von Roland Czada
Das deutsche Staatsoberhaupt Steinmeier wurde vom ukrainischen Präsidenten zur unerwünschten Person erklärt. Hintergrund ist die als »Steinmeier-Formel« bekannt gewordene Friedensformel zur Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015. Steinmeier war damit in der Ukraine zum bekanntesten und meistgehassten deutschen Politiker geworden. Gegen ihn beziehungsweise gegen die nach ihm benannte »Steinmeier-Formel« waren am 6. Oktober 2019 in Kiew Tausende auf die Straße gegangen. Es drohte darüber sogar ein neuer Präsidentensturz, diesmal gegen Wolodymyr Selenskyj gerichtet. Selenskyj hatte sich nach seinem Amtsantritt im Mai 2019 im Sinne der Steinmeier-Formel kompromissbereit gezeigt und stieß damit bei ukrainischen Nationalisten auf erbitterten Widerstand. Es sieht demnach so aus, als erfahre Hitler in der heutigen Ukraine größere Sympathie als Steinmeier. Was war geschehen, dass es dazu kommen konnte?
Der Konflikt um die »Steinmeier-Formel« ist das letzte Kapitel in einer langen Abfolge von Warnungen und Friedensinitiativen, die vor Ausbruch des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 unternommen wurden. Schon in den 1990er Jahren waren warnende Stimmen vor einer militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland im Kampf um die Ukraine laut geworden. Das Minsker Abkommen von 2015 gilt als europäische, von Frankreich und Deutschland auf den Weg gebrachte Friedensinitiative. Das von den damals amtierenden Staatschefs aus Frankreich (François Hollande), Deutschland (Angela Merkel), der Ukraine (Petro Poroschenko) sowie Russland (Wladimir Putin) ausgehandelte Abkommen enthält ein Maßnahmenpaket zur Umsetzung der vorausgegangenen Minsker Vereinbarung zur politischen Beilegung des Konflikts um die von Separatisten gehaltenen Regionen der Ostukraine.
Steinmeier und das Scheitern des Minsker Abkommens
Der im Abkommen als erster Schritt vereinbarte Waffenstillstand war gleich nach dessen Unterzeichnung und daraufhin immer wieder von beiden Seiten gebrochen worden. Die Ukraine befand sich dadurch im permanenten Kriegszustand. Das Minsker Abkommen sah einen Autonomiestatus für die von prorussischen Rebellen gehaltenen Gebiete Luhansk und Donezk vor, ähnlich dem der Bundesländer in Deutschland. Während die Kämpfe in der Ostukraine immer wieder aufflackerten, bestand die Ukraine von Anfang an auf der Kapitulation der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donez als erstem Schritt zur Umsetzung des Abkommens, während Russland zuerst Wahlen forderte. Keine Wahlen unter Waffen, lautete dagegen die Forderung der Ukraine.
Der damalige deutsche Außenminister Walter Steinmeier bracht daraufhin 2016 einen Vorschlag ins Spiel, der zur Auflösung der Pattsituation beitragen sollte. Er sah vor, zuerst Wahlen in den Separatistengebieten unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) abzuhalten, dann – wenn diese Wahlen fair abliefen – beiden Regionen einen Selbstverwaltungsstatus ähnlich dem unserer Bundesländer zu gewähren, daraufhin eine Demilitarisierung des Gebietes einzuleiten und schließlich die ursprüngliche ukrainische Ostgrenze wiederherzustellen.
Die damalige ukrainische Regierung unter Staatspräsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk lehnte Steinemeiers Vorschlag ab. Erst der am 21. April 2019 neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj brachte Steinmeiers Vorschlag wieder ins Spiel. Er hatte im Wahlkampf eine Lösung des Konfliktes in der Ostukraine versprochen, die er direkt im Kontakt mit dem russischen Präsidenten Putin erörtern wollte, wissend, dass Putin das als Steinmeier-Formel bekannt gewordene Prozedere unterstützt hatte. Als Selenskyj nach seinem Amtsantritt im Mai 2019 unter anderem in Gesprächen mit dem französischen Präsidenten Emmanuelle Macron und Bundeskanzlerin Merkel darauf einging, stieß er auf heftigen parlamentarischen und publizistischen Widerstand. Im Oktober 2016 organisierten rechtsextreme Nationalisten Massenproteste gegen die »Steinmeier-Formel«. Selenskyj, der mit dem Versprechen eines Friedensabkommens gewählt worden war, scheiterte an einer parlamentarischen Mehrheit und an außerparlamentarischen Protesten, die den Keim eines neuen »Maidan«, gewaltsamen Zusammenstößen in Kiew mit der Möglichkeit seiner Absetzung, in sich trugen.
