Karikatur Hitler-Horthy

von Patrick Pritscha

Politischer Wandel
Seit den Parlamentswahlen im April 2010 befindet sich Ungarn in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch. Das ›national-konservative‹ Wahlbündnis Fidesz-KDNP gewann mit insgesamt 67,88% eine Zweidrittelmehrheit und damit die Möglichkeit zur Verfassungsänderung (www.valasztas.hu/en/parval2010/298/298_0_index.html, 9.5.2011). Zusammen mit der ›rechtsradikalen‹ (zur Begriffsproblematik vgl. Wippermann 2009:284) Jobbik-Partei, welche 12,18% erreichte, sind 80% der Parlamentarier einer politischen Richtung zuzuordnen, die im deutschen Sprachgebrauch vorsichtig als ›rechts‹ oder ›rechtspopulistisch‹ eingestuft wird.

Nun sind Einschätzungen über die politische Ausrichtung von Parteien oder Bewegungen immer etwas zwiespältig. Gilt das ›Wollen‹ im kantianischen Sinne als Grundlage des Handelns, also als das, was die Aktuere äußern, oder doch eher - ganz konsequentialistisch – als Ergebnis der Praxis, also als das, was sie tatsächlich bewirken?

Spätestens seit der Verfassungsänderung in Ungarn zu Ostern 2011 dürfte dieses Unterscheidungskriterium endgültig hinfällig geworden sein. Die maßgeblichen Parteien in Ungarn reden nicht nur, sondern handeln entsprechend. Das Ergebnis fasst die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky kurz und prägnant zusammen: »Diese Verfassung tendiert sehr deutlich in Richtung eines völkischen Staates, in eine Richtung, in der die Kultur des Faschismus immer mehr dominiert.« (http://www.heise.de/tp/artikel/34/34646/1.html, 9.5.2011).
Damit ist ausgesprochen, was bisher nur wenige zu sagen wagten und ein Urteil gefällt, das im Kontext der europäischen Geschichte schwerer kaum wiegen dürfte.
Ob es gerechtfertigt ist, soll im Folgenden untersucht werden.

Was ist Faschismus?
Kaum ein Begriff dürfte mit größerer Beliebigkeit zur Charakterisierung oder vielmehr Diffamierung politischer Gegner verwendet worden sein als der des Faschismus. Kommunisten wie Grigori Sinowjew bezeichneten die Sozialdemokratie als »faschistischen Flügel der Arbeiterbewegung« (Gross 1967:161), umgekehrt galten Kommunisten für Kurt Schumacher als  ›rotlackierte Faschisten‹ – Zuschreibungen, die einen sachlichen Gebrauch des Begriffes nicht gerade erleichtern. Auch ein Definitionsversuch wie die so genannte Dimitroff-These, die den Faschismus als ein Herrschaftsinstrument der reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals bezeichnet, ist mehr als fragwürdig und enthält zudem durch die Begrenzung auf das Finanzkapital einen potentiell antisemitischen Beigeschmack.

Die im Alltagsgebrauch häufiger anzutreffende Ableitung aus der Herrschaftspraxis der Regime in Italien und Deutschland hilft allerdings auch nicht unbedingt weiter. Zum einen erklärt sie nicht die Ursachen für die Entstehung dieser Regime, zum anderen verstellt sie den Blick auf die Ideologie des Faschismus, die universell, und nicht an einige wenige Länder gebunden ist. Darüber hinaus besteht die Gefahr, Faschismus als ein Phänomen einer bestimmten europäischen Epoche in der Vergangenheit anzusehen, was in der Konsequenz den analytischen Zugang zu aktuellen politischen Entwicklungen in und außerhalb Europas verstellt (Wippermann 2009:12f.). Außerdem suggeriert er, dass Anhänger faschistischer Ideologie gleichsam ›Ewiggestrige‹ sind, was weder deren eigenem Anspruch noch den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, da der Faschismus schon immer anpassungs- und entwicklungsfähig war (Sternhell 2002:19ff.).

