von Gunter Weißgerber

Der sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Struck sagte 2002: ›Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt‹.

Damit hatte er auch im Rückblick recht. Zwanzig Jahre hielt uns der ferne Afghanistan-Einsatz der NATO Probleme vom Hals, die wir seit dem schmählichen Abzug der Truppen im Sommer des Jahres nunmehr hautnah erleben. Probleme, die die Europäische Union ins Wanken zu bringen vermögen. Im Moment wird die EU-Außengrenze in Polen, Litauen und Lettland berannt. Alle drei Länder gehen deshalb zu Grenzsicherungen über, die 2016 bereits Ungarn für die Europäische Union realisierte. Damals wie heute gibt es (noch?) keinen Dank seitens der EU.

Im Gegenteil, die 2004 der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen Staaten Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien und Slowakei werden ob ihrer Verteidigungsmaßnahmen im Vollzug ihrer Beitrittsverpflichtungen hinsichtlich des Schutzes der EU-Außengrenzen gescholten, der als Schlepper agierende weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko kritisiert und gleichzeitig werden westliche NGOs, die faktisch als Schlepper Zuwanderer aufs Mittelmeer locken und in die EU bringen gelobt. Diese Lebenslüge der Europäischen Union muss scheitern und Polen, Ungarn und die anderen Mittel-Ost-Europäer werden dieses Scheitern hoffentlich erzwingen. An die Adresse der Grünen, die sich gegen Grenzsicherungen und für den unkontrollierten Einmarsch vorwiegend junger Männer aussprechen sage ich: ›Selbstverständlich darf man davon ausgehen, dass jede/r Grüne eigene Wohnung und eigenes Haus für Zuwanderer zur Verfügung stellt. Es geht doch auch um individuelle Ehrlichkeit, oder?‹ Ich für meinen Teil hatte das jedenfalls 2015 so getan: ›Je suis Leitkultur‹ im Abschnitt ›Wie meine ich das mit der Hausordnung?‹.

Die Existenzberechtigung der Europäischen Union nährt sich aus dem gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und Sicherheits-Nutzen ihrer gleichberechtigten Mitglieder. Erfüllt die EU diese Grundvoraussetzungen nicht, wird sie schnell den Weg alles Irdischen gehen.

Peter Struck, würde er heute noch leben, würde heute möglicherweise sagen: ›Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union wird an den mittel-osteuropäischen Außengrenzen der EU verteidigt‹. Ich merke an dieser Stelle noch an, die Rechnungen für die notwendigen Grenzsicherungsanlagen sollten von Brüssel beglichen werden, weil die Mitgliedsländer eine Gemeinschaftsaufgabe erfüllen. An anderer Stelle ist Brüssel auch nicht kleinlich, was Geldforderungen und Kürzungen bei Mitgliedsstaaten angeht.

Am 22. Januar 2016 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag des Historikers Alexander Demandt. In Das Ende der alten Ordnung beschreibt er eine Begebenheit am römischen Kaiserhof im syrischen Antiochia im Frühjahr 476 n. Chr. Ursprünglich sollte der Text in einer CDU-nahen Zeitschrift Die politische Meinung erscheinen. Frau Merkels Tentakel verhinderten das jedoch und zum damaligen Zeitpunkt war die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch bereit, in die Bresche zu springen. Wenig später wäre das sicher auch nicht mehr möglich gewesen. Soviel zum offenen oder nicht offenen Diskurs in Deutschland.

Ich empfehle den gesamten Artikel, weil er Geschichte und Untergang frappierend nah erscheinen lässt. Prof. Demandt sagt nicht, dass sich die Geschichte wiederholen wird, aber falsche Entscheidungen könnten immer noch extreme Entwicklungen nach sich ziehen. Eine Warnung.

Demandts Einstieg in die Materie:

»Das Römische Reich war fremdenfreundlich. Doch Einwanderer ließen sich nur in überschaubarer Zahl integrieren. Das Machtgefüge verschob sich. Den Fremden blieb das Reich fremd – trotzdem übernahmen sie die Macht.
Im Frühjahr 376 n. Chr. erschien am römischen Kaiserhof im syrischen Antiochia eine Gesandtschaft der Westgoten aus der Provinz Moesia nahe der Donaumündung. Die Germanen berichteten, aus Innerasien sei ein wildes Reitervolk, die Hunnen, erschienen, habe die Ostgoten nördlich des Schwarzen Meeres besiegt und den Westgoten ein gleiches Schicksal angedroht. Diese seien geflohen, stünden jetzt am Nordufer der Donau und bäten als friedliche Flüchtlinge um Aufnahme ins Reich. Im Kronrat wurden Bedenken laut, aber die Fürsprecher setzten sich durch. Das Reich konnte Zuwanderer als Siedler, Steuerzahler und Söldner brauchen, und zudem habe der Kaiser die Pflicht, in christlicher Nächstenliebe nicht nur an das Wohl der Römer zu denken, sondern für alle Hilfsbedürftigen Sorge zu tragen. Die Genehmigung wurde erteilt, die Grenze geöffnet, und die Goten kamen. Der römische Statthalter suchte die Ankömmlinge zu zählen, aber die Aktion geriet außer Kontrolle. Tag für Tag pendelten die Fähren über den Fluss, der Zeitgenosse Ammianus Marcellinus schreibt: zahllos wie die Funken des Ätnas. Sehr bald gab es Versorgungsprobleme. Römische Geschäftsleute verlangten überhöhte Preise, man verlangte, schreibt Ammian, für einen toten Hund einen Fürstensohn. Die Goten begannen zu plündern, es kam zu Scharmützeln. Verstärkung erhielten die Goten aus den römischen Bergwerken, in denen große Zahlen von germanischen Gefangenen arbeiteten. Sie schlossen sich den Landsleuten an. Es gab Kämpfe, die Grenztruppen wurden geschlagen, der Kaiser um Hilfe gerufen. Valens erschien mit dem Reichsheer des Ostens. Am 9. August 378 kam es bei Adrianopel, dem heute türkischen Edirne, zur Schlacht. Das römische Heer wurde von den Germanen zusammengehauen, der Kaiser fiel. Sein Nachfolger Theodosius musste den Fremden 382 Land anweisen, wo sie nach eigenem Recht lebten. Die Donaugrenze aber war und blieb offen. Immer neue Scharen drangen ins Reich. Im Jahre 406 war auch die Rheingrenze nicht mehr zu halten. Die Völkerwanderung war im Gang. Die Landnahme endete erst mit dem Einbruch der Langobarden in Italien 568. …«

Ich füge an, achthundertfünfundachtzig Jahre später ging dann auch das oströmische Reich mit dem Fall Konstantinopels 1453 unter. Seit 2015 habe ich das Gefühl, die Visegradstaaten stehen in eigenartiger Kontinuität zu Ostrom und schützen Westrom in seiner Einfältigkeit. Aus den EU-Beitrittsländern von 2004 sind Verteidiger der EU geworden. Mögen sie es bleiben.