von Johann Lauer

In diesem Artikel soll gezeigt werden, warum ein Update der EU besser ist als eine Revolutionierung durch einen Neustart. Es werden Wege zur Überwindung der Eurosklerose 2.0 erörtert. Die EU braucht weder revolutionäre Neuerungen noch konterrevolutionäre Wenden, sondern eine inkrementelle und innovative Weiterentwicklung. Kurz: Das Rad muss nicht noch einmal erfunden werden.

Das EU-Mehrebenensystem muss in seiner Komplexität erhalten sowie durch stetig-inkrementelle Verbesserungen (Kaizen) als auch durch Innovationen weiterentwickelt werden. Zudem ist eine Komplementarität zwischen Markt und Staat wichtig, ohne die weder technologische Innovation noch Sicherheit oder Wohlstand möglich sind. Die EU muss vor allem auf den Stand einer digitalen Wissensgesellschaft gebracht werden, daher plädiere ich für ein Update der EU.

Mehrere Generationen haben über 50 Jahre lang hart gearbeitet, bis die EU politisch und wirtschaftlich ihre Blüte erreichte. Seit zwei Jahrzehnten ist eine wohlstandsverwöhnte, um nicht zu sagen wohlstandsverwahrloste Generation dabei, die EU an die Wand zu fahren. (Die gegenwärtigen Probleme der EU schildere ich in einem weiteren Beitrag.)

Die erste Eurosklerose konnte erfolgreich bewältigt werden, das gibt Mut, aber keine Garantie, dass dies ein zweites Mal gelingt. Eine ›Neuauflage‹ oder ein ›Neustart‹ der EU dahingehend, dass diese gestärkt und die Nationalstaaten geschwächt werden, wie populistische Hurra-Europäer dies propagieren, wäre ohne Zweifel ein Eigentor. Genauso schlecht wäre es, wenn der Nationalstaat auf Kosten der EU-Ebene gestärkt würde, wie die Hurra-Nationalisten fordern.

Die europäische Integration verspricht, Einheit und Vielfalt gleichzeitig zu verwirklichen. Dies kann nur dann gelingen, wenn zwei Grundprobleme adäquat gelöst werden: die Aufgabenverteilung zwischen Markt und Staat sowie die zwischen EU-Ebene und Nationalstaaten. Zuerst sollte man das revolutionäre Vokabular ad acta legen und durch eine inkrementelle und innovative Vorgehensweise ersetzen. Erst dadurch kann die Polarisierung beendet werden. Für eine optimale Weiterentwicklung der politischen Systeme in der EU ist ein anderes Motto notwendig.

Polarisierung des Diskurses: Moralisierung der Politik, Politisierung der Wissenschaft

In der Regel versuchen diejenigen, die apodiktische Urteile abgeben, diese mit der Autorität der Wissenschaft und der Moral zu legitimieren: Politisierung der Wissenschaft und Moralisierung der Politik ist die Folge. Die Vorstellung, dass man ›die Wahrheit‹ oder ›das Gute‹ zweifelsfrei ermitteln kann, ist eine prämoderne Chimäre. Ganz will man den Traum, Wahrheit und Richtigkeit zweifelsfrei zu ermitteln, nicht aufgeben. So hat Jürgen Habermas ein pragmatisches Modell der Politikberatung vorgestellt, demzufolge alle Legitimationsdilemmata überwunden werden können. Wenn alle Beteiligten, Bürger, Wissenschaftler wie Politiker, guten Willens sind, rational vorgehen, dann steht am Ende eine Entscheidung, die dann sowohl den Ansprüchen der Wissenschaft und der Moral entspricht sowie demokratischen Verfahren gerecht wird. Daher können und müssen so legitimierte Entscheidungen von allen akzeptiert werden (Details siehe »Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft« – lauer.biz/politikberatung.pdf).

Damit sind in Kürze die philosophischen Prinzipien der Kritischen Theorie angegeben, die die Grundlage der Hurra-Europäer bildet. Sie glauben immer, dass sie im Besitz der Wahrheit seien, moralisch das richtige täten sowie in einem demokratischen, freien Diskurs einen Konsens der Vernünftigen erringen könnten, d.h. die anderen von der Richtigkeit ihrer Meinung überzeugen könnten. Die prinzipiellen Grenzen der Vernunft, die schon in der Antike, bei Kant und insbesondere im 20. Jahrhundert vielfach herausgearbeitet wurden, werden einfach ignoriert.