So muss es nicht verwundern, dass bis heute einige Schwierigkeiten in der Faschismus-Definition bestehen. Gehört die Dimitroff-These als erzwungenes Leitbild der ostdeutschen Geschichtswissenschaft mit dem Ende der DDR endlich der Vergangenheit an, so ist der Nachhall von Ernst Nolte und seinem 1963 erschienenen Werk Der Faschismus in seiner Epoche in der westdeutschen Historikerzunft immer noch deutlich spürbar, obwohl schon der Titel auf die bereits genannte problematische Epocheneingrenzung verweist und eine darüber hinausgehende Forschung lange Zeit nicht ernsthaft betrieben wurde.
Neue Definitionsmöglichkeiten und damit auch Analysewerkzeuge bieten hingegen u.a. die Arbeiten von Zeev Sternhell und Wolfgang Wippermann, die aus unterschiedlichen Ansätzen heraus erfolgen und einander ergänzen (Sternhell 1999, 2002, 2011; Wippermann 1983, 2009).

Zeev Sternhell - Faschismus als Gegenbewegung zur Aufklärung

Nicht die Untersuchung der Herrschaftspraxis eines Regimes liefert den Zugang zum Verständnis der ihr zugrundeliegenden Ideologie, sondern vielmehr die Zeit als politische Bewegung vor der Machtübernahme. Damit durchleuchtet Sternhell den Faschismus aus einer ideengeschichtlichen Perspektive und verortet dessen Ursprünge in Frankreich und Italien zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er unterstreicht ausdrücklich die Analyse des Faschismus, während dem deutschen Nationalsozialismus aufgrund seines betont biologischen Determinismus eine Sonderrolle zukommt (Sternhell 2002:16f.). Obwohl das für den deutschen NS typische ›Arierkonzept‹ vermutlich auf den Franzosen Gobineau um 1855 zurückgeht, spielte es in Frankreich eine untergeordnete Rolle, wurde dafür aber um so stärker in Deutschland aufgegriffen (Barth 2006:42).

Im Kontext der gesellschaftlichen Krisen jener Zeit - als deren jeweils politische Höhepunkte die Dreyfus-Affäre in Frankreich (1894) und das Scheitern des italienischen Kolonialabenteuers in Äthiopien (1896) angesehen werden können - entwickelte sich in Frankreich und Italien eine intellektuelle Bewegung, welche im Zeichen einer Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft stand und die vorherrschenden geistigen und politischen Ideen radikal in Frage stellte. Im Kern handelte es sich dabei um einen Generalangriff gegen Ideen der Aufklärung, die u.a. im Rationalismus, Positivismus, Materialismus, Humanismus, Universalismus, Liberalismus, den Menschenrechten, der parlamentarischen Demokratie, aber auch im Marxismus ihren Ausdruck fanden (Sternhell 2002:26-30).
In ihnen wurden die eigentlichen Ursachen für die Krisenerscheinungen gesehen, deshalb mussten sie überwunden und die Gesellschaft auf eine völlig neue Basis gestellt werden. In diesem Sinne ist der spätere Faschismus durchaus als eine revolutionäre Ideologie anzusehen, die sich selbst außerhalb des klassischen politischen Rechts-Links-Schemas verortet und zu beiden eine Alternative sein will (Sternhell 2002:106f.).

Ein Hauptgedanke, der von Anfang an eine maßgebliche Grundlage darstellt, ist die Ablehnung des Verstandes und der Vernunft - zugunsten einer Betonung des Antirationalismus und der Vorzüge des Instinktes als Grundlage eines ›natürlichen‹ menschlichen Handelns. Propagiert wird eine Wiedergeburt der Nation auf völkischer Grundlage, in der Erbe, Rasse und Umwelt maßgeblich für das menschliche Verhalten sind und ein autoritärer Staat die Lösung der sozialen Frage in Angriff nimmt.
Bereits im Jahr 1898 fand der französische Nationalist Maurice Barrès dafür einen angemessenen Begriff: »Sozialistischer Nationalismus« (Sternhell 2002:36).

Einen Schritt weiter ging im Jahre 1903 der ehemalige französische Sozialist Pierre Biétry, indem er eine National-Sozialistische Partei gründete, die ein Jahr später durch die Fédération des Jaunes de France abgelöst wurde und einen „Gelben Sozialismus“ propagierte (Sternhell 2002:37). Bemerkenswert an dieser Vereinigung war vor allem deren wirtschaftspolitisches Konzept, dessen Ziel nicht die Abschaffung des kapitalistischen Systems war, sondern das nationale Solidarität statt eines Klassenkampfes betonte, Zugang zu Eigentum statt Enteignung forderte und eine Beteiligung der Arbeiter am Unternehmensgewinn vorsah. Gepaart mit einer friedlichen Koexistenz von Gewerkschaft und Unternehmern sollte all dies durch einen starken Staat garantiert und überwacht werden. In den 1920er Jahren tauchte dieses Modell unter dem Namen Korporatismus im italienischen Faschismus wieder auf und fand europaweit Anhänger.

Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser intellektuellen Bewegung war ihr ausgeprägter Antisemitismus, der als ideales Werkzeug zur Integration von Proletariat und Kleinbürgertum in die nationale Gemeinschaft angesehen wurde (Sternhell 2002:37f). Dabei handelte es sich nicht um eine analytische Unterstellung aus heutiger Perspektive, vielmehr lässt sie sich in zeitgenössischen Äußerungen führender Vertreter wiederfinden. So schrieb Charles Maurras, ein führendes Mitglied der nationalistischen Action francaise im Jahr 1911: »Alles erscheint unmöglich oder ungeheuer schwierig ohne das Gottesgeschenk des Antisemitismus. Durch ihn kommt alles in Ordnung, die Schwierigkeiten werden beseitigt und alles vereinfacht. Wäre man nicht Antisemit aus patriotischer Überzeugung, so würde man es aus einfachem Nützlichkeitsdenken.« (Sternhell 1999:112).

Nach Sternhell sind alle wesentlichen Elemente des späteren Faschismus bereits vor Beginn des ersten Weltkrieges als fertiges Ideengeflecht ausgearbeitet – das einzige, was noch fehlte, dass diese Ideologie zu einer wirkungsmächtigen politischen Kraft werden konnte, waren die sozialen Rahmenbedingungen (Sternhell 2002:55). In der Folge des ersten Weltkrieges gewann der Faschismus vielfach eine Massenbasis und gelangte in Italien und Deutschland (hier als die besondere Form des Nationalsozialismus) durch die Unterstützung seitens der klassischen reaktionären Rechten an die Macht.

Vor diesem Hintergrund kann der Faschismus nicht mehr als eine Art historischer Unfall betrachtet werden, dem die Grundlagen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entzogen wurden. Vielmehr war er »ein extremer Ausdruck der Tradition der Gegenaufklärung« und der Nazismus ein »totaler Angriff gegen die Menschheit.« (Sternhell 2011:36). Und solange unsere Gesellschaft auf eben jenen Werten der Aufklärung beruht, bleibt der Faschismus ein jederzeit aktivierbarer und wirkungsmächtiger Gegenentwurf mit einem ausgesprochen intellektuellen Hintergrund. Deren Einzelbestandteile und Gedankengänge sind heute ebenso verbreitet wie vor über einhundert Jahren. Sternhell fasst sie zur abschließenden Charakterisierung des Faschismus zutreffend zusammen, wenn er schreibt: » (...) es genügt nicht, wenn ein Denker die irrationalen Komponente im menschlichen Verhalten gelten läßt, um ihn sofort zum Faschisten zu stempeln. Wird diese Feststellung jedoch zum System erhoben, wird der Rationalismus als Grundlage der sogenannten materialistischen Systeme abgelehnt, so stehen dem Faschismus Tür und Tor offen. Wenn der Antirationalismus zu einem politischen Werkzeug wird, zu einem Mittel für die Mobilisierung der Massen und zu einer Waffe gegen den Liberalismus, den Marxismus und die Demokratie, wenn er mit einem starken Kulturpessimismus, einem ausgeprägten Kult der Gewalt und der aktivistischen Eliten einhergeht, dann führt er zwangsläufig zu faschistischem Denken.« (Sternhell 1999:317f.).

Wolfgang Wippermann – Faschismus als generisches Phänomen
Sternhell konzentriert sich im Wesentlichen auf eine ideologische Analyse und arbeitet damit wesentliche Merkmale heraus, mit denen Denkmuster und Richtungen als faschistisch identifiziert werden können. Dabei beschränkt er sich bewusst größtenteils auf die Zeitspanne, in der entsprechende Parteien oder Bewegungen nicht als Regime geherrscht haben und deren Gedankengebäude somit noch nicht durch einen Regierungspragmatismus ›verwässert‹ waren.