Die Minsker Vereinbarung und das Minsker Abkommen, um die es im Kern geht, orientieren sich an den Friedensformeln des Westfälischen Friedens von 1648. Sie hatten ein Machtteilungsarrangement zum Ziel, wie es zwischen Katholiken und Protestanten im Instrumentum Pacis Osnabrugense erreicht wurde. Die Ukraine wäre zu einer Bundesrepublik mit Autonomiestatus seiner Regionen geworden. Das wollten die dortigen Rechtsnationalisten nicht. Ihr Argument, damit werde das Land zerstückelt und Russland ausgeliefert, erinnert fast wörtlich an die nationalsozialistische Kritik am Westfälischen Frieden, dem sie genauso eine Zerstückelung Deutschlands und Auslieferung an Frankreich vorwarfen. Die Unitarisierung des »Tausenjährigen Reiches« war eine Antwort auf den »Schandfrieden von Münster und Osnabrück«.
Steinmeier hatte 2015 eine Forschungsinitiative zur Aktualität des Westfälischen Friedens gestartet und dazu eine Projektgruppe im Bundespräsidialamt eingesetzt. Die Friedensformel des Minsker Abkommens basiert indirekt darauf. Das Ziel einer neutralen, föderal verfassten Ukraine hätte ihrer Geschichte und Konfliktsituation besser entsprochen als ein unitarischer Staat, zumal die überwiegende Mehrheit der im Osten und Süden lebenden Bevölkerung eine Westorientierung des Landes lange ablehnte (vgl. die Schaubilder zu Umfrageergebnissen des Jahres 2013 und 2014 aus dem Band von Ulrich Schmid, und Christian Kleeb, Christian: UA – Ukraine zwischen Ost und West. Zürich: Vontobel-Stiftung 2015 – Download s. unten).
Der Westfälische Friedensschluss als Vorbild rationaler Konfliktlösung
Der Dreißigjährige Krieg war von der Konfessionsspaltung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ausgegangen. Er begann 1618 in Böhmen und hatte bald alle damaligen europäischen Großmächte in einen verheerenden, in ganz Mitteleuropa wütenden Krieg hineingezogen. Der an seinem Ende zustande gekommene Westfälische Friede von 1648 gilt heute als Meisterleistung, unter anderem weil mit ihm ein ideologischer Konfessionskonflikt in einen rational händelbaren Interessenkonflikt transformiert wurde. Interessen kann man kompromissförmig ausgleichen, Glaubenskonflikte bleiben jedem Kompromiss verschlossen. Das war die epochemachende Erkenntnis, die dem Westfälischen Friedensschluss zugrunde lag.
Gleichwohl galt der Friedensschluss in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert als Zeichen innerer Zerstrittenheit, der Kleinstaaterei und der äußeren Niederlage des alten Reiches. Die über Jahrhunderte gepflegte negative Sicht auf 1648 entfaltete eine letztlich unheilvolle Wirkung. Auf ihrer Grundlage ließ sich die nationalsozialistische Politik der Vereinheitlichung und ›Gleichschaltung‹ als Rückerlangung eines mit dem »Friedensdiktat« von 1648 vorgeblich geraubten Reichsgedankens rechtfertigen. Es gab sogar Pläne, nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue europäische Staatenordnung bei einem Friedenskongress in Münster völkerrechtlich abzusegnen. Am dortigen Stadtarchiv wurde eine Forschungsstelle eingerichtet, unter anderem um den Zweiten Weltkrieg als Parallele und Gegenstück zum Dreißigjährigen Krieg in einer Ausstellung unter dem Titel »Frankreichs größter Triumph – Deutschlands größte Schmach« zu dokumentieren. Der Plan verschwand aber noch vor Kriegsende in der Versenkung, weil Hitler eine künftige Aussöhnung mit Frankreich dadurch nicht gefährden wollte.
