Klaus Hänsch, Präsident des Europ. Parlaments a.D.

von Klaus Hänsch

 Die aktuelle Schuldenkrise bindet die Aufmerksamkeit von Politik und Medien. Dahinter bleibt die latente Krise der Außen- und Sicherheitspolitik der Union fast unbemerkt.

In globkult hat Egon Bahr über »Unzeitgemäßes zur Freiheit Europas« geschrieben und eine sorgfältige Analyse der neuen Lage Europas in der veränderten Welt angemahnt. Dazu hat er selbst einen scharfsinnigen Beitrag geliefert. Zugleich hat er an die strukturellen Mängel der Europäischen Union und die unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten ihrer Mitgliedstaaten erinnert. Seine Gedanken sind eine Debatte wert und die führt mich zu einigen Ergänzungen und Gewichtsverschiebungen.

I.

Geographie prägt, militärisches, ökonomisches und demographisches Gewicht auch, Geschichte nicht weniger. Sie sind keine starren Gegebenheiten, sie verhalten sich zueinander. Dabei verschieben sie die geostrategische Lage (fast) aller Akteure in der Weltpolitik – auch die Europas – und verändern die Definition von Interessen und die Wahrnehmung von Bedrohungen – auch in Europa.

Die USA sind die einzige Supermacht der Welt und sie wollen es bleiben. Sie sind nicht besiegbar, aber verwundbar. Russland reiht sich dank seiner Rohstoffe und Putins ›vaterländischem‹ Ehrgeiz in den neuen Kreis weltweit um Einfluss konkurrierender Mächte ein. China ist Welthandelsmacht mit territorialen Ansprüchen und regionalen militärischen Ambitionen und wachsenden inneren Problemen. Brasilien, Russland, Indien, China (BRIC) sind als Gruppe kein Akteur, suchen aber einzeln in der neuen Multipolarität der Welt nach multiplen Optionen. Die Europäische Union ist als größter Wirtschaftsraum der Erde eine Weltmacht ohne Selbstbewusstsein. Deutschland ist geographisch, wirtschaftlich und politisch die zentrale Macht in Europa. Für Deutschland ist die Einbindung in sie essentiell, für die Union ist sie existentiell.

Die Europäische Union hat keine außen- und sicherheitspolitische Identität, aber ihre Mitgliedstaaten haben gemeinsame Interessen:

Die Versorgung mit weltweit knapper werdenden Rohstoffen und Energie sichern: Dafür muss sie ihr ökonomisches Gewicht bei der Diversifizierung der Lieferanten und der Ressourcen in die Waagschale werfen können und sich an der Sicherung der Transportwege beteiligen.

Das Übergreifen außer staatlicher Kontrolle geratener Konflikte ›gescheiterter‹ Staaten auf Europa verhindern: Durch die Fähigkeit und Bereitschaft zu Krisenprävention oder Krisenbeseitigung auch unter Einsatz militärischer Mittel.

Die politische, soziale und gesellschaftliche Stabilität der Nachbarschaft der EU verstärken: Durch das Angebot vertiefter Partnerschaften in Osteuropa, Nordafrika und im Nahen Osten mit einer Union, die keine territorialen Ansprüche hat und Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit unterstützt, ohne sie anderen aufzuzwingen.

Die Risiken der Globalisierung von Handel, Finanzen und Technologien verringern und die Chancen nutzen: Die Union kann und muss Wettbewerbsregeln und Währungsfragen auch als internationale Machtfragen behandeln. Auch darum geht es bei der ›Rettung‹ des Euro.

Sich vor militärischer Erpressung schützen: Durch weltweite Intensivierung und Diversifizierung gegenseitiger Abhängigkeiten und Mitarbeit an der Reform der Nato, die das Bündnis militärisch unersetzlich und politisch unerschütterlich hält.