Einen Vorschlag zur Klassifizierung herrschender Regime liefert hingegen der Ansatz von Wolfgang Wippermann (2009). Ausgehend von dem Standpunkt, dass es sich beim Faschismus sowohl um ein epochenübergreifendes, globales und damit generisches Phänomen handelt, welchem derselbe eigenständige und universelle Charakter zukommt wie beispielsweise dem Absolutismus, dem Konservatismus oder dem Liberalismus - worauf auch schon Sternhell hinweist – entwirft Wippermann eine »Dreiecksdefinition«, anhand derer eine differenzierte Bewertung vorgenommen werden kann. Im Kern handelt es sich dabei um die spezifischen Machtstrukturen und deren gesellschaftliche und ideologische Basis aus faschistischen, bonapartistischen und fundamentalistischen Elementen zusammengesetzt sein können. Klassisch faschistisch sind dabei Parteien oder Bewegungen, die nach dem Führerprinzip aufgebaut und in praktischer und ideologischer Hinsicht am ehesten mit dem italienischen Faschismus verglichen werden können.

Als bonapartistisch-faschistisch kann charakterisiert werden, wenn ein Regime seine Machtausübung, wie beim namensgebenden historischen Vorbild Napoleon III. (Louis Bonaparte), vordergründig auf das Militär und die Polizei gründet, weitgehend unabhängig von der Legislative agiert bzw. diese bewusst schwächt und sich entweder einer existierenden faschistischen Partei als Massenbasis bedient oder eine solche dafür gründet, was einem ›Faschismus von oben‹ entsprechen würde. Starke Merkmale einer solchen Herrschaftsform sind im argentinischen Perón-Regime der 1940er und 1950er anzutreffen (Wippermann 2009:13, 204-209, 283).
Von einem fundamentalistisch-faschistischen Regime kann gesprochen werden, wenn die Herrschaftspraxis entweder klassisch-faschistische oder bonapartistische Züge aufweist, Kernbestandteile der Ideologie jedoch neben faschistischen vor allem religiös begründete Komponente enthalten, wie z.B. in der spanischen Franco-Diktatur oder dem Ajatollah-Regime von Khomeini im Iran (Wippermann 2009:13, 283, 93-97, 274-279).

Die Erkenntnisse aus der Ideologieanalyse durch Sternhell und der Herrschaftsanalyse durch Wippermann können jetzt als ein Bewertungsrahmen dienen, innerhalb dessen sich eine politische Entwicklung bewegen müsste, um als faschistisch charakterisiert zu werden und das sowohl unabhängig von der jeweiligen Zeit als auch des geografischen Raumes.

Das politische Ungarn vor 1945
Nach dem Zerfall der Habsburger Doppelmonarchie als Ergebnis des Ersten Weltkrieges und der Zerschlagung der ungarischen Räterepublik wurde 1920 auf Druck des Militärs von der Nationalversammlung die Monarchie wieder eingeführt. Der Thron blieb jedoch unbesetzt, stattdessen wurde der ehemalige k.u.k-Admiral Miklós Horthy zum Reichsverweser bestimmt, der faktisch die gesamte Exekutive beherrschte und sich im Parlament auf die aus Konservativen und Liberalen gebildete Regierungspartei stützen konnte (Wippermann 2009:147).

Durch die Einführung eines neuen Wahlrechts 1922 konnte sich nur noch die Hälfte der Bevölkerung an Wahlen beteiligen, bei denen zudem nur in Budapest und einigen anderen Städten die Stimmen geheim abgegeben werden konnten. Unter solchen Bedingungen spielten die Oppositionsparteien eine äußerst marginale Rolle in der politischen Landschaft, mit einer bemerkenswerten Ausnahme: der 1935 gegründeten Partei des Nationalen Willens, besser bekannt als Pfeilkreuzler. Ihr gehörten 1939 bereits 250.000 Mitglieder aus allen Schichten der Bevölkerung an und bei den in diesem Jahr stattfindenden Wahlen erzielten sie 18 Prozent der Stimmen, während die Regierungspartei auf 70 Prozent kam (Wippermann 1983:93ff.). Gerade dieses Wahlergebnis zeigt eindrucksvoll, wie bedeutungslos die anderen ungarischen Parteien waren.

