von Herbert Ammon

Erleichterung ist spürbar in der Welt der Politik und der Finanzen. Die Zaubermittel der Troika, die Bereitstellung von exorbitanten, elektronisch erzeugten Geldsummen als ›Rettungsschirme‹ für gefährdete Banken und vom Bankrott bedrohte Staaten, zuletzt die umfassende Kaufgarantie des EZB-Chefs Mario Draghi für Staatsanleihen der Krisenländer, zeigen Wirkung.

Die Märkte (Plural) sind dabei, sich zu beruhigen, die Banken kaufen erneut Schuldenpapiere der noch unlängst als PIGS bezeichneten Krisenstaaten, die Rating-Agenturen heben ihre Benotung der Schuldenstaaten an, selbst Griechenland wird wieder für kreditwürdig befunden. Mutmaßlich schöpfen auch die Investoren wieder Vertrauen. Ob das den Krisenländern verordnete Schuldenregime das geeignete Mittel ist, die seit Jahren anwachsenden Arbeitslosenquoten zu mindern, ist in den Medien kein dringliches Thema mehr.

Allein der Euro-Staat und nahöstliche Finanzplatz Zypern ist im Gefolge der Griechenlandkrise sowie aufgrund urplötzlich aufgebrochener Zweifel an der Solidität seiner mit mafiösen Ostunternehmen verquickten Banken in Bedrängnis und Verruf geraten. Wie im Falle Griechenlands, wo Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble vor den allseitigen Pressionen zurückwichen, fügt sich die Berliner Politik bereits in die behauptete Notwendigkeit eines Schuldenschnitts und von Milliardenkrediten für Zypern.

Die Rede von der ›Krise der EU‹

Während die Finanz-, Schulden- und Euro-Krise somit vorerst abgewendet scheint, hält die Rede von der ›Krise‹ der europäischen Einigung an. Sie lautet: Im Gefolge der Euro-Krise und des Machtwechsels in Paris sei die deutsch-französische Freundschaft nicht mehr gänzlich ungetrübt, die Rechnung für die Rettung des Euro stehe noch aus. Hinzu kommen, soeben untermauert vom für 2017 angekündigten Referendum über einen EU-Austritt, die gegen ›Brüssel‹ gezielten Forderungen des von ›rechten‹ Souveränisten getriebenen britischen Premiers David Cameron. Allenthalben seien destruktive, europaskeptische Sentiments zu spüren, während am rechten Rand angesiedelte Populisten und/oder Nationalisten mit europafeindlichen Parolen Stimmung machten. Deutschland als Kernland der EU sei ein besonderer Problemfall: Wurde hinter den von deutscher Seite verfolgten Euro-Rettungskonzepten nicht ein neuer Hegemonialanspruch sichtbar – mit verheerenden Folgen für Europa?

Es fehlt nicht an Empfehlungen zur Überwindung der ›Krise‹: Nur mit ›mehr Europa‹ seien die Gefahren zu bannen. Unter ›mehr Europa‹ versteht man innerhalb der deutschen classe politique anscheinend noch Unterschiedliches: Merkel und Finanzminister Schäuble zielen auf eine umfassende Fiskalunion zur ›Vollendung‹ der Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb der Euro-Zone. Schäuble, seit langem Verfechter eines europäischen Bundesstaats, nutzt die ›Krise‹, um die noch unvollendete politische Union voranzutreiben, wobei die EU-Kommission zur formalen, vom Europa-Parlament gewählten Regierung erhoben und das Ganze durch die Direktwahl eines EU-Präsidenten gekrönt werden soll. (Schäuble I). Von links greift der als Finanzexperte der Grünen (und prospektiver Finanzminister) auftretende Jürgen Trittin französische Forderungen auf und bringt zur Vertiefung der im Zuge der Euro-Krise begründeten Schuldenunion vermittels Ausgabe von Euro-Bonds, sprich inflationärer Schuldenpapiere, ins Spiel.

Der Sozialdemokrat Martin Schulz befürwortet einen Ausbau der Institutionen der EU, insbesondere eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Als Fernziel steht ihm zwar der europäische Bundesstaat vor Augen, doch die Nationalstaaten würden – mit notwendigen Einschränkungen zugunsten der EU – ihre politische Bedeutung behaupten, mit ihnen die Nationen als Subjekte der europäischen Politik (Schulz). Der frühere Präsident des Europäischen Parlaments Klaus Hänsch (SPD) plädiert für eine »Seitwärtsbewegung« der bestehenden Union durch »die Schärfung des in ESM, Fiskalpakt, Bankenunion und Eurogruppe vorhandenen Instrumentariums durch die 17+x Mitgliedstaaten, zum anderen die volle Anwendung und Belebung des geltenden EU-Vertrages«. Während er vor der allenthalben »begonnenen Renationalisierung« und der Gefahr der »politischen Radikalisierung gegen das nationale wie gegen das europäische ›System‹« warnt, sieht er die Union »gewiss noch in der ersten Etappe auf dem Weg zu der ersten transstaatlichen Demokratie der Welt« – ein begriffliches und politiktheoretisches Novum. (Hänsch).

Noch auf dem Höhepunkt der Euro-Krise plädierten die Philosophen Julian Nida-Rümelin und Jürgen Habermas sowie der Ökonom Peter Bofinger – als einer der ›Wirtschaftsweisen‹ auch Berater der Bundeskanzlerin – in einem Appell an die SPD für einen ›Kurswechsel in der Europa-Politik‹, der auf ein durch repräsentativ-demokratische Institutionen verfestigtes ›Kerneuropa‹ um die durch Polen zu erweiternde Euro-Zone hinausläuft.