Thomas Samuel Kuhn hat in seinen bahnbrechenden Arbeiten darauf hingewiesen, dass bei der Annahme neuer Theorien nicht nur rationale, sondern auch politische, psychologische und soziologische Gründe eine Rolle spielen. Er hat insbesondere in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen die Entwicklung der Physik, genauer die (kopernikanische) Revolution vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild analysiert. Dabei verwendet er für die Beschreibung und Erklärung dieser Revolution neue Begrifflichkeiten (Paradigma, Inkommensurabilität, [kopernikanische] Revolution, normale Wissenschaft). Diese prägen seit Jahrzehnten nicht nur die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in allen Fächern, sondern auch die öffentliche Diskussion, allerdings leider in einer sehr undifferenzierten Art und Weise. So wird der Begriff ›Paradigma‹ von allen inflationär, in sehr unterschiedlichen Bedeutungen und auch oft missverständlich gebraucht. Dies liegt nicht zuletzt an der Vagheit des Begriffs, die Kuhn offen zugibt:

»Ein Teil seines Erfolges, so muß ich mir mit Bedauern sagen, rührt daher, daß fast jeder alles herauslesen kann, was er will. An dieser übermäßigen Formbarkeit ist nichts an dem Buch so stark verantwortlich wie die Einführung des Ausdrucks ›Paradigma‹.«

Margaret Mastermann, eine Wittgenstein-Schülerin, hat mindestens zweiundzwanzig verschiedene Bedeutungen dieses Ausdrucks in Kuhns Buch herausgearbeitet.

Der Missbrauch von Kuhns Konzepten ist stark verbreitet, Kuhns Buch dürfte das am meisten zitierte und am wenigsten gelesene Buch sein. Vor allem die infantilste Bedeutung – Altes ist schlecht und muss durch Neues ersetzt werden – hat sich sehr stark durchgesetzt und begünstigt jede noch so platte Forderung nach Erneuerung, Neustart etc. Damit wird in allen Bereichen ein Feldzug des vermeintlich ›Neuen‹ gegen das ›Alte‹ an Stelle sachlich-sorgfältiger Entwicklung geführt: Gesinnung schlägt Besinnung. Beide, Revolutionäre wie Konterrevolutionäre, benutzen gerne Kuhns Vokabular. Dabei gebärden sie sich wie manichäische Glaubenskrieger, die genau zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse unterscheiden können: tertium non datur. Damit wird ein Diskurs zwischen Andersdenkenden quasi von vornherein verhindert, da Andersdenkende nur als ungebildete dazu moralisch verwahrloste Pappkameraden vorgeführt werden: Das Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt kann hier in Vollendung betrachtet werden. Dabei wird die gemeinsame Grundlage von Links- und Rechtshegelianern sichtbar.

Sowohl revolutionäre Linkspopulisten (Hurra-Europäer) als auch konterrevolutionäre Rechtspopulisten (Hurra-Nationalisten) sind Hegelianer, linke oder rechte Hegelianer, beide haben eine reine Gesinnung und sind mit dem Weltgeist auf Du und Du. Das Ergebnis ist Arroganz und Hybris. Nach Karl Raimund Popper liefert Hegel neben Marx und Platon die geistigen Grundlagen für die Feinde der offenen Gesellschaft.

Diese Denkweise begünstigt einen politischen und utopischen Romantizismus. Die Hegelianer sind wirklich der Auffassung, man könne über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsene politische Strukturen einfach durch neue Strukturen, die man am Reißbrett entworfen hat, ersetzen. Wenn die politischen Strukturen zum Kollaps führen, liegt es nicht an diesen neuen Strukturen, sondern am Menschen. Daher muss auch ein neuer, edler oder sozialistischer Mensch geschaffen werden, der wiederum am Reißbrett entworfen wird.

Hinzu kommt noch ein infantiler Messianismus, der keine Grau- oder Zwischentöne erlaubt und dessen Sicht zwingend das Freund-Feind-Schema erfordert: Entweder man ist für Frieden oder für Krieg, Weltrettung oder Weltuntergang. Daraus folgt eine autoritäre und totalitäre Haltung, die eine rationale Auseinandersetzung von vornherein verhindert. Hurra-Europäer und Hurra-Nationalisten sind manichäische Glaubenskrieger und postmoderne Jakobiner, mit denen ein zivilisierter Dialog und eine demokratische Konsenssuche kaum möglich ist.

