Wall Street Journal“ (10.07.2014) wird nun sogar das geheimdienstliche Ausspionieren deutscher Amtsträger mit wirtschaftlichen Verbindungen zum Iran und Russland (und nicht nur dem vermeintlich allgegenwärtigen Terrorismus) offensiv gerechtfertigt. Das ist vielleicht ein weiterer Gesichtspunkt, über den Eigenwert der Europäischen Integration anlässlich der heutigen Wahl Jean-Claude Junckers im EU-Parlament (mit 422 gegen 250 Stimmen) zum Kommissionspräsidenten noch einmal gründlich nachzudenken.


Quellen:

David Bebnowski/Lisa Julika Förster: Wettbewerbspopulismus. Die Alternative für Deutschland und die Rolle der Ökonomen (OSB-Arbeitspapier Nr. 14), Frankfurt a.M. 2014.

Uwe Krüger: Die Nähe zur Macht, in: Message 1/2013, S. 22–28 (ausführlich ders.: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse, Köln 2013)

BILD.de:
– Dirk Hoeren: Wird der Juncker-Deal ein ganz schmutziges Ding?, 18.06.2014.
– ders.: Was kassiert Juncker nebenbei ab?, 25.06.2014.

Cicero Online:
– Alexander Marguier: Der absurde Zirkus um Jean-Claude Juncker, 11.06.2014

FAZ.net:
– Jochen Buchsteiner: Der Gentleman unter den Populisten, 27.05.2014
– Lisa Nienhaus: Noch mehr Geld nach Südeuropa, 01.06.2014
– dies.: Mehr davon, Mister Cameron!, 28.06.2014
– Klaus-Dieter Frankenberger: Gelähmtes Europa, 26.06.2014
– Nikolaus Busse: Europäischer Präzedenzfall, 29.06.2014

Handelsblatt.com:
Schmutzige Kampagne? (dpa), 26.06.2014.

SPIEGEL Online:
– Wolfgang Münchau: Juncker ist der Falsche, 02.06.2014
– ders.: Warum ein EU-Austritt der Briten von Vorteil wäre, 30.06.2014
– Gregor Peter Schmitz: Brüssel rätselt über Junckers Schweigen, 26.06.2014

Süddeutsche.de:
– Stefan Kornelius: Coup des Parlaments, 26.06.2014

WELT.de:
– Ulrich Clauß: Merkel sollte diese Schein-Demokratie blockieren, 28.05.2014

WSJ.com:
Our Friends the Germans, 10.07.2014

ZEIT Online:
– Ludwig Greven: Europa springt nach vorne, 27.06.2014
– Matthias Krupa: Auch die EU hat verloren, 27.06.2014