Bei der Verfolgung dieser Interessen gibt es zwischen den EU-Mitgliedstaaten verschiedene Ansichten über Prioritäten und Engagement, aber keine Antagonismen (mehr). Das gilt auch für Großbritannien. Und sie haben es alle nicht nur, aber zuerst mit der über den Atlantik hinweg verbündeten Supermacht USA zu tun und sodann mit der auf dem Kontinent benachbarten Großmacht Russland.

Die USA werden ihre Aufmerksamkeit verstärkt ihre ökonomischen, politischen und militärischen Interessen dem pazifischen Raum zuwenden – ob Europa künftig mit einer Stimme spricht oder nicht. Dennoch bleiben sie mit Europa verflochten und verbündet und die Europäischen Nationen im weltweit stärksten Bündnis unter amerikanischer Führung. Die wirtschaftlichen Bindungen bleiben für beide Seiten essentiell, die persönlichen Verbindungen enger als mit jedem anderen Teil der Welt. Beide gehören zum ›Westen‹. Dessen wirtschaftliche Kraft und pluralistische Gesellschaftsordnung ist für den größeren Teil der Welt immer noch Beispiel und Referenz, für manche aber inzwischen auch Objekt des Hasses und der Verachtung. Für Europa sind die USA der Verbündete – einen bessern find' es nicht.

Russland ist Europas Nachbar – einen wichtigeren hat es nicht. Es ist eine europäische und zugleich eine asiatische Großmacht. Mit der Europäischen Union ist es in vielfältiger gegenseitiger Abhängigkeit und Misstrauen verbunden. Rund ein Viertel ihrer Importe an Öl und Gas kommen aus oder über Russland, das seinerseits als eine von Europa abgeschottete Wirtschaftsmacht nicht leben könnte. Die Russische Föderation leidet in ihren Beziehungen zu ihren unmittelbaren Nachbarstaaten an einer Art »Phantomschmerz« (NRZ) und an Verlustängsten. Sie ist aber keine ideologische Macht und keine verkleinerte Ausgabe der Sowjetunion.

Zarenreich und Sowjetunion haben sich immer als europäische Macht und zugleich durch Abgrenzung zu Europa definiert. Putins Russland tut es auch. Es ist ein europäisches, aber kein westliches Land. Seine Völker übernehmen westlichen ›Lifestyle‹, aber nicht westliche Werte. Daran wird Europa nichts ändern. Und wenn es die Völker zwischen Karelien und Kamtschatka selbst tun, wird das die sicherheitspolitische Position der Union nicht erleichtern.

Sowohl die USA als auch Russland versuchen hin und wieder, Teile der EU für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Noch jeder US-Präsident hatte, wenn es um amerikanische Interessen ging, das Auseinanderdividieren von EWG, EG oder EU im Instrumentenkoffer seiner Europapolitik – von den verschiedenen Handels»kriegen«, über das »Röhrenembargo«, den in Washington formulierten Brief zur Unterstützung der US-Intervention 2003 im Irak bis zur Meads-Planung. Washington wusste immer zwischen ›Willigen‹ und ›Unwilligen‹ zu unterscheiden, drückte es früher nur etwas höflicher aus. Einfluss auf die amerikanischen Entscheidungen erlangten weder die Willigen, noch die Unwilligen.

Russland wiederum spielt mal so am Gashahn, dass einige EU-Mitglieder frieren und andere nicht. Mal lässt es zu, dass ein Cyberangriff die Verwundbarkeit eines kleinen benachbarten EU-Staats testet. Mal droht es mit ›Nachrüstung‹ und setzt einzelne EU-Staaten unter Druck, sich dem amerikanischen Raketenschirm zu widersetzen.

