von Lutz Götze
Der Gipfel der 27 Staats-und Regierungschefs in Brüssel ist, nach tage-und nächtelangem Ringen, zu Ende gegangen. In den Regierungszentralen ertönen Jubelorgien und einige Befürworter sprechen gar von einem ›historischen Ereignis‹. Ein Schelm, wer das nicht glaubt oder gar Kritik wagt!
Bei näherem Hinsehen bleibt freilich als einziges positives Ergebnis, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich überhaupt auf ein gemeinsames Papier geeinigt haben. Von den Vorankündigungen und Hoffnungen – deutlich mehr Geld für Zukunftsprojekte und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, Polen und anderen ostmitteleuropäischen Ländern – ist hingegen bei diesem Kompromiss nicht viel übrig geblieben.
Noch nie wurde in Europa so viel Geld in die Hand genommen: 750 Milliarden Euro an Corona-Hilfen und 1074,3 Milliarden – in Wahrheit sind es 1211 Milliarden wegen der Preissteigerungen – für den EU-Haushalt der kommenden sieben Jahre ergibt, zusammen, eine Summe, die schwindeln macht. Doch das wäre im Grunde kein übermäßiges Problem, wenn diese Geldmenge sinnvoll und zukunftsträchtig ausgegeben würde.
Das Gegenteil ist der Fall: Im Haushalt dominieren mit jeweils mehr als 350 Milliarden die Agrarsubventionen samt Förderung des ländlichen Raumes sowie die Hilfen für benachteiligte Regionen. Wohin aber das Geld im Konkreten fließen soll, bleibt vage: Kontrollen sind nicht vorgesehen. Wie man aus der Vergangenheit weiß, ernten den Löwenanteil die Großbetriebe in der Landwirtschaft, deren verheerende Auswirkungen auf Klimaentwicklung und Artensterben in der Vergangenheit hinlänglich bekannt sind.
Im Gegenzug wurden die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie für nachhaltigen und klimafreundlichen Umbau von Wirtschaft, Landwirtschaft und Öffentlichem Dienst reduziert. Obendrein wurden die Rabatte für einzelne Mitgliedsstaaten wie die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark noch einmal gesenkt, im Falle Dänemarks sogar gedrittelt: Die ›Geizigen Vier‹ konnten triumphieren und werden bei anstehenden Parlamentswahlen in ihren Ländern diese Bonusleistungen gebührend herausstellen, um ihre Wiederwahl zu sichern. Bittere Erkenntnis: Heutzutage gewinnt man in diesen und anderen Ländern Wahlen am besten dadurch, dass man gegen Europa hetzt oder Milliardensummen für sich abzweigt!
Beim ›Corona-Topf‹ hatten sich übrigens diese vier Länder noch einmal hervorgetan: Die ursprüngliche Summe von 500 Milliarden Zuschüssen und 250 Milliarden Krediten wurde, auf ihre Erpressung hin, zurückgesetzt auf 390 Milliarden an nicht zurückzahlbaren Zuschüssen und entsprechender Anhebung der Kredite. Das wird in den ohnehin schwer belasteten Ländern wie Italien, Spanien oder Griechenland die Schulden vergrößern und sie dazu zwingen, weitere Einsparungen in den öffentlichen Diensten – Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Einrichtungen und Investitionen – vorzunehmen. Zudem werden diese Länder als Käufer zumal deutscher Exporte mehr und mehr ausfallen, was wiederum Auswirkungen auf die Arbeitsplätze der Industrie nicht nur in Deutschland haben wird. Die gute alte keynesianische Regel, in Krisenzeiten entschieden gegenzusteuern, wurde kläglich missachtet und dem Egoismus der Vier geopfert. Anzumerken bleibt, dass sich zumal ein Land wie Österreich – seit Jahren ein Steuerschlupfloch par excellence – als Heuchler erweist, wenn es sich seiner ›Sparsamkeit‹ rühmt!
Kritisiert werden müssen freilich auch die Länder des Südens, die – trotz allem – zu den Hauptempfängern des Geldsegens gehören. Sie haben es verabsäumt, klar beschriebene und überprüfbare Zukunftsprojekte zu benennen. So bleibt bei vielen Befürwortern des Kompromisses das schale Gefühl, das Geld werde im Süden in die falschen Kanäle fließen oder gar die Korruption befördern.