Kuhns Begrifflichkeiten werden sowohl von Revolutionären missbraucht, die immer das Alte abschaffen und durch ein Neues, ein zukünftiges Utopia ersetzen wollen, als auch von Konterrevolutionären, die eine politische Wende, ein vergangenes Paradies wiederherstellen wollen. Daher verhalten sich sowohl Links- wie Rechtspopulisten wie moderne manichäische Glaubenskrieger und erzeugen durch die Moralisierung der Politik und die Politisierung der Wissenschaft eine Polarisierung des öffentlichen Diskurses, den sie dann mit Krokodilstränen beweinen. (Die ideologisch-politischen Unterschiede zwischen linken und rechten Hegelianer wurden auf dem Felde der Europapolitik schon erörtert, die einen sind Hurra-Europäer, die anderen Hurra-Nationalisten.)

Polarisierung beenden: Demokratischer und rationaler Diskurs auf Augenhöhe

Die Überwindung der Eurosklerose 2.0 setzt voraus, dass die Polarisierung des politischen Diskurses überwunden wird, d.h., europäische Rhetorik und liberale Lippenbekenntnisse sollten nicht durch egoistische Politik und autoritären Habitus komplettiert werden. Der oben skizzierte manichäische Revoluzzer-Habitus steht in einem grundlegenden Gegensatz zu dem in der abendländischen Philosophie und Wissenschaft entwickelten sokratischen Habitus, indem der Zweifel zentral ist und nicht die Gewissheit.

Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen (Goethe, Faust). Weder Revolutionäre noch Konterrevolutionäre haben sich adäquat mit der EU auseinandergesetzt, auf beiden Seiten herrscht eine infantile Sicht auf sie vor.

Bei der gegenwärtigen polarisierenden politischen Auseinandersetzung kann die EU nur verlieren. Sowohl Hurra-Europäer als auch Hurra-Nationalisten vertreten eine politische Zukunftsvorstellung, die deutlich schlechter ist, als die gegenwärtige Verfassung der EU. Statt die existierenden komplexen Kompetenzverteilungen sowohl durch stetig-inkrementelle Verbesserungen (Kaizen) als auch durch Innovationen weiterzuentwickeln und den neuen Gegebenheiten anzupassen, werden infantile, entweder revolutionäre oder konterrevolutionäre Neuerungen angestrebt und damit die Eurosklerose 2.0 noch weiter verstärkt.

Die Politisierung der Wissenschaft führt zu einer monokausalen und reduktionistischen Betrachtungsweise. Eine solche Sichtweise ist inadäquat, da die Realität wesentlich komplexer ist. Verschiedene Wirkungen können eine gemeinsame Ursache haben (Äquifinalität) und umgekehrt kann eine Ursache in Kombination mit anderen Bedingungen verschiedene Wirkungen hervorbringen (Multikollinearität). Weiterhin gilt auch für politische Regulierungen das, was für jedes Medikament gilt. Es gibt nicht nur eine gewünschte Wirkung, sondern auch Nebenwirkungen.

Die Moralisierung der Politik führt dazu, dass alle Wissenschaftler, die andere als von den Regierungen identifizierte Kausalitäten akzeptieren, diffamiert werden. Beides, Politisierung der Wissenschaft sowie Moralisierung der Politik, führen zusammengenommen nur ins Verderben und müssen beendet werden. Maß und Mitte sollten wieder gefragt sein. Hegel, Marx, Frankfurter Schule, französischer Dekonstruktivismus und Strukturalismus sollten beiseite gelegt werden. Aristoteles, John Locke, Immanuel Kant, Adam Smith, John Stuart Mill, Max Weber und Karl Raimund Popper bieten die besseren politisch-philosophischen Grundlagen.

Die zerstörerische Auseinandersetzung zwischen Hurra-Europäern und Nationalisten muss schnellstens beendet werden. Eine offene und transparente Auseinandersetzung von verschiedenen Interessen ist nötig. Vor allem bigotte Verhaltensweisen müssen überwunden werden.