Im Hinblick auf das noch zu kreierende Gebilde schwebt den Autoren eine neuerliche Verfassungsdebatte vor. Ganz abgesehen von der geringen Wahrscheinlichkeit eines solchen Unternehmens mag es im Hinblick auf Habermas' sattsam bekannte Aversion gegen den (deutschen) Nationalstaat überraschen, dass sich die drei Ratgeber gegen die Idee eines europäischen Bundesstaates wenden. Sie erklären die Völker (sic!) und zugleich die Gesamtheit der Bürger der als »EWU« bezeichneten Mitgliedstaaten zum Träger des neu zu kreierenden Gebildes, eines »demokratischen Kerneuropas«. »Der europäische Bundesstaat ist das falsche Modell und überfordert die Solidaritätsbereitschaft der historisch eigenständigen Völker.« (Bofinger/Habermas/Nida-Rümelin). Mutmaßlich folgen die Autoren in derlei ungewohnt klingenden Formeln den Vorgaben des Vertrags von Lissabon, der die Nationen zu Bausteinen Europas erklärt und das Konzept eines europäischen Bundesstaates abweist.

Der Euro als politisches Projekt

Was den finanzpolitischen Auslöser der originär – aber nicht ausschließlich – in den USA angelagerten ›Krise‹, den drohenden Staatsbankrott Griechenlands betrifft, so ist der ökonomisch gangbare, vor einem Jahr noch als Krisenrezept empfohlene Austritt des Landes aus der Euro-Zone, unter deutschen und europäischen Eliten anno 2013 kein Thema mehr. Ebenso wenig wird noch über den unter fragwürdigen Umständen 2000 zustande gekommenen Beitritt Griechenlands zur Euro-Zone gesprochen. Warum nicht?

Der Euro war von Anbeginn ein politisches Projekt, und dies im doppelten Sinne: Zum einen sollte eine Gemeinschaftswährung die europäische Einigung symbolisieren und befördern. Zum anderen lag die Einführung des Euro primär im Interesse Frankreichs, das schon vor dem Mauerfall um seinen Rang im europäischen Machtgefüge fürchtete. Für die erste Position steht als wichtigster Protagonist der Gemeinschaftswährung der christliche Sozialist Jacques Delors, für die zweite Jacques Attali, Berater von François Mitterand. Dieser erklärte seinerzeit unverblümt: »Die Macht Deutschlands beruht auf seiner Wirtschaft, und die D-Mark ist die deutsche Atombombe.« (Zit. in: Rödder).

In den Auseinandersetzungen über die Konstruktion immer neuer ›Rettungsschirme‹, in denen zuletzt für den sog. Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) das Budgetrecht des Bundestags außer Kraft gesetzt wurde, fuhr Merkel das stärkste Geschütz auf: »Scheitert der Euro, scheitert Europa.« Die Floskel greift die Rhetorik Helmut Kohls auf, der, nach dem Mauerfall von François Mitterand zum Souveränitätsverzicht der Bundesbank genötigt, die Schaffung der Gemeinschaftswährung als Frage von Krieg und Frieden bezeichnete.

Die Schaffung eines gemeinsamen Währungsraumes von Ländern mit höchst unterschiedlicher ökonomischer Leistungsfähigkeit warf von vornherein das Problem einer Transfer-Union auf – ein von den Protagonisten der Währungsunion negiertes Faktum. Die von ökonomischen Fachleuten – von dem alten Euro-Kritiker Wilhelm Hankel über den von Medien und Merkel ins politische Abseits beförderten einstigen Euro-Mitschöpfer Thilo Sarrazin bis hin zu Kritikern wie Hans-Olaf Henkel (anfangs ein Euro-Befürworter) oder Hans-Werner Sinn – vorgetragene Kritik wurde während der Euro-Krise von der Politik ignoriert.

Im Gefolge der Schuldenkrise sind die zur Wahrung eines stabilen Euro, genauer: zur Beruhigung der Deutschen in Maastricht fixierten Vertragsklauseln (no bail-out bei Staatsverschuldung) ausgehebelt worden. Die finanztechnische ›Lösung‹ der Krise besteht vorerst in riesigen Kreditgarantien, realen Krediten, Minderung der Staatsschulden sowie der Garantie beliebiger Staatsanleihen durch die EZB. Sofern die verfolgten Konzepte ihre Wirkung nicht verfehlen, handelt es sich um eine inflationsschwangere künstliche Geldschöpfung sowie um vertraglich verhüllte Transferleistungen der potenten Euro-Länder an die von Schulden und Strukturschwächen geplagten Staaten. Die diesen aufgenötigten Sparprogramme verschärfen die – aus unterschiedlichen Gründen – in Portugal, Spanien und Griechenland aufgebrochene Misere, ohne in den von Massenarbeitslosigkeit und Kapitalflucht geplagten Ländern die ökonomische Konsolidierung durch ›selbsttragendes Wachstum‹ garantieren zu können. Im Falle Griechenlands ist zu vermerken, dass die Schulden- und Staatskrise des Landes außer internen Ursachen (Steuerprivilegien, Investitionsunlust der Vermögenden, aufgeblähter Staatsapparat, hoher Wehretat) auch den jahrzehntelangen EG-/EU-Subventionen geschuldet ist. Die Einführung des Euro geschah trotz offenkundig fingierter Wirtschaftsdaten.