Rechtsstaatlichkeit
Der entscheidende Mangel des Brüssel-Kompromisses liegt freilich im Versagen der Mehrheit der Mitgliedsstaaten bei der Frage der Bindung von Finanzhilfen an die Rechtsstaatlichkeit im jeweiligen Lande. Der ursprüngliche Verhandlungsvorschlag von Ratspräsident Charles Michel beinhaltete ein ›Konditionalitätssystem‹, das vorsah, Zahlungen an Mitgliedsländer an Grundwerte der Rechtsstaatlichkeit wie Meinungs- und Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz zu knüpfen. In diesem Zusammenhang sollte die Europäische Kommission bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit Maßnahmen vorschlagen, die vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit (knapp zwei Drittel) angenommen werden müssen. Jetzt heißt es lediglich schwammig, der Rechtsstaatlichkeit werde in Zukunft besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der ungarische Premierminister Orbán triumphierte: »Wir haben erfolgreich allen Versuchen widerstanden, die den Zugang zu EU-Geld mit rechtsstaatlichen Kriterien verknüpft hätten«. Ähnlich sah es Polens Ministerpräsident Morawiecki.
Die Europäische Union verstand sich seit ihrer Gründung als Wertegemeinschaft, keineswegs nur als Wirtschafts-und Währungsunion. Mit dem faulen Kompromiss von Brüssel ist sie von diesem Grundsatz weiter abgerückt denn je.
Konsequenzen
Nach diesem Brüsseler Kompromiss gibt es zwei Sieger: Die Rechtsstaatsverweigerer wie Ungarn und Polen auf der einen und die ›Geizigen Vier‹ auf der anderen Seite. Beide Lager haben Nationalismus und Egoismus über gemeinsame Verantwortung für Europa und Rechtsstaatlichkeit in Europa gestellt und obsiegt. Das wirft nicht nur den Kontinent zurück – den einzigen Kontinent auf der Welt, in dem es, zumindest im Regelfall, freie und geheime Wahlen, Meinungsfreiheit und die Dreiteilung der Gewalten nach Montesquieu noch gibt –, sondern es lenkt obendrein Wasser auf die Mühlen der Nationalisten, Chauvinisten und Rassisten in den Ländern: Marine Le Pen, Wilders, Höcke und Konsorten reiben sich die Hände.
Ein ›Weiter so‹ oder ›Besser dieser Kompromiss als gar nichts!‹ kann es nicht geben. Es rächen sich die Fehler der Vergangenheit, in der, nach dem Mauerfall, in kurzer Zeit eine Vielzahl neuer Mitgliedsländer aufgenommen wurde: Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei, Bulgarien und andere. Die Mehrzahl derer sah in der Gemeinschaft nur eine Kuh, die es zu melken galt. Sie wollten Geld und Rechte, aber keine Pflichten. In nuce: Sie waren, samt und sonders, für Europa nicht reif. Besser wäre es gewesen, sie wären assoziiert worden und hätten, während Jahren der Überprüfung, ihre Rechtsstaatlichkeit nachweisen müssen, ihre Haushaltsehrlichkeit und die Bekämpfung der Korruption im Lande obendrein. Beides wurde verabsäumt; der Kompromiss von Brüssel zeigt in aller Härte und Brutalität das europäische Dilemma.
Wie aber weiter? Eine Hoffnung auf Besserung der Übeltäter ist wirklichkeitsfern. Ein erster radikaler Schritt aber wäre, alle Entscheidungen im Rat und in der Kommission demokratisch zu fällen, also mit einfacher Mehrheit. Sie ist die einzige Grundlage demokratischer Gesellschaften. Die Mehrheit entscheidet; die Minderheit akzeptiert das! Dabei gilt natürlich, dass die Mehrheit in der Sache nicht unbedingt Recht haben muss, aber sie ist die Mehrheit. Deshalb soll sie entscheiden!
Diese Regelung impliziert automatisch die Abkehr von der bisherigen Einstimmigkeit, die ein Charakteristikum von Diktaturen ist. Sie impliziert aber ebenso die Überwindung einer ›qualifizierten Mehrheit‹, wie sie derzeit in der Europäischen Union gelegentlich praktiziert wird. Sie ist, genauso wie die Einstimmigkeit, zutiefst undemokratisch.
Gelingt das in der Union nicht – wofür derzeit leider alles spricht –, so sollten jene Staaten der Europäischen Union, die sich noch demokratisch und rechtsstaatlich fundiert verstehen, einen radikalen Schritt wagen: Sie sollten – wie Großbritannien, doch mit dem genau umgekehrten Ziel – die Gemeinschaft aufkündigen und im gleichen Atemzug eine neue Europäische Union gründen, basierend auf den Werten der Menschenrechte und dem Ziel, allen Bürgerinnen und Bürgern in der Gemeinschaft ein menschenwürdiges Leben zu sichern: ohne Ausbeutung, aber mit garantierter materieller Sicherheit für alle, also Mindestlohn und Schutz vor Miethaien, weiterhin mit dem garantierten Recht auf Bildung, Gesundheit und Klimaverbesserung für alle. Dies könnte eine Verlockung für andere außereuropäische Gesellschaften darstellen, einen ähnlichen Versuch zu wagen: zum Nutzen der Nachgeborenen!