Die aus einst mächtigen Nationalstaaten zusammengesetzte Europäische Union ist ein verletzliches Gebilde. Mehr als die amerikanische Hinwendung zum Pazifik und die gestiegene Bedeutung der Rohstoffabhängigkeit Europas von Russland, gebietet der Bestand der Union selbst eigenständiges außen- und sicherheitspolitisches Handeln. Die veränderte Wahrnehmung ihrer Geographie, Gewichte und Geschichte in der Welt zwingen die Europäer, ihre neue geostrategische Lage zu akzeptieren. Für die USA mag es um die Festigung ihres Supermachtstatus gehen, für Russland um einen als angemessen empfundenen Platz in der neuen Weltordnung. Für Europa geht es um Selbstbehauptung oder Selbstaufgabe.

II.

Ist da Raum für eine Politik der Selbstbehauptung Europas in der Welt? Hat die Union dafür das Potential, die Struktur und den Willen? Egon Bahr sagt mit süffisantem Bedauern ›Nein‹. Weit hergeholt ist das nicht. Zwischen Ansprüchen und Kapazitäten klaffen riesige Lücken. Von militärischer Eigenständigkeit kann ernsthaft keine Rede sein. Die Union ist eine Macht mit starken Grundsätzen und schwachem Willen, ohne außen- und sicherheitspolitische Identität und demokratisch ausreichend legitimierte Führung. Und die einst von Kissinger (nicht ernsthaft) angemahnte Telefonnummer hat sie immer noch nicht.

Das ist eine Betrachtung Europas durch die Brille der Supermacht. Eine zureichend realistische Beschreibung der globalen Wirklichkeit, die statt auf Machtkonfrontation auf Machtkonkurrenz und differenzierte Kooperation setzt, ist das nicht. Egon Bahr verdichtet die ›Freiheit‹ Europas zu der Fähigkeit, der westlichen Führungsmacht ›nein‹ sagen zu können. Europa braucht aber keine ›Selbstbefreiung‹. Von welcher Unterdrückung eigentlich? Es findet sein Selbstbewusstsein in einem Ja zu sich selbst, nicht in einem Nein zu Amerika. Selbstbehauptung heißt, zur Abgrenzung fähig zu sein, Ablehnung muss daraus nicht werden. Europa ist so ›frei‹ oder ›unfrei‹ wie es alle sind, die in der Welt als Partner auf Augenhöhe kooperieren wollen und müssen.

Die USA haben die Einigung Westeuropas stimuliert und gegen manchen Störversuch von innen und außen protegiert. Im Windschatten der USA hatte und brauchte die Europäische Einigung keine außen und sicherheitspolitische Dimension. Die Europäer verdanken der Festigkeit und Glaubwürdigkeit der amerikanischen Politik – auch der militärischen übrigens – die Überwindung der politischen Spaltung und das Ende der militärischen Konfrontation auf ihrem Kontinent.

Auf die neue Lage reagierte die Europäische Union mit der Erweiterung nach Mittel-und Osteuropa und der Vertiefung der Integration. Seit 1992 steht nicht nur die Währungsunion, sondern auch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im EU-Vertrag. Die Währungsunion wurde 1999 fertiggestellt. Mit der Operationalisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erst 1999 begonnen. Sie blieb bis heute im Schatten der Währungsunion.

Dennoch hat Europa, in Abstimmung mit den USA, aber ohne deren Mitwirkung, außen und sicherheitspolitisch agiert: Diplomatisch im Georgien-Russland-Krieg, militärisch im Kosovo, Kongo und vor der somalischen Küste – insgesamt 23 Aktionen in den letzten zehn Jahren. Sie mögen weltpolitisch von geringer Relevanz gewesen sein. Aber was für die Union als ein (zu) kleiner Schritt gelten kann, war zumindest für einen Mitgliedstaat ein großer: In Deutschland wurde vor 20 Jahren noch erbittert über die Beteiligung deutscher Soldaten UN-Blauhelm-Aktionen gestritten. Bis 1998 war es hierzulande nahezu Konsens, dass kein deutscher Soldatenstiefel mehr Balkan betreten dürfe. Das wurde damals in Europa durchaus nicht überall als ein Ausdruck neuer deutscher Friedfertigkeit angesehen.