Zur ›Krise Europas‹

Was ist der Kern der ›Krise‹, was bezweckt die Rede von der ›Krise Europas‹? Die in Politik und medialer Meinungsbildung vernehmbaren Beschwörungen nötigen zu Betrachtungen über den realen Zustand Europas. Eine reductio ad capital atque usuuram mag angesichts der mutmaßlich nur vorübergehend ausgestandenen Finanz- und Schuldenkrise naheliegen, sie genügt indes nicht zur Darstellung eines Problemkomplexes, der über die von der US-Bankenkrise 2008 ausgelösten ökonomische Debatte – neoliberales Schuldenregiment oder neo-keynesianische Schuldenausweitung – hinausreicht. Was in deutschen ›Diskursen‹ weithin tabuisiert wird: Es geht um mit dem Ökonomischen verquickte Fragen von Souveränität, Macht und Ideologie. Gerade die Schuldenkrise birgt im Hinblick auf den Bruch der Maastricht-Kriterien und die angestrebte Transferunion eine politische Machtfrage.

Zur Debatte steht die umfassende constitutio der Europäischen Union, eines in verfassungsrechtlichen Begriffen schwer fassbaren politischen Gebildes. Laut der im Urteil zum Vertrag von Maastricht 1992 geprägten, ungeachtet aller Folgeverträge offenbar noch nicht revidierten Begriffsformel des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei der EU um einen ›Staatenverbund‹ – ein mutmaßlich nur im Deutschen verwendbarer Begriff.

Im ›Volke‹ hauptsächlich durch immer neue ›Richtlinien‹ und ›Verordnungen‹ aus Brüssel wahrgenommen, entzieht sich die EU einer eindeutigen staatsrechtlichen Definition. Für den – im Bunde mit anderen – durch mehrere Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe hervorgetretenen Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider hat die EU als von Vertrag zu Vertrag verfestigtes Gebilde längst die Grenze zu einem Bundesstaat überschritten. Für Apologeten des als ›irreversibel‹ beschworenenen Einigungsprozesses bildet die Europäische Union bis dato keine politische Union und sei ungeachtet gewisser Aspekte – ›föderalistisch‹ im Sinne des amerikanischen ›federalism‹ – von einem Bundesstaat weit entfernt. Ein Bundesstaat sei vertraglich ohnehin ausgeschlossen.

Ob damit der Unmut von ›Europaskeptikern‹ abzuwehren ist, sei dahingestellt. Unübersehbar sind die zentralistischen Tendenzen, die von der ›Eurokratie‹, den mit einem wachsenden, hoch bezahlten Beamtenapparat ausgestatteten Behörden in Brüssel ausgehen. Kritik entzündet sich an Umfang und Umgang mit dem letztlich von den Netto-Einzahlern finanzierten beachtlichen Budget. Inwieweit die weithin in die Infrastruktur von ökonomisch schwächeren Ländern geflossenen EU-Fördermittel ihre Zielsetzung, Wachstum und Wohlstand zu befördern, erreicht haben, erscheint angesichts der in der Schuldenkrise evident gewordenen Fehlentwicklungen in der Euro-Südzone (Staatsapparat, Immobilien und Tourismus) fragwürdig.

Unter dem Vorzeichen der Harmonisierung Europas verfolgt die EU-Zentrale vermittels entsprechender Geldflüsse politisch-ideologische Konzepte, die – über löbliche Projekte wie das Erasmus-Austauschprogramm hinausgehend –, auf nationaler Ebene zu verhandeln wären. Das jüngste Beispiel dafür lieferte die unter der Gleichheitsdevise erhobene „Forderung“ nach einer Frauenquote in den Aufsichtsräten. Nachdem die deutsche Familienministerin Ursula von der Leyen mit ihrem – gewiss nicht zur Zügelung des neoliberalen Finanzkapitalismus oder zur Humanisierung der Arbeitswelt erdachten – feministischen Konzept auf taube Ohren stieß, ertönte die ›Forderung‹ aus dem Munde der EU-Justizkommissarin Viviane Reding. Das Vorgehen illustriert das Spiel über die Bande: Was im nationalen Rahmen angestoßen womöglich auf Widerspruch stößt, soll über den Apparat in Brüssel durchgesetzt werden.

Kurz: In vielerlei Fragen – von den ökologisch widersinnigen Sparleuchten bis zum eher einleuchtenden Rauchverbot –, insbesondere bei den von der EU-Kommission erarbeiteten ›Richtlinien‹, welche die Parlamente der Mitgliedsstaaten zur ›Anpassung‹ der bestehenden nationalen Gesetzgebung nötigen, verfügt die Kommission in Brüssel bereits über erhebliche Machtbefugnisse (Stichwort: ›Kompetenz-Kompetenz‹), die an die der Washingtoner Bundesbehörden gegenüber den US-Bundesstaaten erinnern. Die EU-Kommission entfaltet seit langem ein politisches Eigenleben, weder merklich beeindruckt von Stimmen aus dem Europa-Parlament noch von Kritik aus den Einzelstaaten der EU. Es ist in Bezug auf den Lissabonner Vertragsrahmen nicht klar, inwieweit der aus den Regierungs- und Staatschefs zusammengesetzte Europäische Rat im Sinne einer Gewaltenteilung auf höchster europäischer Ebene als Korrektiv oder aber als letztlich entscheidendes Beschlussgremium wirken kann oder soll. Zu fragen bleibt im Hinblick auf das Konsensprinzip sowie auf die in bestimmten (?) Fragen entscheidende ›qualifizierte Mehrheit‹: Welche Machtgewichte, welche Interessen kommen zum Tragen, wer gibt den Ton vor?

Grundsatzfragen zur ›Krise‹

Die ›Krise der EU‹ betrifft Grundsatzfragen: Es geht um die viel beschworene, unverzichtbare Einigung Europas als Antwort auf die verheerenden Weltkriege. Im Hinblick auf die angestrebte dauerhafte Friedensordnung steht der neuzeitliche Souveränitätsbegriff – und dahinter die durch den Mauerfall neu aufgeworfenen Machtfragen im europäischen und globalen Rahmen – zur Debatte.