Bereits von Anfang an war das diktatorische Horthy-Regime durch eine repressive Innenpolitik gekennzeichnet, deren stark antisemitische Züge sich mit einem militanten Antikommunismus zu einem Kampf gegen den ›jüdischen Bolschewismus‹ verbanden. Schon unter der ersten Nachkriegsregierung wurden Juden aus dem Staatsapparat entfernt und für jüdische Studenten ein Numerus Clausus eingeführt, um ihren Anteil an der Studentenschaft auf 6 Prozent zu begrenzen (Wippermann 1983:92f.). Die Pressefreiheit wurde abgeschafft, liberale Freiheitsrechte eingeschränkt und ein völkischer Nationalismus propagiert (über den Antisemitismus und völkischen Nationalismus in Ungarn vgl. Marsovszky, www.hagalil.com/antisemitismus/osteuropa/ ungarn.htm, 15.5.2011). Nach außen hin wurde eine revisionistische Strategie zur Wiedergewinnung der nach dem Weltkrieg verlorenen Gebiets- und Bevölkerungsteile verfolgt. Zur Umsetzung der außenpolitischen Ziele erfolgte in den 1920er Jahren eine Annäherung an das faschistische Italien und ab den 1930er Jahren an das nationalsozialistische Deutschland.

Für die Innenpolitik hatte das nachhaltige Folgen. Wurde die Nationalsozialistische Ungarische Arbeiterpartei nach einem Putschversuch noch verboten, so wurde dem Aufstieg der Pfeilkreuzler relativ tatenlos zugesehen, wenngleich immer darauf geachtet wurde, sie von der Macht fernzuhalten. Außerdem wurden 1938 neue antisemitische Gesetze verabschiedet, deren Vorbild die Nürnberger Gesetze waren. Zum Dank für die Anlehnung an Deutschland gewann Ungarn, beginnend mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei, schrittweise neue Gebiete hinzu und beteiligte sich mit eigenen Truppen 1941 am Überfall auf die Sowjetunion. Als die militärische Lage im Jahr 1944 ausweglos erschien, schloss Ungarn ein Waffenstillstandsabkommen mit der Sowjetunion, doch als Reaktion darauf wurde das Land von deutschen Truppen besetzt, Horthy entmachtet und ein offen faschistisches Regime unter dem ›Führer‹ Szálasi und seinen Pfeilkreuzlern errichtet. Die bereits unter Horthy begonnene Deportation und Vernichtung der ungarischen Juden erreichte ihren Höhepunkt, von 800.000 ungarischen Juden haben nur knapp 200.000 überlebt (Wippermann 2009:148f.).

Szálasi wurde nach dem Krieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und 1946 in Budapest hingerichtet. Horthy hingegen wurde zwar von den Alliierten in Nürnberg inhaftiert, aber nur als Zeuge vernommen und starb schließlich 1957 im portugiesischen Exil.

Ungarn heute

Mit welch bedenklichen Entwicklungsperspektiven Ungarn nach dem Zusammenbruch des Ostblocks aufzuwarten hatte, davon kündete schon 1993 ein Ereignis, das im Ausland mit einigem Unverständnis aufgenommen wurde: die Überführung der sterblichen Überreste von Horthy von Portugal nach Ungarn und deren feierliche Neubestattung in dessen Heimatstadt Kenderes im Beisein zehntausender Menschen  (www.spiegel.de/spiegel/print/d-13855323.html, 17.5.2011).

Dass dieser Akt keine bloße Verirrung innerhalb eines postsozialistischen Landes auf der Suche nach einer identitären Neufindung war, zeigen die Entwicklungslinien der heute maßgeblichen Parteien.
So startete die Fidesz 1988 als liberale Protestpartei studentischer Intellektueller, die maßgeblichen Einfluss auf die politische Wende in Ungarn 1990 nahm. Bereits Mitte der 1990er Jahre wandelte sich die politische Ausrichtung nach dem Austritt zahlreicher Liberaler 1993 in eine konservative Richtung, um letztendlich auch im Zuge der Allianz mit der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) im Jahr 2005 einen ausdrücklich national-konservativen Charakter anzunehmen.
Die KDNP vollzog eine ähnliche Entwicklung, von einer eher gemäßigten christlich-sozialen hin zu einer ausgesprochen national-konservativen und katholisch-fundamentalistischen Partei.