Mit ähnlichen Argumenten, die in Deutschland Machtteilung lange Zeit als Verrat an der Souveränitätsidee kritisiert hatten, wurde in der Ukraine die »Steinmeier-Formel« zurückgewiesen. Es sieht so aus, als sei Steinmeier in der Ukraine wegen der »Steinmeier-Formel« zum bestgehassten Mann nach Putin geworden. Selenskyj hat nicht zuletzt deshalb abgelehnt, ihn 2022 mitten im Krieg nach Kiew einzuladen.
Ukrainische Nationalisten verwarfen das bundesstaatliche Modell, weil es ihrer Ansicht nach die Gefahr einer Abspaltung von Teilgebieten an Russland enthielt oder zumindest ein ostukranisches »Bayern« als ständigen Störenfried zur Folge hätte. Dem hätte man allerdings mit einem Zweikammersystem entgegenwirken können, in dem die autonomen Regionen an der nationalen Politik beteiligt werden (ähnlich dem Bundesrat in Deutschland). Dieser unitarische Föderalismus wirkt einer Sezession entgegen, weil mit dem Ausscheiden aus dem Bund die Mitwirkungsrechte am Gesamtstaat verloren gingen (deshalb bleibt Bayern auch gerne Teil der Bundesrepublik). An dieser Lösung störte wiederum, dass man in Kiew befürchtete, dadurch hätte Russland über die ihm zugeneigten Regionen einen direkten Zugriff auf die nationale Politik der Ukraine.
Die Minsker Abkommen und die Steinmeier-Formel hätten den Konflikt lösen und die Ostgrenze der Ukraine wiederherstellen können. Ihnen entgegen stand eine in Westeuropa überkommene Vorstellung unitarischer souveräner Staatlichkeit. Das Minsker Abkommen ist von ukrainischen Nationalisten untergraben worden. Leider fand die Ukraine bei westlichen Verfassungsexperten nur wenig Beachtung und Unterstützung. Stattdessen verfolgten Legionen westlicher »Wirtschaftsberater« eine neoliberale Mission, die wenig zur Befriedung der Lage beitrug, sondern zu Oligarchentum und weit verbreiteter Korruption gepaart mit populistischer Politik führte.
Die »Steinmeier Formula« hatte es in den USA wochenlang in Talkshows geschafft und Kommentarspalten gefüllt. In Deutschland herrschte dazu Funkstille. Deshalb kann es sich Selenskyj 2022 auch leisten, über Steinmeiers Friedensinitiative hinwegzugehen und ihn allein als energiehungrigen Russenfreund darzustellen.
Fazit und Folgen
Die noch lebende Nachkriegsgeneration der »Fünfundvierziger« und der 1950er Jahre konnte sich im Kalten Krieg sicherer fühlen als in gegenwärtigen Verhältnissen. Das erschreckt und verdient, genau analysiert zu werden. Der Krieg um die Ukraine eignet sich als Musterbeispiel, weil an seiner Vorgeschichte ein mehrfaches Versagen deutlich wird. Jeder Krieg hat Nachwirkungen und eine Vorgeschichte. Kein Krieg kann allein im Blick auf einen letzten Akt der Aggression oder die Person eines Aggressors verstanden werden.
Gleich nach dem russischen Einmarsch gaben ukrainische und osteuropäische Stimmen Deutschland und Frankreich eine Mitschuld am Krieg, weil deren Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik entgegen allen Warnungen die Gefahr heruntergespielt hatten. Von anderer Seite heißt es, die das behaupten, hätten mit ihrem eigenen Begehren nach NATO-Erweiterung und Querschüssen im NATO-Russland-Rat die Verständigung mit Russland hintertrieben und auf diese Weise den Konflikt befeuert. Hier wird ein innereuropäischer Konflikt deutlich, der das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen osteuropäischen und westeuropäischen EU-Mitgliedstaaten auch künftig belasten dürfte.