Offensichtlich stößt der von der deutschen (westdeutschen) Politik seit Konrad Adenauer verfolgte Weg: Übertragung von vertraglich (Pariser Verträge von 1954) zurückgewonnener (Teil-) Souveränität auf supranationale europäische Institutionen an seine Grenzen. Angesichts der neuerlichen ökonomischen Stärke Deutschlands sowie aufgrund der deutschen Austeritätskonzepte für die Krisenstaaten geht das Gespenst von der deutschen Hegemonie um. Die deutsche Bereitschaft zu immer neuen Souveränitätsverzichten wird von nicht wenigen Beobachtern als politische List interpretiert. Nicht als List, d.h. zur Abwehr des von außen gehegten Hegemonialverdachts, sondern als schlagendes Argument gegen seine mit Souveränitätsfragen operierenden Gegner in der Euro-Krise – im Bundestag eine verschwindende Minderheit, in der Wissenschaft eine bemerkenswerte Anzahl – formulierte Finanzminister Schäuble den Satz: ›Deutschland ist seit 1945 nicht mehr souverän.‹ Die Worte, unter welchen Umständen auch immer gewählt, widerlegen die Vorstellung von der durch den 2+4-Vertrag wiedergewonnenen vollständigen deutschen Souveränität, die in den EU-Verträgen nur in gemeinschaftlichen Souveränitätsverzichten an die Staatengemeinschaft delegiert werde.

Anders als Deutschland wacht Frankreich über seine Souveränitätsrechte. Die französische classe politique versteht es, ihre eigenstaatlichen Interessen auch gegenüber – und vermittels seiner ENA-Absolventen auch innerhalb – der Brüsseler EU-Zentrale zu behaupten. Mehr noch: Im Vertrauen auf das eigene politische Gewicht, gestützt auf eine stabile Demographie, propagieren Intellektuelle wie Jacques Attali einen weiteren Schub zur Föderalisierung, sprich: Integration der Länder der Euro-Zone. Käme eine solche von Attali befürwortete neuerliche Verfassungsdebatte dem oben erwähnten Konzept der Trias Bofinger-Habermas-Nida-Rümelin entgegen, so liegt die Frage nahe: Cui bono?

Auf der anderen Seite steht David Cameron mit der Forderung nach Rückübertragung von Souveränitätsrechten von Brüssel nach London inzwischen nicht mehr allein. Während das kleine Dänemark nach wie vor über seine Eigenständigkeit (und Währung) wacht, greift der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte Camerons Forderung nach Revision der Verträge auf. Er fordert mehr Souveränität der Mitgliedstaaten und die Gewährleistung der in Vertragsklauseln zugesicherten Subsidiarität.

Wie immer die von der Eurokrise ausgelöste, von Camerons Ankündigung eines britischen EU-Referendums zugespitzte ›Krise‹ von den politischen Klassen der maßgeblichen EU-Staaten politisch abgewickelt wird, auf der theoretischen Ebene trägt sie einige Früchte: Zur Diskussion stehen europäische Zukunftsfragen: Fragen des Modus politischer Integration angesichts inhomogener nationaler Interessen, die Frage nach dem politisch-kulturellen Charakter der Mitgliedstaaten, das Unbehagen am »Raumschiff Brüssel« (Busse), nicht zuletzt Legitimationsfragen in der modernen Massendemokratie.

Demokratiefragen

Der Satz ›Europa-Recht bricht Bundesrecht‹ gehört zu den staatsrechtlichen Lehrsätzen für juristische Erstsemester an den deutschen Universitäten. Er kann als Ausgangspunkt für demokratietheoretische Überlegungen dienen. Der Souveränitätsbegriff führt auf Jean Bodin (1576) und Thomas Hobbes zurück (1651) und dient der Begründung des frühneuzeitlichen Absolutismus. Ihm steht, unterschiedlich begründet und ausgeführt, der Souveränitätsbegriff eines John Locke (1690) und eines Jean-Jacques Rousseau (1762) entgegen. Nehmen wir nicht den englischen Parlamentarismus, sondern die Schweiz als neuzeitlichen Geburtsort der ›ältesten Demokratie‹, so ist es kein Zufall, dass ein Schweizer, die staatliche Souveränität als solche ›demokratisch‹ legitimiert sehen will. Der Diplomat Johannes B. Kunze leitet sie von dem Souverän ab, »der im Idealfall einer Demokratie vom Volk verkörpert wird.« (Zit. in: Hillgruber).

Die Verknüpfung von Staat und Volk im Souveränitätsbegriff kommt in deutschen Debatten kaum je zum Vorschein. Dessen ungeachtet geht es um Sinn und Modus der Übertragung des demokratischen Grundprinzips auf staatliche Institutionen. Dazu erhellend heißt es in den Internet-Handreichungen der Bundeszentrale für politische Bildung unter dem Stichwort ›Deutsche Demokratie‹: »In der deutschen Demokratie ist die Macht auf 82 Millionen Menschen verteilt. Alle Bürger sind für den Staat verantwortlich. ‹( http://www.bpb.de/politik/grundfragen/). Die gedankliche Schlichtheit der Aussage entspringt mutmaßlich der tiefstinneren zivilreligiösen Überzeugung ihres Autors resp. ihrer Autorin.