Zukünftiges Motto der EU: Einheit und Vielfalt (unitas et diversitas)

Bei der Schaffung eines europäischen Bundesstaates nach dem Zweiten Weltkrieg hat man sich insbesondere an den USA orientiert, deren Motto lautet: ›aus vielen eines‹ (e pluribus unum). Zwar haben die Franzosen 1954 einen europäischen Bundesstaat abgelehnt, in der Präambel der europäischen Verträge wird aber seit 1957 ein ›immer engerer Zusammenschluss der europäischen Völker‹ angestrebt.

Im Jahre 2000 wurde ein neues Europamotto ausgewählt: ›In Vielfalt geeint‹ (in varietate concordia). Dies fand als Präambel Eingang in den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE 2004), der bisher mangels Ratifikation nicht in Kraft treten konnte. Das Motto bringt keinen neuen Akzent, sondern hält am Ziel eines zukünftigen Bundesstaates – vergleichbar mit den USA – fest.

Warum sollte man dieses Ziel aufgeben? Warum lieber den gegenwärtigen Staatenverbund sui generis weiterentwickeln? Das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Extreme, bietet zwei wichtige Lehren, die bei der Weiterentwicklung der EU unbedingt berücksichtigt werden sollten.

Die faschistische Erfahrung zeigt, dass Nationalstaaten zum Nationalismus ausarten können (nicht müssen, Gegenbeispiel EFTA!), mit brutalen Auswirkungen (Holocaust, Krieg). Dies legt nahe, dass irgendeine Form supranationaler Integration (EU-Ebene) und weltweiter Zusammenarbeit gefunden werden muss, die die Gefahren des Nationalismus neutralisieren und den Erfordernissen einer komplexen Welt genügen können.

Die sozialistische Erfahrung lehrt, dass supranationale Integration, die wie in der Sowjetunion oder Jugoslawien zu einer enormen Zentralisierung und einer Planwirtschaft führte, der Komplexität moderner Gesellschaft nicht gerecht wird und kollabiert. Daher ist die Kritik an einem überzogenen Steuerungsanspruch der europäischen Institutionen mehr als gerechtfertigt, insbesondere an der EU-Kommission, aber auch dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), die beide im Zweifel alle Normen zugunsten der europäischen Ebene auslegen. Weiterhin ist Vorsicht geboten, wenn man Utopien mit aller Macht durchsetzen will.

Die erste, nationalistische Lektion wird bis zum Überdruss täglich beschworen, die zweite, zentralistisch-etatistische Lektion wird erfolgreich verdrängt. Die Hurra-Europäer müssen einsehen, dass der Nationalstaat auch in Zukunft noch lange die wichtigste politische Steuerungsebene bleiben wird. Die Stigmatisierung von Menschen, die die Bedeutung der nationalstaatlichen und regionalen Ebenen hervorheben sowie auf die Kollateralschäden der Globalisierung hinweisen, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern dazu auch noch kontraproduktiv.

Die Nationalisten müssen erkennen, dass ohne eine supranationale Integration auf europäischer Ebene und eine weltweite supranationale Zusammenarbeit die Komplexität der modernen Welt nicht adäquat bewältigt werden kann. Kein europäischer Staat kann allein in einer globalisierten Welt auf Augenhöhe mit China und den USA bestehen.

Daher lautet mein Vorschlag für das Motto der EU: Einheit und Vielfalt (unitas et diversitas). Eine Komplementarität zwischen europäischer Einheit und nationalstaatlicher Vielfalt sowie zwischen Markt und Staat ist am besten geeignet in der EU allen Wohlstand zu garantieren sowie die EU als internationalen Akteur aufzubauen, der mit den USA und China mithalten kann.

Weiterentwicklung des bestehenden Mehrebenensystems: Komplementarität zwischen europäischer und nationaler Ebene

Die EU hat trotz vielfältiger Mängel das komplexeste und leistungsfähigste supranationale politische System. Dieser Staatenverbund sui generis kann an Leistungsfähigkeit nur verlieren, wenn sich Hurra-Europäer oder Hurra-Nationalisten durchsetzen. Die Hauptherausforderung besteht darin, dieses komplexe System adäquat weiterzuentwickeln.

Die Eurosklerose 2.0 kann überwunden werden, wenn es gelingt, die rechtlichen Kompetenzen, monetären Ressourcen und politischen Verantwortlichkeiten optimal im EU-Mehrebenensystem aufzuteilen. Auch die vier existierenden Entscheidungsebenen (kommunal, regional, national und europäisch) müssten ständig weiterentwickelt werden. Dabei ist es notwendig sowohl die Leistungsfähigkeit aller Ebenen zu stärken als auch Verlagerungen von Kompetenzen in alle Richtungen, nicht nur in Richtung EU-Zentrale, vorzunehmen. Sowohl Verlagerungen auf die EU-Ebene als auch Rückverlagerung auf die nationale Ebene sind dabei notwendig.