Dadurch, dass der Westen zwar im Ukraine-Krieg als Waffenlieferant und mit Wirtschaftssanktionen auftritt, an Friedensgesprächen aber nicht teilnimmt, erscheint nach Kriegsbeginn eine umfassende Verhandlungslösung unmöglich. Wir haben es mit einem Stellvertreterkrieg zu tun, in dem man die Ukraine für die Sache des Westens kämpfen lässt. Dies begünstigt eine unkontrollierbare Konfliktdynamik und erschwert einen dauerhaften Verhandlungsfrieden. Nach der russischen Ukraine-Invasion scheint Entspannungspolitik diskreditiert zu sein. Dieser Eindruck basiert allerdings auf einem falschen Verständnis von Entspannungspolitik. Er beruht auf der Vorstellung, diese sei von universellen Werten bestimmt gewesen. Tatsächlich besteht Entspannungspolitik stets notgedrungen in der Duldung von Werten und Interessen einer Gegenseite, die den eigenen diametral entgegenstehen. Das wird von denen leicht vergessen, die jetzt kampflustig von einem Endsieg des Westens über die Autokratien des Ostens träumen – oder von einer inneren Revolte gegen den Krieg in Russland. Dort sind die Zustimmungswerte zu Putin nach dem Angriff auf 80 Prozent gestiegen und von da auf 82 Prozent nach Äußerungen von US-Präsident Biden über einen erwünschten regime change in Russland. Wer da von Sieg und russischen Revolten träumt, hat wenig Aussicht auf einen Verhandlungsfrieden.
Bundeskanzler Scholz hatte noch am 19. Februar 2022, fünf Tage vor dem russischen Einmarsch, einen letzten Versuch unternommen, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Das Wall Street Journal berichtete: »Scholz sagte Selenskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die Ukraine solle auf ihre NATO-Bestrebungen verzichten und als Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitspakts zwischen dem Westen und Russland ihre Neutralität erklären. Der Pakt würde von Putin und Biden unterzeichnet werden, die gemeinsam die Sicherheit der Ukraine garantieren würden. Zelensky antwortete, man könne Putin nicht zutrauen, ein solches Abkommen einzuhalten, und dass die meisten Ukrainer der NATO beitreten wollten. Seine Antwort ließ deutsche Beamte besorgt zurück, dass die Chancen auf Frieden schwinden« (https://www.wsj.com/articles/vladimir-putins-20-year-march-to-war-in-ukraineand-how-the-west-mishandled-it-11648826461).
Trotz aller Versuche, eine Friedenslösung zu finden, sitzen diejenigen, die sich in Europa am meisten für den Frieden einsetzten, nach dem russischen Angriff auf der Anklagebank. Die künftige Geschichtsschreibung dürfte diese aktuelle Fehlwahrwahrnehmung spätestens dann korrigieren, wenn die Ukraine nach einem zu erwartenden verlustreichem Teilsieg nicht mehr als troublemaker für Russland auftritt, sondern Westeuropa in zwei Teile spaltet. Sie wird dies absehbar zusammen mit weiteren postsowjetischen und osteuropäischen Staaten tun, die als neo-nationalistische Kräfte einer post-nationalen EU Paroli bieten.
Verwendete Literatur
Czada, Roland 2017. »Ein ›Westfälischer Friede‹ für die Krisenherde der Gegenwart?«, in Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft 24 (2017), S. 159-179. https://www.politik.uos.de/download/czada.westfaelischerfriede.pdf
Kissinger, Henry 2015. World order. Reflections on the character of nations and the course of history. London: Penguin Books.
Schmid, Ulrich; Kleeb, Christian 2015. UA – Ukraine zwischen Ost und West. Zürich: Vontobel-Stiftung. https://www.vontobel-stiftung.ch/Download/AssetStore/5a2a08b1-c2df-4e19-970c-33d9cfacc397/ua-ukraine-zwischen-ost-und-west.mobi
Internetquellen zum Thema
*** Thousands rally in Kyiv to protest the ‘Steinmeier formula’ for eastern Ukraine
https://www.euractiv.com/section/europe-s-east/news/thousands-rally-in-kyiv-to-protest-the-steinmeier-formula-for-eastern-ukraine/
*** Normandy summit upholds ‘Steinmeier formula’ for Eastern Ukraine
https://www.euractiv.com/section/europe-s-east/news/normandy-summit-upholds-the-steinmeier-formula-for-eastern-ukraine/
*** Explainer: What Is The Steinmeier Formula -- And Did Zelenskiy Just Capitulate To Moscow?
https://www.rferl.org/a/what-is-the-steinmeier-formula-and-did-zelenskiy-just-capitulate-to-moscow-/30195593.html
*** Sources: Germany, France ask Zelensky to comply with Russia’s spin of Minsk Agreements
https://kyivindependent.com/national/sources-germany-france-ask-zelensky-to-comply-with-russias-spin-of-minsk-agreements/