Inwieweit das Demokratieprinzip (Art. 20,2 GG) im parlamentarischen System sowie in der bundesdeutschen Parteiendemokratie zur Geltung kommt, sei hier als Frage angedeutet. Die Scheu etablierter Politik vor ›direkter Demokratie‹, vor der Beteiligung des ›Volkes‹ in der Entscheidung über politisch relevante Fragen (also nicht über die Müllabfuhr oder die Umgehungsstraße) ist bekannt. Falls noch gebräuchlich, bezieht sich ›Basisdemokratie‹ nur noch auf innerparteiliche Positionskämpfe. Vor diesem Hintergrund musste es überraschen, dass in der Verhandlung über das Euro-Rettungssystem EMS der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle die Notwendigkeit eines Referendums bei weiteren Souveränitätsabtretungen ins Spiel brachte. Plötzlich redeten auch Politiker wie Schäuble von einer künftig verfassungsrechtlich gebotenen Volksabstimmung. (Schäuble II). Während man beim Beitritt der DDR zur alten Bundesrepublik den Art. 146 GG vermittels des – nach der deutschen Vereinigung 1990 unverzüglich im europäischen Sinne umgemünzten – Artikels 23 umschiffte, bekennen sich Protagonisten der politischen Klasse nunmehr zur Reinheit des Prinzips ›Volkssouveränität‹.

Im Gefolge von Maastricht war in Deutschland die Rede von den ›Demokratiedefiziten‹ der EU noch nicht tabuisiert. Die Ablehnung des ›Verfassungsvertrages‹, in verschiedenen Ländern, darunter Frankreich, aus verschiedensten Gründen erfolgt, mündete in den Vertrag von Lissabon, der sich nach Meinung des führenden ›Verfassungsgebers‹ Valéry Giscard d´Estaing vom abgelehnten Vertrag kaum unterscheidet. Wie bei allen Folgeverträgen von Maastricht, wurde dem Vertrag von Lissabon – in der englischen Fassung ein Konvolut von 312 Seiten – im Bundestag mit ca. 90 Prozent zugestimmt. In anderen Ländern stieß er auf erheblichen Widerstand. Er trat erst in Kraft, nachdem das erste ablehnende Referendum in Irland, wo im Juni 2008 als einzigem Land überhaupt abgestimmt wurde, unter Pressionen und Versprechungen wiederholt und revidiert wurde. (Ross).

Souveränitätsfragen

Die Frage von Souveränität und Demokratie wird auf peinliche Weise akut im Umgang der EU-Eliten mit nach ihrem Befinden unbotmäßigen Mitgliedstaaten. Zu Beginn der ÖVP-FPÖ-Koalition unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel wurde Österreich anno 2000 unter Quarantäne gestellt. In jüngster Zeit sah sich in Ungarn die konservative Regierung unter Viktor Orbán im Zuge einer eigenständigen, auf historisch-nationale Traditionen und Symbole abhebenden Verfassungsgebung mancherlei Pressionen von Brüssel ausgesetzt. Auf der anderen Seite kommen Staaten wie Rumänien oder Bulgarien, in denen die politische Wirklichkeit weit weniger mit Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats in Einklang stehen, mit ein paar Ermahnungen davon. Die nationalistisch feindselige Politik Griechenlands gegenüber der aus der Auflösung Jugoslawiens hervorgegangenen Republik Mazedonien wird von der EU-Kommission seit Jahren ohne merklichen Widerspruch toleriert.

Was den Umgang der Brüsseler Eliten mit den kleinen, auf nationale Identität bedachten Staaten betrifft, so signalisiert die polemische Formel EUdSSR die Entfernung der EU-Superstruktur von der Basis, den Völkern Europas. Das Problem nationaler Abwehr oder Distanz zu der zentralistisch agierenden EU-Bürokratie mag sich abschwächen – oder zuspitzen –, wenn im Zuge fortgesetzter Immigration aus ›Drittländern‹ sowie innereuropäischer Migration in den Einzelstaaten sowie in der Euro-Zone ein neues ›Volk‹, ein umfassend verändertes Substrat der politischen Prozesse entstanden sein sollte.

Die Institutionen der Europäischen Union (Europäischer Rat, Europäische Kommission, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof) sind den Völkern der Mitgliedstaaten nur in vagen Formen vertraut. Die Entscheidungsprozesse und Entscheidungen der Eliten – innerhalb der Mitgliedstaaten sowie im Wechselspiel zwischen EU-Behörden und Einzelstaaten werden den Bürgern, dem ›Souverän‹, in der Mediendemokratie – ungeachtet aller Talkshow-Rituale – immer weniger transparent, wobei die Komplexität der Materie oft nur der eine Aspekt ist. Der andere Teil der Realität, die in allen Konflikten wirksamen Machtmechanismen, sollen tunlichst dem unberechenbaren Volkswillen entrückt bleiben. Nicht zufällig gehört in Politik und Medien das Pejorativum ›Populismus‹ zu den schärfsten Waffen im Kampf gegen unliebsame, an Souveränitätsprinzipien festhaltende Gegner. Eignet sich der ›Populismus‹-Vorwurf, vielfach in Verbindung mit dem Adjektiv ›rechts‹, dazu, eine Debatte über fragwürdige Entscheidungen abzuwürgen, so signalisiert die Vokabel selbst die wachsende Kluft zwischen etablierter Politik samt Funktionseliten und der ›Volk‹, dem corpus mysticum der Demokratie.

Naturgemäß birgt der Begriff ›Demokratie‹ ein kaum je aufzulösendes Dilemma: Die Idee der Selbstherrschaft – oder Souveränität – des demos betrifft die reale Ausübung von Macht. In zugespitzter Weise stellt sich die Problematik der alten Polis unter dem Aspekt der modernen Massendemokratie und Mediengesellschaft. Auf groteske, vulgäre Weise manifestieren sich demokratischer Anspruch und Partizipation des ›Volkes‹ in den TV-Talkshows oder auf den Rängen der Fußballstadien Europas. Unberührt davon bleibt – nicht allein im Blick auf Brüssel – die Frage nach Transparenz sowie nach politischer Selbstorganisation innerhalb des ordre établi.