Die klaffenden Lücken im außen- und sicherheitspolitischen Instrumentarium der Union hat der Lissabon-Vertrag von 2009 nur unzureichend gefüllt. Freilich war unter den Autoren des Verfassungsvertrages niemand so naiv zu glauben, dass Vertragsartikel und ein europäischer ›Außenminister‹ mit einem eigenen Diplomatischen Dienst schon eine gemeinsame Politik sind.

Niemand konnte erwarten, dass die Union nur zweieinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrages neben den Großen der Welt als ebenbürtiger Partner auftritt und Europa schon ›mit einer Stimme‹ spricht. Die Union muss nicht einstimmig singen, sollte sich allmählich aber mal auf das gleiche Lied einigen, den Text deutlicher vernehmbar machen. Es fehlt nicht an Fähigkeiten, sondern am Willen. Europas Handlungsfähigkeit leidet weniger an einem institutionellen als an einem politischen Defizit.

Das zeigt sich auch daran, dass die Mitgliedstaaten nicht einmal die zwar schwachen, aber doch vorhandenen Vorkehrungen des Lissabon-Vertrages nutzen. Die darin vorgesehene Rüstungszusammenarbeit für eine kosteneffektive und strategieorientierte Verbindung zwischen Sicherheit und Verteidigung kommt nur zögernd und stockend voran. Ein gemeinsames Instrumentarium für Aufklärung (Galileo), Führung (Hauptquartier) und Transport (AM 400 und Hubschrauber) steht noch immer nicht bereit. Der für Fortschritte notwendige Konsens zwischen den vier bis sechs EU-Staaten, die über ein nennenswertes politisches und militärisches Potential verfügen, gibt es nur in Ansätzen.

Folglich ist das außen-und sicherheitspolitische Radar der US-Administration auf Europa, nicht auf die EU gerichtet. Und wenn die wider Erwarten doch auf dem Schirm erscheint, versteht kaum jemand so recht, was die Union eigentlich ist. Das geht übrigens auch manchen Entscheidungsträgern in europäischen Hauptstädten so. Die werden dann freilich sehr schnell durch den Europäischen Rat ›sozialisiert‹.

Die vielen Defizite, Vorbehalte und Unschärfen Europas, zum Beispiel bei der politischen Bewertung von Menschenrechtsverletzungen, dem Waffenembargo gegen China, der fehlenden gemeinsamen Energiepolitik, den Aufständen in Nordafrika und Syrien, sind das eine. Das andere ist, dass keiner der EU-Staaten für sich allein mehr Einfluss als die Union auf den Gang der Dinge in Washington, Moskau oder Peking, im Nahen und Mittleren Osten oder in Nordafrika hätte.

III.

Kann eine Union, die kein Staat ist, eine Weltmacht sein? Eine militärische sicher nicht. Sie bleibt auf das westliche Bündnis angewiesen. Eine Doppelung der Strukturen und Fähigkeiten kommt für niemanden in Frage, schon aus finanziellen Gründen nicht. Bei der Reform Auftrag und Gestalt der Nato (»out of area or out of business«) sowie beim Aufbau einer europäischen Raketenabwehr, der Nato-Eingreifkräfte und des Smart-Defence-Concept, spielt die Union keine Rolle. Wie sollte sie auch. Die Nato ist eine Allianz von Staaten und die EU ist nun einmal keiner.

Eine europäische Armee, die nach Egon Bahr »in der Logik« läge und die mehr sein müsste als ein Konglomerat von verschiedenfarbigen ›Eurokorps‹ oder ›Battle-Groups‹, setzt mehr verteidigungspolitische Identität, festere staatliche Strukturen und breitere demokratische Legitimation voraus als die Union in einer überschaubaren Zukunft erreichen kann.

