von Max Ludwig

Lieber Freund,

weil Du der einzige unter denen bist, deren Ansichten zum NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine ich ablehne, von dem ich dazu aber etwas gelernt habe, möchte ich Dir kurz meine Gedanken zu den Ereignissen dieses Konflikts seit unserem letzten Gespräch vor etwa sechs Wochen mitteilen.

Offensichtlich ist Russland dabei, seine territorialen Kriegsziele zu erreichen: Eroberung des Donbass, Charkows und der Schwarzmeerküste bis Transnistrien – wenngleich noch offen ist, ob Russlands Kräfte für die Einnahme Odessas reichen werden.

Die russische Armee und ihre lokalen Alliierten werden die ukrainischen, von der NATO ausgerüsteten und jahrelang ausgebildeten Streitkräfte besiegen. Die seit Kriegsbeginn stattfindende Nachrüstung durch die NATO und der Zufluss an westlichen Söldner und Ex-NATO Soldaten ist nicht ausreichend, ein großer Teil der vor dem Krieg vom Westen gut ausgebildeten ukrainischen Soldaten ist tot oder verkrüppelt, die Rekruten verfügen über unzureichende militärische Ausbildung und Praxis.

Der Westen hat daher nur zwei realistische Optionen:

  1. Friedensverhandlungen zu steuern (wir zahlen bereits heute den Staatshaushalt der Ukraine), die den russischen Territorialansprüchen nachgeben und eine neutrale Rumpfukraine zur Folge haben werden, sowie die Sanktionen aufzugeben und die wirtschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen. Das empfehlen in etwa Henry Kissinger und John Mearsheimer. Mittelfristig ist es die einzig sinnvolle Option.
  2. Russland den Krieg zu erklären, den Stellvertreterkrieg also in einen vollen Krieg umzuwandeln mit der Absicht, Russland zu besiegen, indem man zumindest alle Territorien zurückerobert, die Russland seit 2022 (oder gar 2014) eingenommen hat.

Die dritte, derzeit verfolgte Option, nämlich Russland durch einen dauerhaften Krieg zu schwächen und international wirtschaftlich und politisch vollständig nach dem ›Modell Nordkorea‹ zu isolieren, scheitert und ist nicht realistisch.

Angesichts der offiziellen politischen Kommunikation zahlreicher NATO-Staaten, Russland müsse besiegt werden und ihrer positiven Rezeption in den westlichen Leitmedien befürchte ich, dass die NATO die zweite Option wählen wird. Unsere Eliten scheinen diesen Krieg im Sinne des „Imperialismus nach Innen“ [2] zu brauchen.

Ein offener Kriegseintritt der NATO bedeutete mit hoher Wahrscheinlichkeit den begrenzten Einsatz taktischer Atomwaffen in ganz Europa. Denn die NATO kann in der Ukraine nur einmarschieren, wenn Militärbasen auf russischem Gebiet angegriffen werden. Laut der Verteidigungsdoktrin der Russen würden dann taktische Atomwaffen verwendet; es ist anzunehmen, dass sie damit versuchen würden, NATO-Militärstützpunkte und kriegswichtige Infrastruktur in europäischen NATO-Ländern und gegebenenfalls der Türkei zu zerstören.

Liest man Mearsheimers tiefe und differenzierte Analyse [1] zur unmittelbaren Geschichte dieses Krieges ab 2008, muss man sich fragen, ob es das wirklich wert ist. Die NATO kann mit Sicherheit Russland in der Ukraine besiegen, aber das würde mindestens 250 bis 500 Tausend Soldaten und wahrscheinlich ebenso viele Zivilistenleben kosten, die durch den Kollateralschaden beim Einsatz taktischer Atomwaffen getötet würden. Dabei sind die wirtschaftlichen Konsequenzen eines vollständigen Ausbleibens russischer Gaslieferungen noch nicht berücksichtigt.

Ich glaube nicht, dass wir ökonomisch, technisch oder kulturell auf solch einen Krieg vorbereitet sind. Im Ersten Weltkrieg waren die Völker Europas kriegseuphorisch, im Zweiten die meisten kriegswillig. Heute haben wir weder die militärische Ausstattung, die Rohstoffe, die industrielle Autarkie noch die kulturelle Bereitschaft zu so einem Krieg. Wenn wir die zweite Option wählen, laufen wir daher Gefahr, den Krieg trotz eines hohen Einsatzes zu verlieren. Die Konsequenzen einer Niederlage wären für den Westen furchtbar. Mit den Russen jetzt Frieden zu schließen und ihnen dabei die Erfüllung ihrer begrenzten Kriegsziele zu erlauben wäre deutlich günstiger und viel rationaler. Noch viel günstiger wäre es Ende letzten Jahres gewesen, dann wäre es gar nicht zum Krieg gekommen.

Option 1 setzt natürlich voraus, dass Russland heute nicht mehr der Hegemon Europas werden will. Dies ist, nach allem was wir wissen, eine äußerst plausible Annahme.

Was denkst Du?

Herzliche Grüße

Max

Als Antwort erhielt ich lediglich die Aussage, Mearsheimers Angaben seien unglaubwürdig, denn er sei offenkundig Antisemit. Schlimm wäre das. Doch die Tatsachen, die Mearsheimer berichtet, werden von diesem (unbewiesenen) Vorwurf nicht tangiert. Man will der Realität nicht in’s Auge sehen.

[1] https://nationalinterest.org/feature/causes-and-consequences-ukraine-crisis-203182

[2] H.-U. Wehler: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum. 1865–1900, 2. Aufl. Göttingen 1987.

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