Die politischen Systeme sowohl auf der EU-Ebene als auch auf der nationalstaatlichen Ebene sind wesentlich weiter. Wie oben gezeigt wurde, gibt es eine Verzahnung zwischen der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene, die zu einer Leistungssteigerung auf beiden Ebenen führte und deren Leistungsmöglichkeiten enorm erweiterte.

Die wichtigsten und leistungsfähigsten kollektiven und sozialen Sicherungssysteme gibt es auf der nationalen Ebene. Wer Interesse an einer guten Sozialpolitik hat, der kann doch nicht die unterschiedlichen Ebenen gegeneinander ausspielen. Armut, genauso wie viele andere Probleme, kann nur wirkungsvoll behoben werden, wenn man auf allen Ebenen, kommunal, regional, nationalstaatlich und europäisch, entsprechende Strategien und Instrumente entwickelt, vor allem aber existierende Systeme weiterentwickelt. Dazu gehört, auch etablierte Systeme auf der nationalstaatlichen Ebene weiterzuentwickeln. Der Nationalstaat ist nach wie vor die leistungsfähigste politische Ebene. Die nationale Ebene, die eine Vielfalt in der EU garantiert, muss erhalten werden. Europäische Einigkeit dient zur Erhaltung und Weiterentwicklung der nationalen Vielfalt.

Die großen Probleme können nur überwunden werden, wenn auf europäischer, nationaler, regionaler und kommunaler Ebene mehrere Strategien und Instrumente zur Bewältigung eines Problems zur Verfügung stehen. Es gibt nicht ›die‹ Lösung oder nur einen Weg, der nach Rom führt. Wichtig ist, dass es zu einer Koordination kommt, so dass diese komplementären, ergänzenden Lösungen sich nicht gegenseitig behindern. Dafür müssen alle genannten Ebenen ihre Autonomie haben. Eine Hierarchisierung ist nur kontraproduktiv.

Pluralismus erforderlich: Komplementarität zwischen Markt und Staat

Welche Rolle oder welche Kompetenzen sollten jeweils dem Markt und dem Staat zukommen? Von den fünf idealtypischen Strategien, die ich in dem Artikel über Eurosklerose 2.0 aufgeführt habe, fallen Naturzustand und Kommunismus weg, da sie jeweils ein Extrem (Markt oder Staat) vertreten und damit die vielen Möglichkeiten der anderen Strategie ungenutzt lassen. Entsprechendes gilt auch für den Neoliberalismus und den Neoetatismus, die auch nur jeweils eine Strategie bevorzugen – Erstere den Markt, letztere den Staat.

Viele Wege führen nach Rom, so lautet eine Strategie, die sehr zutreffend dem gesunden Menschenverstand zugeschrieben wird. Ein Pluralismus marktwirtschaftlicher, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Strategien sowie eine Vielzahl einzelner Instrumenten zur Lösung existenzieller Problemen bieten die beste Gewähr, dass Probleme adäquat, nachhaltig und resilient gelöst werden können. Eine Komplementarität zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft ist genauso wichtig wie eine Komplementarität zwischen verschiedenen staatlichen Ebenen.

Komplementarität als Strukturprinzip der EU

Das EU-Mehrebenensystem muss – wie bereits oben dargelegt – in seiner Komplexität erhalten sowie durch stetig-inkrementelle Verbesserungen als auch durch Innovationen weiterentwickelt werden. Die erörterten Kompetenz-, Ressourcen- und Verantwortungsverteilungen zwischen europäischer und nationaler Ebene sowie zwischen Markt und Staat sind dabei entscheidend. Damit die beiden genannten Ansätze gelingen, sollte Komplementarität als weiteres Strukturprinzip der EU eingeführt werden. Gefordert wird eine Komplementarität zwischen den verschiedenen politischen Ebenen sowie auch zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Die Komplementarität würde eine weitere Komplexitätssteigerung des politischen Systems ermöglichen, bei der die Leistungsfähigkeit sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene gesteigert werden kann.