Also statt ›hard security‹ nur ›soft security‹ und zu ›Second-order-policy‹ mit Diplomatie, Wirtschaft, Kultur verurteilt? So mag die Union in der realen Welt der Mächte belächelt oder ignoriert werden – machtlos ist sie nicht. Und was heißt ›Second-order-policy‹? Der größte Wirtschaftsraum der Erde steht – Schuldenkrise hin oder her – für 21 Prozent der Wirtschaftsleistung in der Welt. Er setzt Standards und Regeln mit weltweiter Wirkung. Er hat Macht, aber die bleibt undeutlich.

Für Washington wie für Moskau sind London, Berlin und Paris weiterhin die ersten Adressen in Europa. Und beide haben noch ein paar andere, ehe Brüssel an die Reihe kommt. Peking sieht das nicht anders. Aber für viele der Mittleren und Kleinen in der Welt ist die EU immer mehr zur zweiten Adresse nach Washington geworden. Vorrangig in ökonomisch-finanzpolitischen Fragen, gewiss, aber das sind zunehmend auch Sicherheitsfragen. Sie nehmen die Union als einen beispielhaften Regelungsmechanismus für politische und wirtschaftliche Konflikte wahr – und als einen Akteur, der die Optionen vieler Staaten in der Welt vermehren kann.

Wenn Europa die Welt vor allem als Konfrontation von Souveränitäten versteht, vergibt es die Möglichkeiten und Chancen einer Politik, die sich der Globalisierung nicht ausliefert, sondern sie mitgestaltet. Der Welt ist die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland herzlich egal. Die fortbestehenden innereuropäischen Rivalitäten und historisch begründeten nationalen Befindlichkeiten sind es auch. Entweder erkennt die Union, dass die Welt für Europa relevant ist, oder die Welt wird Europa zeigen, wie irrelevant es für sie ist – erst politisch, dann ökonomisch, schließlich auch kulturell.

Die Europäische Union ist eine Weltmacht ohne Führung. Der Amtszuschnitt des Präsidenten des Europäischen Rates macht ihn zum Moderator, nicht zum Gouvernator in der Union. Sich über die politische Unsichtbarkeit der »Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik« zu mokieren, ist leicht. Sie wurde es, weil die europäischen Sozialdemokraten unbedingt eine sozialdemokratisch-britisch-weibliche Person als Vorsitzende des EU-Außenministerrats und Vizepräsidentin der EU-Kommission sehen wollten. Es ist schwer zu akzeptieren, dass von Deutschland in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weder konzeptionell, noch materiell viel zu spüren ist.

In Europa ist Deutschland eine Großmacht, lebte aber Jahrzehnte lang mit der Genügsamkeit einer Mittelmacht. Es glaubte, seinen Interessen diene es am ehesten, wenn es im politischen Mittelfeld der Union agiere. Das war nicht falsch, hat sich aber durch die Schuldenkrise als Tarnung entlarvt. Sie hat aufgedeckt, dass nicht nur Deutschlands Tun, sondern auch sein Lassen weiter, tiefer und unmittelbarer in die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aller Staaten in der Union hineinreicht als das jeden anderen Mitglieds. Deutschland ist nun einmal geographisch, ökonomisch und politisch zentrale Macht und die kritische Masse für jede positive und negative Entwicklung der Union.

Europa braucht Führung. Es erwartet sie nicht von Personen, sondern von Deutschland. In die zweite Reihe zurückzutreten oder sich wegzuducken, gilt nicht mehr als Bescheidenheit, sondern als Verantwortungslosigkeit. Diese Wahrnehmung zu bestätigen, liegt nicht im deutschen Interesse. Ohne Einordnung wird Deutschland in Europa isoliert. Ohne deutsche Führung kommt Europa nicht weiter. Diesen Spagat müssen wir aushalten. Das ist deutsche Staatskunst im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