So verwundert es auch nicht, dass die Fidesz 2007 mit der Gründung der paramilitärisch-faschistischen Ungarischen Garde kein Problem hatte, diese vielmehr unterstützte (www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,502079,00.html, 21.5.2011). Obwohl die Garde bereits 2009 während der sozial-liberalen Regierungszeit wieder verboten wurde, zeigte deren Gründung deutlich, welche gesellschaftlichen Kräfte mit einer solchen Bewegung sympathisierten. Angefangen vom ehemaligen Verteidigungsminister der ersten Nachwenderegierung, Lajos Für, der die Mitgliedsurkunden ausgab, reichte das gesellschaftliche Spektrum bis hin zu Vertretern der katholischen, evangelischen und reformierten Kirchen, welche die Fahnenweihe vornahmen.

Vorsitzender des Trägervereins der Ungarischen Garde war der Historiker Gábor Vona, der auch heute noch amtierende Parteichef der faschistischen Jobbik-Partei. Diese entstand 2003 ebenfalls aus einem studentisch-intellektuellen Milieu heraus und propagiert offen einen militanten Antisemitismus und Antiziganismus und sieht sich in der Tradition der Pfeilkreuzler. Besonders auffällig ist die Wiederbelebung des ›jüdisch-bolschewistischen‹ Feindbildes, wenn zum Beispiel eine Spitzenkandidatin der Partei, die Universitätsdozentin Krisztina Morvai, 2008 in einer Rede »liberal-bolschewistischen Zionisten« empfiehlt, sich schon einmal zu überlegen, »wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken« können (Maegerle, www.bpb.de/themen/94RSX4,0,Rechts_am_Rand_in_Osteuropa.html, 21.5.2011).

Seit den Eingangs erwähnten Parlamentswahlen im April 2010 hat die Wirkungsmächtigkeit dieser genannten Parteien eine neue Qualität erreicht. Was bisher vielleicht als ›rechtspopulistische‹ Stimmungsmache verschiedener Oppositionsparteien betrachtet werden konnte, wird jetzt zur Grundlage eines Regierungshandelns mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit im Parlament. 
Eine der ersten Amtshandlungen war die Verabschiedung eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes, in dem die Blutsabstammung zum maßgeblichen Kriterium erhoben wurde (Marsovszky, http://www.heise.de/tp/artikel/34/34646/1.html, 9.5.2011).

Dem folgten die weitgehende Entmachtung des Verfassungsgerichtes, die personelle Neubesetzung wichtiger Ämter wie dem des obersten Staatsrichters durch Parteimitglieder von Fidesz, massenhafte Entlassungen von Staatsbeamten, die keine Anhänger der Regierungspartei sind, Diffamierung und Kündigung von Professoren, Akademikern und Forschern, die als ›liberal‹ und damit im heutigen Sprachgebrauch in Ungarn als ›verjudet‹ angesehen werden (Tengelyi, http://www.sicetnon.org/content/pdf/OffenerBrief.pdf, 21.5.2011), bis hin zur Verabschiedung eines Mediengesetzes, das die Pressefreiheit, das Redaktionsgeheimnis und den Informantenschutz zumindest für ungarische Medien aufhebt.

Den vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung im April 2011, nachdem die bisher gültige innerhalb eines knappen Jahres mindestens zehnmal geändert wurde. Die Kritikpunkte an dieser neuen Verfassung sind vielfältig: Einschränkung sowohl der Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes als auch des Kreises der Personen, welche diesen anrufen darf; Absenkung des Pensionsalters der Richter von 70 auf 62 Jahre, um Platz zu schaffen für Fidesz-Anhänger; Verankerung eines Budgetrates in der Verfassung, dessen Mitglieder auf neun Jahre ernannt werden und gegen jeden vom Parlament beschlossenen Haushaltsplan ihr Veto einlegen können, womit im Falle eines Machtwechsels bei den nächsten Parlamentswahlen 2014 Fidesz jede neue Regierung lahmlegen kann. Ähnliches gilt für den Medienkontrollrat, dessen Mitglieder von Fidesz-Chef Orban handverlesen sind, ebenfalls neun Jahre amtieren und jede kritische Berichterstattung durch hohe Geldstrafen unterbinden können (Koren, www.tagesspiegel.de/politik/ungarn-gibt-sich-ein-neues-grundgesetz/4075106.html, 21.5.2011).

