von Lutz Götze
Man wusste es. Man hätte es wissen können. Nur die Ahnungslosen durften hoffen, dass die Debatte im Londoner Unterhaus zu Theresa Mays vermeintlichem Plan B eine Rückkehr zur Vernunft in der britischen Politik bringen könnte. Eine Rückkehr, die nur ein einziges Ziel haben konnte: Rücknahme des Brexit und ein zweites Referendum. Doch Albion, wie Ptolemäus in der Antike die britischen Eilande nannte, ist sich treu geblieben: Schon 1714, bei Gelegenheit der Unterzeichnung des Friedens von Utrecht, bekannte Britanniens Verhandlungsführer Lord Bolingbroke: »Seien wir allzeit eingedenk, dass wir Nachbarn des Festlandes sind, nicht aber ein Teil von ihm; dass wir Europa zugeordnet sind, nicht aber ihm angehören.«
Der Ire und scharfe Analytiker James Joyce sah, mehr als zweihundert Jahre später, im englischen Charakter vor allem »die mannhafte Unabhängigkeit, die unbewusste Grausamkeit, die Durchhaltekraft, die langsame, aber effiziente Intelligenz, die sexuelle Apathie, die kalkulierende Verschlossenheit«. Und Premierminister Winston Churchill brachte es auf den Punkt, als er den deutschen Bundeskanzler 1951 in 10 Downing Street empfing: »Sie können beruhigt sein, Herr Bundeskanzler, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen.« Der sichtlich konsternierte Adenauer entgegnete: »Herr Premierminister, ich bin ein wenig enttäuscht. England ist ein Teil Europas.«
Man hätte es wissen müssen, wenn man die Historie der Beziehungen zwischen der Insel und dem Kontinent, wie man in London gern unterscheidet, studiert und die richtigen Lehren daraus gezogen hätte. Doch wie so oft in der Geschichte des Gemeinsamen Marktes und der nachfolgenden Europäischen Union überließ man das Feld den Traumtänzern und Realitätsverdrängern – etwa Außenminister Joschka Fischer, der der Meinung war, Griechenland gehöre unbedingt dazu, weil Zeus die Königstochter Europa in Griechenland entführt habe und später die erste Demokratie in Athen begründet worden sei.
Charles de Gaulle hatte seinerzeit Recht, als er vor allzu schneller Erweiterung des westeuropäischen Bündnisses warnte, zumal vor einem Beitritt Großbritanniens. Er kannte seine Pappenheimer aus dem Zweiten Weltkrieg, zumal bei der Befreiung Straßburgs von faschistischen Truppen. Man hat, beklagenswerterweise, nicht auf ihn gehört. Man nahm nicht zur Kenntnis, dass jenseits des Kanals ein angelsächsisches Volk lebte, von dem im Venedig des 16. Jahrhunderts ein Kenner gesagt hat, die Menschen auf der Insel seien » sehr arrogant, selbstsicher und misstrauisch gegenüber Ausländern, denen sie mit großer Antipathie begegnen in der Annahme, dass diese nur auf die Insel kommen, um sie zu beherrschen. Es gibt keine Menschen, die es ihnen gleichtun können, und keine Welt außer England.«
Daran hat sich bis heute nur Unwesentliches geändert. Unverändert glaubt die Mehrheit der Bevölkerung an die Großmacht Britannien, an die ungebrochene Macht des Empire, an die Legende vom Mutterland der Demokratie und an die unbedingte geistig-moralische Überlegenheit der Insel. Die Magna Charta ist denen, die von König Johanns Unterzeichnung des Dokuments im Jahre 1215 – das die Macht des Regenten einschränkte – überhaupt noch eine Ahnung haben, ein Beleg ihrer Einzigartigkeit und die Grundlage des ersten Parlaments.