Führen heißt nicht herrschen, sondern Partner mitnehmen, die kleinen wie die großen. Frankreich bleibt dabei unerlässlich. Das wird von den anderen Mitgliedstaaten immer wieder als ›Diktat‹ kritisiert und immer wieder als Forderung erhoben. Egon Bahr meint, der »deutsch-französische Motor« reiche nicht mehr und hält ihn für ein »Bild aus der überholten Ära des Ost-West-Denkens«. Der Motor reichte nie, aber ohne ihn ging nichts voran. Das bleibt so. Und mit der kurzen Ära des Ost-West-Denkens hatte er nie etwas zu tun, sondern mit den Erfahrungen, die alle europäischen Staaten in den vergangenen 200 Jahren mit dem deutsch-französischen Antagonismus gemacht haben. Auch Geschichte prägt.

IV.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts ging es um die Einigung Europas zu einem dauerhaften Frieden und wirtschaftlichen Wiederaufstieg durch die Zusammenlegung bestimmter nationaler Souveränitätsrechte. Am Beginn des neuen Jahrhunderts geht es um die Verbindung von Einheit und Demokratie in der Europäischen Union und um die Selbstbehauptung Europas in der Welt. Das fordert Entscheidungen von der gleichen Tragweite wie zu Beginn der Einigung Europas vor sechzig Jahren. Dafür ist die Union noch nicht hinreichend gerüstet, weder vertraglich, noch politisch, noch mental.

Unter dem Gewicht der Währungsunion und ihrer Staats-und Bankenschulden sind auch bisher für sakrosankt gehaltene Teile der nationalen Souveränität über Staatshaushalt, Steuern und soziale Sicherungssysteme zerbröselt. Die Existenzfragen der Union werden zwar weiterhin von den Mitgliedstaaten entschieden, die Existenzfragen der Mitgliedstaaten aber zunehmend von der Union.

Es ist wahr: Nation und Europa sind keine Gegensätze. Wenn die Deutschen bis heute glauben, diese Tatsache immer wieder unterstreichen zu müssen, haben sie wohl in den fünfziger Jahren etwas missverstanden. Die Europäische Union stammt ja nicht von einem anderen Stern. Sie ist von den Nationalstaaten gegründet und von ihnen weiterentwickelt worden. Die Einigung Europas sollte den Nationalstaat zähmen, aber nicht auflösen. Er wird immer schwächer und bleibt doch unersetzlich – nicht für die Welt, aber für die Einigung Europas und für die Demokratie in der Union. Nur dort hat er noch einen Einfluss auf den Gang der Dinge, der seiner früheren Bedeutung nahe kommt.

Wahr ist auch, dass die Demokratie historisch mit dem Nationalstaat eng verbunden ist. Sie setzt voraus, dass dieser die wichtigsten Probleme der Nation autonom lösen kann. Das kann er zweifellos nicht mehr. Immer mehr Staaten verlagern Entscheidungen mit hoher gesellschaftlicher Bedeutung in außerstaatliche Organisationen. In die Europäische Union, aber auch in die WHO, den IWF, die UNO mit ihren Unterorganisationen, die Weltbank und die G 7- bis G 20-Gipfel.

Unter ihnen ist die Union die einzige, die den Bürgern – ausbaubedürftige! –Mitentscheidung und Machtkontrolle durch ein direkt gewähltes Parlament bietet, den Einfluss eines Staates auch nach seiner Bevölkerungszahl gewichtet und den nationalen Volksvertretungen die Mitwirkung auf der transnationalen Ebene ermöglicht. Das weltweit erste Projekt einer transstaatlichen Demokratie kann und darf die nationalstaatliche Demokratie und ihren Parlamentarismus nicht kopieren. Die Unionsdemokratie ist nicht anstelle, sondern als eine unerlässliche Erweiterung der nationalen Demokratien zu konstruieren.