Zu den demokratischen Schwachstellen Europas gehören die Sezessionsbestrebungen in einigen der großen Mitgliedstaaten. An den Forderungen nach nationalstaatlicher Eigenständikeit wird das seit der Geburt der modernen Nation in der Französischen Revolution bestehende Problem virulent: Welches sind die ›Nationen‹ als – laut Lissabon – ›Bausteine‹ der EU? In welchem staatlichen Rahmen soll das Prinzip der Volkssouveränität hervortreten? Innerhalb der vorgezeichneten Staatsgrenzen, mit den vorhandenen, in widerspruchsvollen Geschichtsprozessen entstandenen Staatsnationen als Subjekten ›nationaler‹ und europäischer Politik oder auf der Basis ethnisch-nationaler und historisch-kulturell begründeter Selbstdefinition von ›Völkern‹ als Subjekten nationaler Demokratie? Im Falle Serbiens machte sich die EU zusammen mit den USA für die Loslösung des Kosovo (und zudem Montenegros) stark. Im Hinblick auf Schottland, im Baskenland sowie in Katalonien lassen die EU-Eliten keinen Zweifel an der Ablehnung des separatistischen Nationalismus. Separation wäre gleichbedeutend mit Ausscheiden aus der EU.

Sicherheitsfragen

In der Diskussion um die ›Krise der EU‹ empfiehlt als senior statesman Egon Bahr die Parole Willy Brandts von 1969. ›Mehr Demokratie wagen!‹ Er schreibt: »Das Thema Demokratie ist ein Schlüsselthema für Europas Zukunft.« Die Antwort auf die Frage nach den Inhalten der Demokratisierung Europas auf der Ebene der EU bleibt Bahr jedoch schuldig. Er befasst sich nicht mit Fragen der Partizipation, der Machtkontrolle ›von unten‹. Vielmehr zielt seine Argumentation auf die durch die amerikanischen Raketenabwehrsysteme erneut akut gewordene Sicherheitsproblematik und mündet in ein Plädoyer zur Beteiligung Russlands an einem gemeinsamen Abwehrschirm.

Ungeachtet aller Bekundungen der Eintracht bildet ›Sicherheit‹ im Raum der EU noch immer ein Problem sui generis. In Sicherheitsfragen beharren Frankreich und Großbritannien auf eigenstaatlicher Souveränität, keineswegs nur im Blick auf die alleinige Verfügungsgewalt über die atomare Abschreckung. Hingegen ist die deutsche Politik stets genötigt, zwischen Eigeninteressen, den Interessen ihres französischen EU-Partners sowie den Interessen und Erwartungen der übrigen NATO-Partner, nicht zuletzt der USA, zu lavieren.

Über die Motive für das einseitige Vorgehen Frankreichs, Englands (und Italiens) beim Sturz Gaddafis ist hier nicht zu rechten oder zu spekulieren. Dass Sicherheitsfragen mit ökonomischen und Machtinteressen zusammenfallen, demonstriert Frankreich derzeit mit seiner Intervention in Mali. Hollandes Ankündigung einer Abkehr von der herkömmlichen Politik des Francafrique sollte man nicht auf die Goldwaage legen. Merkel wurde vom bevorstehenden Eingreifen französischer Truppen anscheinend nicht informiert. Der erfolgreiche Vormarsch der französischen Einheiten gegen Dschihadisten ist durchaus begrüßenswert. Darüber sollten jedoch Fragen wie die kolonialen Grenzziehungen, die fragwürdigen ›Souveränitäten‹ der postkolonialen Staaten (›Nationen‹), nicht zuletzt das ökonomische Interesse an lebenswichtigen Ressourcen (etwa die Uranvorkommen in dem an Mali angrenzenden Niger) nicht übersehen werden.

Zum Verhältnis der Nationen in Europa

Zur Analyse der realen Verfassung der EU gehören die kulturellen Unterschiede, die politischen Ungleichgewichte und die nach wie vor divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten. Unterschiede bestehen zwischen den europäischen Völkern fort – in Sprachen, religiösen Bindungen, Denktraditionen, historischen (›kollektiven‹) Erinnerungen, Eigen- und Fremdbildern, Sympathien und Antipathien. Das von Enthusiasten unter den europäischen Eliten bevorzugte Modell allgemeiner Dreisprachigkeit (unter dem Schlagwort M+2 [Muttersprache plus zwei Fremdsprachen]) erweist sich selbst im Verkehr europäischer Hochschulabsolventen oft als Wunschvorstellung. Unberührt von Globalisierung, von Englisch als europäisch etablierter lingua franca, von ›McDonaldisierung‹ und von den Zwängen des europäischen Binnenmarktes bestehen derlei Prägungen und Wahrnehmungen unter den Völkern in den höchst unterschiedlich verfassten Nationalstaaten fort.

Es gehört zu den Wunschvorstellungen deutscher Eliten, dass im Zuge der europäischen Einigung seit 1951/1957, erst recht seit 1989, alle Interessengegensätze zwischen den europäischen Nationen geschwunden seien. Spezifische Machtkonstellationen sowie Rivalitäten – in zum Glück abgemilderter Form – bestehen in Europa fort. Die EU vereint Staaten mit nicht vollends begrabenen Großmachtambitionen wie Frankreich, das eigenwillige Vereinte Königreich, Mittelmächte wie Spanien, Italien und Polen, das in seiner Selbstwahrnehmung und Machtausübung aufgrund seiner Geschichte – und seiner Mittellage – verunsicherte, durch ›Selbsteinbindung‹ nach Sicherheit strebende Deutschland, dazu eine Vielzahl von Kleinmächten, die in diesem Ensemble um die Wahrung ihrer Interessen bestrebt sind. Genannt seien Staaten wie Schweden, Dänemark oder die Tschechische Republik, nicht zu vergessen Griechenland.