Die größte Gefahr für komplexe Systeme liegt darin, dass Verantwortlichkeiten verwischt werden, d.h., dass es im schlimmsten Fall zu organisierter Verantwortungslosigkeit kommt: Alle sind für Erfolge zuständig, aber keiner für Misserfolge. Der Vorteil demokratischer Systemen ist, dass es öfter zu einem Wechsel von Politikern und hohen Beamten kommt. Kurz: Komplexe Systeme können die Ausbildung von Verschiebebahnhöfen begünstigen und zu organisierter Verantwortungslosigkeit führen. Daher ist nicht nur die Allokation von rechtlichen Kompetenzen, monetären Ressourcen und politischen Verantwortlichkeiten wichtig, sondern auch dass diese korrespondieren bzw. miteinander in Einklang gebracht werden.

Internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen

Die Eurosklerose 2.0 kann überwunden werden, wenn die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt wird. Bei der Bewältigung von Problemen sollte man immer mit einem pluralistischen Ansatz arbeiten, d.h., dass für jedes Problem sowohl etatistische als auch marktwirtschaftliche Strategien anwendet werden. Monokulturen sind nicht nur in der Landwirtschaft schädlich, sondern können auch ganze Staaten ins Verderben führen, wenn man etwa nur auf staatliche Lösungen setzt, wie man am Zusammenbruch des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert sehen kann.

Die internationale Wettbewerbsfähigkeit kann nur wiederhergestellt werden, wenn eine ähnlich komplexe Vorgehensweise wie bei der Implementierung des gemeinsamen Binnenmarktes eingesetzt wird. Die EU müsste schnellstens als Anbieter von Leistungen auftreten und ein leistungsfähiges 5G-Netz quasi an jeder Milchkanne innerhalb der EU und der EFTA aufbauen. Weiterhin müssten alle staatlichen Ebenen, von der kommunalen bis zur europäischen Ebene, die Digitalisierung vorantreiben und als Nachfrager von privaten Leistungen eine umfassende Digitalisierung aller staatlichen Leistungen ermöglichen. Kurz gesagt: die in den letzten beiden Jahrzehnten vernachlässigten staatlichen Investitionen nachholen. Der Staat ist hier nicht nur als Regulierer, sondern vor allem als Anbieter und Nachfrager wirtschaftlicher Leistungen gefragt. Als Regulierer ist die EU endlich auf einem guten Weg.

Notwendig ist es außerdem, nach der Bildungsoffensive der 60er und 70er Jahre eine zweite Bildungsoffensive durchzuführen. Bei der ersten ging es schlicht um Masse, alle sollten in den Genuss von Bildung kommen, nicht nur die Bessergestellten. Dies muss ausgeweitet werden. Dabei geht es um eine gezielte Förderung vom Kindergarten bis zum Meisterbrief oder zur Promotion. Die Qualität darf dabei aber nicht auf der Strecke bleiben. Dass beides, ›Klasse und Masse‹, machbar ist, beweisen nicht zuletzt die ärgsten Konkurrenten aus Ostasien.

Die EU ist auf die Briten und die EFTA mindestens genauso angewiesen wie umgekehrt

Die Briten haben – entgegen den vielen anderslautenden Annahmen – einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der ersten Eurosklerose geleistet,. Ohne die Briten und die anderen EFTA-Staaten wird auch die Überwindung der Eurosklerose 2.0 kaum machbar sein. Die Briten sind nicht nur für eine ernstzunehmende innere und äußere Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene wichtig, sondern auch für die Wissensgesellschaft. Die einzigen europäischen Universitäten, die an der Spitze weltweiter Rankings aufgeführt werden, liegen nicht in der EU, sondern in Großbritannien und in der Schweiz.

Wenn die EU sich als eigenständiger Akteur neben den USA, China, Japan und Russland etablieren will, ist nicht nur eine innere Weiterentwicklung notwendig, wie sie oben geschildert wurde, sondern auch die Einbeziehung aller EFTA-Staaten und Großbritanniens. Zurzeit behandelt die EU Großbritannien und die Schweiz schlechter als eigene Provinzen. Sie müssen die Gesamtheit des EU-Rechts, den acquis communautaire, ohne Widerspruch annehmen, obwohl sie an dessen Entwicklung nicht beteiligt sind. Das wird sich ändern müssen, wenn wir die Eurosklerose 2.0 überwinden wollen.