Muss die Union, damit aus ihr etwas wird, bereit sein, ohne Großbritannien zu handeln? Hatte de Gaulle doch Recht, als er sich gegen den Beitritt des Vereinigten Königreichs wandte? Die EWG der sechziger Jahre ist nicht die heutige Union und das Vereinigte Königreich nach vierzig Jahren Mitgliedschaft nicht mehr dasselbe wie damals. Ohne Großbritannien würde der gemeinsame Nenner der übrigen 26 keineswegs nennenswert größer. Im Übrigen hat Cameron beim Abschluss des Fiskalpakts zum ersten Mal seit 1955, als es die Verhandlungen über die Gründung der EWG in Messina verließ, den Grundsatz ›dabei sein, um zu verhindern‹ aufgegeben. Das wird sich wiederholen, wenn die Mehrheit der restlichen 26 Staaten zeigt, dass ihr gemeinsamer Nenner ohne Großbritannien tatsächlich wesentlich größer ist. Zweifel sind angebracht.

Der Verfassungsvertrag sollte der Union Staatsähnlichkeit verleihen. Gerade deswegen ist er in den Volksabstimmungen in Frankreich, Irland und den Niederlanden abgelehnt worden. In der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik tritt nicht nur Großbritannien, sondern immer wieder auch Deutschland auf die Bremse. Da gibt es den Parlamentsvorbehalt beim Einsatz deutscher Streitkräfte und da gibt es auch grundsätzliche Bedenken gegen den Einsatz von ›Gewalt‹, den die Mehrzahl unserer Partner in seiner Grundsätzlichkeit nicht nachvollziehen kann. Großbritannien will die Union erweitern, um sie aufzuweichen. Das ist britische Realpolitik. Wer in Deutschland die Erweiterung und die Stärkung der Union will, ist bloß naiv.

Die Union hat die Erweiterung bislang als ein Instrument ihrer Außen- und Sicherheitspolitik angesehen. Das war immer falsch. Es geht nicht um ein Instrument, sondern um die Existenz der Union. Die Fortsetzung der bisherigen Erweiterungspolitik entleert sie zu einem ›Raum‹. Ein Raum ist kein politischer Akteur. Er ist eine Einladung an andere Mächte, sich in ihm zu tummeln. Die Geostrategen in Washington und in manchen Hauptstädten Europas halten die Union erst nach einer Aufnahme der Türkei, und danach der Ukraine, Moldawiens und Georgiens, für groß genug, in der multipolaren Welt mit den anderen ›global players‹ mitzuhalten. Das ist geopolitscher Größenwahn. Größe ist kein Gewicht und Selbstbehauptung erfordert Selbstbeschränkung.

Eine größere Union ist nicht ›mehr Europa‹. Sie braucht keinen neuen, sondern einen ergänzten Vertrag. In fünf Jahren steht die Integration des Fiskalpakts in den Vertrag von Lissabon an. Das muss auch für eine Verstärkung der außen- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit und zu einer Gemeinsamen Politik der Energieversorgung genutzt werden. In diesen drei Bereichen muss das Europäische Parlament stärkere Mitentscheidungsrechte bekommen. Und vorher müssen die politischen Parteien operationalisieren, was jetzt schon möglich ist: Vor der Wahl zum Europäischen Parlament ihre Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten benennen und die Parlamentsmehrheit dafür erkämpfen, dass es einer oder eine von ihnen wird.

Dem Sirenengesang von der ›Finalität‹ sollte die Union nicht folgen. Der ist große Oper und klingt zu sehr nach ›Ende‹. Zur Erinnerung: Die Dämmerung der Götter beginnt mit der Fertigstellung der Burg. Das Unfertige ist dauerhafter als das Fertige, das Krumme lebensnäher als das Gerade. Jean Monnet, der ein Visionär war, weil er Realist blieb, sah, dass »Europa in den Krisen geschaffen … und die Summe der Lösungen sein wird, die für diese Krisen gefunden werden«. Sein visionärer Pragmatismus ist auch für Europas Zukunft nötig.

(Klaus Hänsch war Mitglied des Europäischen Parlaments von 1979-2009; Präsident des Europäischen Parlaments a.D.)

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