Frankreich und Deutschland

Geschichte und Zukunft der EU beruhen auf der französisch-deutschen Aussöhnung. Am 22. Januar 2013 vereinten sich Deutsche und Franzosen in Berlin zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Elysee-Vertrages. Den medialen Höhepunkt bildete der Küssetausch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel, ›ostdeutsch‹ sozialisierte Christdemokratin, und dem französischen Präsidenten François Hollande, ENA-Absolvent und Sozialist. Den Begleittext lieferten historische Erinnerungen an die Versöhnungsgesten zwischen Adenauer und de Gaulle anno 1963 sowie Bekundungen der deutsch-französischen Freundschaft als ›Motor der europäischen Einigung‹.

Die deutsch-französische Freundschaft droht Schaden zu nehmen, sobald Frankreich in seiner ökonomischen Stärke gegenüber Deutschland abfällt und um seinen nie zurückgestellten Führungsanspruch fürchten muss. Sofern Frankreich in der Währungskrise nach dem Abgang Sarkozys die Forderung nach Eurobonds ins Spiel brachte und – nicht allein aus währungs- und wirtschaftspolitischem Eigeninteresse – zugunsten der ›weichen‹ Südzone des Euro auf den Plan trat, zeichnete sich eine Bruchlinie zwischen den beiden maßgeblichen Staaten der EU ab. Beobachter wie der Historiker Pierre Nora stellen angesichts des mangelnden Sprachinteresses – am Französischen diesseits und am Deutschen jenseits des Rheins – bereits den Beginn einer gewissen Entfremdung der beiden Völker fest. Die entscheidende Frage bleibt, wie die Eliten in Paris und Berlin ihre Interessen in und außerhalb Europas in Einklang bringen.

Fragen zur EU-Außenpolitik

Völlig unklar bleibt der weitere Ausbau der EU auf dem Balkan sowie die Frage ihrer Außengrenzen. Wo endet EU-Europa? An den Grenzen der Türkei, Weißrusslands, der Ukraine, Georgiens? Ungewissheit herrscht bezüglich des – im Sinne einer Friedensunion nach innen und außen vermeintlich einvernehmlichen – Machthandelns der EU. Im globalpolitischen Kontext: Wie werden die EU-Europäer mit der globalen Migration fertig, wie sollen und werden die EU-Staaten im Krisenbogen Nahost agieren, welches Konzept – jenseits von Entwicklungshilfe – verfolgt man gegenüber dem postkolonialen Afrika? Wie sich langfristig das Verhältnis zu den USA sowie zur längst global agierenden neuen Weltmacht China entwickelt, ist mehr als nur müßige Spekulation.

Über die reale politische Qualität der EU-Außenkommissarin Catherine Ashton sowie ihres im Aufbau begriffenen diplomatischen Apparates besteht Unklarheit. »Das Europa der Europäischen Union wird auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, eine geschlossene, handlungsfähige und überzeugende Außenpolitik in die Tat umzusetzen«, schreibt Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in einem Aufsatz über europäische und deutsche Perspektiven im asiatisch-pazifischen Raum.

Last but not least geht es um das Verhältnis der Europäischen Union zu Russland. Die seit Montesquieu, Juan Donoso Cortés und Karl Marx tief verwurzelte Aversion der Westeuropäer gegen das russische Imperium hinderte die Mächte nicht, Russland seit dessen Aufstieg unter Peter dem Großen bis in den I. Weltkrieg hinein ins europäische Mächtespiel einzubeziehen. Als Bündnisgenosse gegen Hitler-Deutschland war der Despot Stalin den Demokratien im II. Weltkrieg willkommen. Wer daran Anstoß nimmt, dass Putin den Zerfall des Sowjetimperiums als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts betrachtet, möge sich erinnern, dass die Sowjetunion bis in die Ära Carter/Brzezinski als wenn auch schwer berechenbarer Garant des Ost-West-Gleichgewichts, des bipolaren Systems auf der Basis der deutschen Teilung akzeptiert, von manchen Mitspielern erwünscht war. An Putins autoritärem Gebaren, an der Verletzung rechtsstaatlicher Normen Russlands ist mit Grund Anstoß zu nehmen. Aber: Putin ist kein Stalin. Und: Menschenrechtsrhetorik wird – nicht anders als die militärisch zugespitzte Praxis ›humanitärer‹ Intervention – von europäischen Politikern in der Regel selektiv gepflegt. Die Grenze zwischen dem Bekenntnis zu unveräußerlichen Grundrechten und zu ideologischer Zwecknutzung ist selbst innerhalb der EU fließend.

Insofern das byzantinisch-orthodox geprägte Südosteuropa – spätestens seit dem Beitritt Griechenlands zur EWG 1974 – zu ›Europa‹ gehört, gehört auch Russland ungeachtet seiner eurasischen Geographie zu Europa, nicht allein aufgrund seiner großartigen Beiträge zur europäischen Kultur. »Russia is hostile«, heißt es im in einem Aufsatz des Economist über die globalpolitischen Aufgaben Obamas. (»How will history see me?«) Derlei Wahrnehmung verheißt auch für die Beziehungen der EU zu Russland wenig Gutes.

Nicht nur eine Frage des Geldes

Zum Schluss: Die Notwendigkeit einer stabilen Friedensordnung in Europa versteht sich von selbst. Ihre Friedensfunktion wird die EU solange erfüllen, wie zum einen im Inneren der Staaten Freiheitlichkeit, sozialer Frieden, insbesondere sozial-kulturelle Integration gewährleistet ist, zum anderen, solange über Umverteilungsfragen oder Transferleistungen zwischen den Staaten keine ernsthaften Konflikte, aufbrechen. Es handelt sich um die von deutscher Politik gemiedene Frage nach der Machtverteilung in EU-Europa. Unberührt davon bleibt die Frage nach der Verwirklichung demokratischer Prinzipien im politischen Geflecht der EU.