Die große Stunde aber schlug in der Periode der globalen Eroberungen: Nach Portugal, Spanien und den Niederlanden trat das mit Schottland zum unierten Großbritannien gewordene Inselreich an, um die Welt aufzuteilen. Entdecker, Eroberer und Verbrecher umrundeten den Erdball und pflanzten den Union Jack in afrikanischen, asiatischen, karibischen und australischen Boden. Hier ist Albion in der Tat Weltspitze: Kein anderes Land hat über Jahrhunderte hinweg derart viele Territorien erobert, ausgeplündert, Millionen von Menschen getötet und, beim erzwungenen Abzug nach 1945, unbewohnbare Gebiete und potenzielle Konfliktherde wie Indien und Pakistan oder den Nahen Osten zurückgelassen. Man lese George Orwells Burmese Days, um die Wahrheit über die Grausamkeiten der britischen Kolonialarmee in Südasien zu erfahren. Von den, heute, 193 UN-Mitgliedsstaaten hat Großbritannien 171 erobert und verwüstet.
Davon spricht man in London und in der englischen Provinz ungern. Politiker – keineswegs nur unter den Konservativen – rühmen stattdessen die Glanzzeit der Weltmacht Großbritanniens unter Queen Victoria und weisen darauf hin, dass im Achsenzeitalter von 1760 bis 1870 England die Meere beherrschte und die Industrialisierung vorantrieb. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Unterschlagen werden die menschenverachtende Rolle des britischen Kolonialismus und die Ausbeutung von Millionen durch den aufkommenden Kapitalismus, nachzulesen im Kapital von Karl Marx.
Deutlich wurde dreierlei. Zum einen: Wer immer in London regierte, betrieb Politik aus merkantilem Interesse und suchte den ›Deal‹, der dem Vereinigten Königreich finanzielle Vorteile sicherte. Politik jenseits eines ›Deals‹ ist in Westminster undenkbar, noch weniger daher auch der Gedanke eines solidarischen Handelns im Interesse eines größeren Ganzen.
Zweitens wurde, auch bedingt durch die Isolation der Insel, das Wissen um Sprachen und Kulturen der Nachbarn – wie weiter entfernt liegender Staaten – gering erachtet, genauer: ihr Studium galt als Zeitverschwendung. Die Kenntnis von Fremdsprachen, Sitten und Gebräuchen außerhalb Großbritanniens ist in der Bevölkerung beschämend gering, was freilich keineswegs ein Anlass zur Selbstkritik oder gar Scham ist. Wer immer, so die arrogante Meinung nahezu aller Briten, zur Insel Kontakt aufnehmen wolle, habe das auf Englisch zu tun. Leider haben sich viele selbst ernannte Weltbürger, zumal in Deutschland, diese Überheblichkeit zu eigen gemacht und fordern schulische Ausbildung und Bildung vorzüglich in englischer Sprache. Sie missachten dabei, dass der Reichtum Europas – im Gegensatz zu nahezu allen Regionen der Welt – in der Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen liegt.
Drittens schließlich ist es den Propagandisten auf der Insel über Jahrhunderte hinweg gelungen, das britische Bildungssystem als einzigartig darzustellen. Verschwiegen wird, dass zahlreiche ›Eliteschulen‹ wie Eton in Wahrheit ein Hort der Knebelung und Züchtigung junger Geister sind. Vergessen sei auch nicht, dass viele ihrer Absolventen wie Anthony Eden und Lord Halifax Hitler bewunderten, andere wie Kim Philby später zu sowjetischen Spionen wurden.
In den weltweit gepriesenen Hochschulen, keineswegs nur Oxford und Cambridge, wurde der Merkantilismus zum Prinzip von Lehre und Forschung. Im Vordergrund stehen Ökonomie, Juristerei, Technik und neuerdings die Digitalisierung: mithin alles, was Wirtschaft, Export und Verwaltung dient. Vor allem die Geisteswissenschaften sind Opfer dieser Strategie: Zwar sind britische Universitäten unverändert Orte des sokratischen wie scholastischen Debattierens auf rhetorisch hohem Niveau, also der ars bene dicendi, doch endet der Streit allzu häufig in Rechthaberei und inhaltlicher Leere. Von Bedeutung ist außerdem, dass der Beitrag der Insel auf der philosophischen Ebene im Wesentlichen im pragmatischen Empirismus besteht: John Locke, Adam Smith und David Ricardo haben der Welt ökonomische Zusammenhänge erklärt. Zu den grundsätzlichen Fragen der Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik haben sie nichts beigetragen. Kant, Hegel oder die französischen Aufklärer sind auf der Insel Fehlanzeige.