Von besonderer Qualität sind jedoch die ideologischen Komponenten der neuen Verfassung. So wurde das Wort ›Republik‹ aus der Präambel gestrichen, die Verfassung zu einem »Nationalen Glaubensbekenntnis« erklärt und das »Magyarentum« im Sinne einer »blutsmäßigen Abstammungsgemeinschaft« zur Grundlage des Staates erhoben, während die zahlreichen Minderheiten in Ungarn überhaupt nicht erwähnt werden (Marsovszky, http://www.heise.de/tp/artikel/34/34646/1.html, 9.5.2011). Das völkische Denken, das seit der Wende in Ungarn immer weiter um sich gegriffen hat, ist damit in der Verfassung des Landes endgültig angekommen.

Welche praktischen Auswirkungen dieses völkische Denken hat, das jetzt auch noch verfassungsmäßig sanktioniert ist, zeigen die sich immer weiter verschärfenden Angriffe auf Roma in Ungarn. Bereits die Ungarische Garde praktizierte eine offene und brutale Militanz gegen Homosexuelle, Linke, Juden und Roma. Das Verbot dieser Organisation hat an der Situation nichts geändert. Es existieren inzwischen mehrere Nachfolgeorganisationen und in Zusammenarbeit mit staatlich geförderten Bürgerwehren gehen diese weiterhin massiv gegen Roma vor. Internationales Aufsehen erregten die Ereignisse im April 2011, als in dem ungarischen Dorf Gyöngyöspata 277 Frauen und Kinder vor angreifenden faschistisch-paramilitärischen Gruppen durch das Rote Kreuz in Sicherheit gebracht werden mussten,  während die Polizei, anstatt einzuschreiten, zum Teil offen mit den Angreifern sympathisierte, und ungarische Regierungssprecher dies als lange geplanten ›Osterausflug‹ bezeichneten (Krieg, http://jungle-world.com/artikel/2011/18/43123.html, 21.5.2011).

Fazit

Im Vergleich des heutigen Ungarns mit der Zeit unter Horthy zeigen sich einige bemerkenswerte Parallelen. Am auffälligsten ist wohl das politische Kräfteverhältnis in der Gesellschaft. Die Wahlergebnisse national-konservativer und faschistischer Parteien ähneln sich frappierend. Horthys Regierungspartei erzielte 1939 70% und die Pfeilkreuzler 18%, Fidesz erreicht heute knapp 68% und Jobbik über 12%. Obwohl die ausgesprochen faschistische Partei gestern wie heute im Prinzip Teil der Opposition ist, so ist sie jedoch keineswegs ein Kritiker der Regierungspartei im Sinne einer gegensätzlichen Ideologie, sondern eher in dem Sinne, dass die herrschende politische Praxis nicht weit genug geht. Damit steht sie in einem eigentümlichen Konkurrenzverhältnis zur Regierungspartei. Sie treibt diese thematisch vor sich her, fungiert als militanter Tabubrecher und schafft ein sich permanent verschärfendes politisches Klima, das wiederum sowohl Grundlage als auch Legitimation für die immer autoritärere Regierungspolitik ist. Salopp ausgedrückt entsteht der Eindruck, dass hier über Bande gespielt wird, um ein völkisch-nationales Projekt voranzutreiben, bei dem linke oder liberale Kräfte inzwischen zu gesellschaftlichen Randphänomenen degradiert wurden und im Prinzip keine nennenswerte Rolle mehr spielen – ein Phänomen, das ebenfalls schon unter Horthy zu beobachten war.

Wird jetzt noch in Betracht gezogen, dass sowohl in der Propaganda als auch in der Praxis politische und ethnische Minderheiten wie Linke, Liberale und Roma das Ziel umfassender Angriffe darstellen und im Sprachgebrauch Worte wie ›Kommunist‹, ›liberal‹ bzw. ›neoliberal‹ als Code verwendet werden und für ›verjudet‹ stehen (Marsovszky, http://www.heise.de/tp/artikel/34/34646/1.html, 9.5.2011), dann ist der Einschätzung von Magdalena Marsovszky, dass »die Kultur des Faschismus immer mehr dominiert«, wohl zuzustimmen.