Die Griechenlandkrise brachte zu Bewusstsein, wie weit die politischen Klassen in europäischen Staaten den Bedürfnissen und Erwartungen ihrer Völker entrückt sind. Im Handumdrehen brachen über den Krisenkonzepten alte, für überwunden gehaltene nationale Empfindungen und Ressentiments auf. Sie verdeutlichen, wie weit die Nationen Europas von einem demokratischen Gemeinwillen, befestigt in gemeinsam getragenen Institutionen, noch entfernt sind.

Unsere Kritik der Europäischen Union zielt auf eine unvoreingenommene Debatte über die Vorzüge und Schwächen eines politischen Gebildes, das alle Züge eines Oktroi aufweist: ein ›Geschenk‹ der – von unterschiedlichen Interessen geleiteten – politischen Klassen an ihre Staatsvölker. Der von dem Europa-Politiker Hänsch eingeführte Begriff einer ›transstaatlichen Demokratie‹ hebt die Widersprüche von intergouvernementalem Vertragshandeln und Souveränität der Einzelstaaten, von bürokratischer Reglementierung und ausgehöhlter Volkssouveränität nicht auf.

Das Unbehagen am ›Superstaat‹ Europa wächst, nicht nur bei den britischen Tories und der UK Independence Party. Frei von nationalistischen Emotionen fasst der Schriftsteller Eugen Ruge seine Zweifel am Zustand Europas in folgende Sätze: »Das politische Europa, das wir heute haben, ist eine Konstruktion, die ›die Bürger‹, wie sie von den Politikern wohlwollend genannt werden, allenfalls hinnehmen, nicht aber geschaffen haben. Es ist, pardon, vor allem ein Europa des Geldes.«

Aus historisch-politischer Distanz betrachtet, ist die derzeitige Verfassung Europas jedoch keine bloße Geldfrage. Sie birgt andere, unbequeme Fragen. Es sind Fragen, die Bundespräsident Joachim Gauck in einer Rede, die den Bürgerinnen und Bürgern ›Europa erklären‹, den Deutschen (sofern ausgestattet mit einem inflationsbereinigten Minimum von derzeit ca. 2000 € Rente) den Lebensabend im sonnigen Süden schmackhaft machen und allen Europäern die Sorge vor deutscher Politik nehmen soll, in pastoraler Fürsorge ausgespart hat.

Literatur:

Giorgio AGAMBEN: Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie, in: Demokratie?, S. 9-12 (s.u.: Demokratie?)
Jacques ATTALI: Für ein neues Europa. Interview mit Olivier Guez, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.01.2013, S. 30. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/im-gespraech-jacques-attali-fuer-ein-neues-europa-12031860.html
Egon BAHR: »Mehr Demokratie ist die Lösung für Probleme«, Interview in: Der Tagesspiegel v. 25.01.2013, http://www.tagesspiegel.de/politik/williy-brandt-preis-2013-mehr-demokratie-ist-die-loesung-fuer-probleme/7683940.html
BOFINGER /HABERMAS /NIDA-RÜMELIN: Einspruch gegen Fassadendemokratie, in: FAZ v. 04.08.21012, S. 33 = dies.: Für einen Kurswechsel in der Europapolitik, in: http://www.spd.de/linkableblob/74708/data/20120804_habermas_ruemelin_bofinger_faz.pdf
Nikolas BUSSE: Raumschiff Brüssel, in: FAZ v. 26.11.2012, S. 1
Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012 (=es. 2611)
»Euro-Krise: Schäuble prophezeit baldiges Europa-Referendum«, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/europa-schaeuble-europaeer-sollen-praesidenten-direkt-waehlen-12002586.html (=Schäuble II)
Klaus HÄNSCH: Mehr Europa – aber wie?, in: FAZ v. 10.12.2012, S. 7
Christian HILLGRUBER: Wider die Souveränitätsvergessenheit, Rez. zu: J. B. Kunz: Der letzte Souverän und das Ende der Freiheit (2011), in: FAZ v. 12.03.2012, S. 8
»How will history see me?«, in: The Economist, January 19th-25th 2013, S. 9
Wilfried LOTH: Echte Sorgen, echte Tränen, Rez. zu: U. Lappenküper: Mitterand und Deutschland (2011), in: FAZ v. 17.10.2011, S. 8
Pierre NORA: »Man hat sich auseinandergelebt« . Interview in: FAZ v.17.02.2012, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutsch-franzoesisches-verhaeltnis-man-hat-sich-auseinandergelebt-11651980.html
Andreas RÖDDER: Dilemma und Strategie, in: FAZ v. 14.01.2013, S. 7
Kristin ROSS: Demokratie zu verkaufen, in: Demokratie? (s.o.), S. 96-115
Eugen RUGE: Wer steckt denn wirklich in der Krise?, in: FAZ v. 19.12.2012, S. 25
Thilo SARRAZIN: »Europa könnte ganz gut ohne den Euro leben«, Interview in: FAZ v. 21.05.2012, S. 11
Eberhard SANDSCHNEIDER: Wo morgen schon heute ist, in: Der Tagesspiegel v. 02.02.2013, S. 6
Martin SCHULZ: Die EU ist auf dem Weg in eine Depression, in: FAZ v. 18.01.2013, http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/martin-schulz-die-eu-ist-auf-dem-weg-in-eine-depression-12030258.html
»Schäuble: Europäer sollen Präsidenten direkt wählen«, in FAZ. v. 21.12.2012, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/europa-schaeuble-europaeer-sollen-praesidenten-direkt-waehlen-12002586.html (=Schäuble I)
SCHÄUBLE II: s.o. »Euro-Krise«