Im Übrigen: Die geistige Elite Großbritanniens hat bei dem Brexit-Gepoker vollkommen versagt: Wo waren die Stimmen der Vernunft, die gegen nationalistischen Wahn auftraten? Wo waren Timothy Garton Ash – immerhin Träger des Europäischen Karlspreises – und andere, die – im Falle des Austritts – vor den massiven Nachteilen für die Wissenschaft und die Studenten auf der Insel warnten ? Sie haben geschwiegen.
Nur wenn den Europäern diese fundamentalen ökonomischen wie politischen Unterschiede zwischen dem Vereinigten Königreich und Kontinentaleuropa bewusst sind, lässt sich erklären, wieso es zum Referendum von 2016 und zum Brexit kommen konnte. Hinzugefügt werden muss allenfalls noch, dass – auf beiden Seiten des politischen Spektrums in Großbritannien – das Referendum zum Anlass genommen wurde, innerparteiliche Kontrahenten auszuschalten. Sowohl Theresa May als auch Jeremy Corbyn kämpften vor allem um ihre persönliche Macht. Europa ist beiden im Grunde egal. Getrieben wurden sie dabei von den Fundamentalisten in den eigenen Reihen. Deutlich wird dies vor allem bei den Torys: Was die Absolventen jener erwähnten ›Eliteschulen‹“, namentlich Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg, in jüngster Zeit an nationalistischem und erzreaktionärem Lügengut über die zunehmend überforderten Medien an die Bevölkerung gesendet haben, erinnert in manchem an die Hetztiraden von Diktatoren innerhalb und außerhalb Europas.
Wie soll es nun weitergehen? Die Empfehlung des Unterhauses, Frau May möge, binnen vierzehn Tagen, einen besseren Deal vorlegen, zumal zum ›back-stop‹ an der inneririschen Grenze, dürfte in Brüssel auf taube Ohren stoßen. Die 27 in der Union verbliebenen Staaten sind es leid, von der britischen Regierung genervt und erpresst zu werden. Alles läuft mithin auf einen ungeordneten Brexit hinaus, einen ›no-deal‹ also, den der Hühnerstall in Westminster aber im Grunde ablehnt. Eine Verschiebung des Austrittsdatums über den 29. März 2019 hinaus scheint der einzig mögliche Kompromiss zu sein. Doch wozu? Auch in den Folgemonaten ist nicht zu erwarten, dass ein Rest an Vernunft in das House of Commons und in die britische Gesellschaft zurückkehrt. So scheint der harte Austritt Ende März unausweichlich –zu Lasten aller Beteiligten: Großbritannien, die Europäische Union, außereuropäische Länder. Vor allem aber werden viele Menschen auf beiden Seiten des Kanals ihren Arbeitsplatz verlieren und in bittere Not geraten. Das interessiert die Fanatiker freilich nicht.
Am Ende bleibt als fatale Erkenntnis, dass Europa in einer historischen Stunde vollkommen versagt hat: Gelenkt von Chauvinisten, werden nationalistische Rattenfänger auf dem Kontinent und weltweit Oberwasser gewinnen und die einstige europäische Wertegemeinschaft Zug um Zug zerstören. Zudem wird das Beispiel Großbritanniens Schule machen: Potentielle Kandidaten stehen bereits Gewehr bei Fuß: Ungarn, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien und andere. Sie haben die Europäische Union von Anfang an stets nur als Milchkuh verstanden und werden austreten, sobald die Geldströme aus Brüssel weniger üppig fließen.
Zentrale Probleme wie Klimaverschlechterung, weltweite Kriege, globale Migration, Atomwaffensperrverträge, Armutsbekämpfung, wachsender Antisemitismus und Rückgang der demokratisch regierten Länder blieben jahrelang ungelöst, weil sich die europäischen Institutionen mit lähmendem Nonsens beschäftigen mussten, den eine egoistische und nationalistische britische Regierung ihnen aufnötigte, getreu dem Motto: ›Britain first!‹. Wohin das führt, ist in den USA zu erkennen. Eine bittere Pille zum Jahresbeginn 2019!