Notwendige Nachbemerkung zum Liberalismus

Es ist wohl kein auf Ungarn zu beschränkendes Phänomen, dass der Begriff ›Liberalismus‹ inzwischen als ein politischer Kampfbegriff gebraucht wird, der dem eigentlichen Inhalt nicht mehr gerecht wird. Auch und vor allem innerhalb der deutschen Linken ist eine äußerst problematische Verwendung dieses Begriffs zu beobachten, der eher einer Diffamierung als einer wirklichen Kategorisierung politischer Inhalte bzw. Ideen entspricht. Dies beginnt schon mit der völlig abhanden gekommenen Differenzierung zwischen wirtschaftlichem, philosophischem und politischem Liberalismus. Während der wirtschaftliche Liberalismus mit seiner Betonung des freien Marktes noch am ehesten dem entspricht, was mit ›neoliberal‹ gemeint sein soll, wenn von ökonomischen Zusammenhängen gesprochen wird, so scheint die Bedeutung im philosophischen und politischen Sinne völlig abhanden gekommen zu sein. Gerade in Bezug auf das Thema Faschismus ist dies äußerst bedenklich.

Wenn in Bezug auf den politischen Liberalismus von einer Schwächung des Staates gesprochen wird, dann sei vor allem in Hinsicht auf Marxsche Traditionslinien daran erinnert, dass das Absterben des Staates ein wesentliches Merkmal der kommunistischen Gesellschaft sein soll. Aber es geht hier nicht unbedingt um solche Spitzfindigkeiten, vielmehr muss noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden, wofür ein Liberalismus im philosophisch-politischen Sinne ebenfalls steht: individuelle Freiheit, Menschenrechte, Meinungs-, Glaubens- , Gewissens-, und Wissenschaftsfreiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Kernpunkte, die in der Vergangenheit die Grundlage für die Zusammenarbeit von Linksliberalen, Sozialliberalen und Sozialisten waren.


Literatur
Barth, Claudia, Über alles in der Welt - Esoterik und Leitkultur, Aschaffenburg 2006.

Gross, Babette, Willi Münzenberg. Eine politische Biografie, Stuttgart 1967.

Koren, Nina, Ungarn gibt sich ein neues Grundgesetz, in: www.tagesspiegel.de/politik/ungarn-gibt-sich-ein-neues-grundgesetz/4075106.html [21.5.2011].

Krieg, Claudia, Die Angst vor der schönen Zukunft, in: http://jungle-world.com/artikel/2011/18/43123.html  [21.5.2011].

Maegerle, Anton, Rechts am Rand in Osteuropa - Ein Überblick über osteuropäische Rechtsaußenparteien, in:  www.bpb.de/themen/94RSX4,0,Rechts_am_Rand_in_Osteuropa.html [21.5.2011].

Marsovszky, Magdalena, Ungarn: »Kultur des Faschismus«, in: http://www.heise.de/tp/artikel/34/34646/1.html [9.5.2011].

Marsovszky, Magdalena, Ungarn - Der Antisemitismus in Ungarn. Nur Polit – Folklore?, in: www.hagalil.com/antisemitismus/osteuropa/ungarn.htm [15. 5. 2011].

N.N.: Rechtsextremisten gründen »Ungarische Garde«, in: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,502079,00.html  [21.5.2011].

N.N.: Held mit Schimmel - Die Umbettung des Reichsverwesers Horthy hat einen neuen Nationalismusstreit entfacht,  in: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13855323.html [17.5.2011].

Sternhell, Zeev, Faschistische Ideologie, Berlin 2002.

Sternhell, Zeev, Entstehung der faschistischen Ideologie - von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999.

Sternhell, Zeev, Von der Gegenaufklärung zu Faschismus und Nazismus - Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts in: Globisch, Claudia, Pufelska, Agnieszka,
Weiß, Volker, Die Dynamik der europäischen Rechten - Geschichte, Kontinuitäten und Wandel, Wiesbaden 2011.

Tengelyi, Lazslo: Offener Brief, in: http://www.sicetnon.org/content/pdf/OffenerBrief.pdf  [21.5.2011].

Wippermann, Wolfgang, Faschismus - Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Darmstadt 2009.

Wippermann, Wolfgang, Europäischer Faschismus im Vergleich (1922-1982), Frankfurt am Main 1983.

 

Abb.: Karikatur Hitler-Horthy; Quelle: Wikimedia Commons