Ein Gespräch mit Peter Ullrich, geführt von Peter Nowak

Noch vor 25 Jahren regten Israel-Boykott-Parolen an den Wänden der Hamburger Hafenstraße nur einen kleinen Teil der linken Öffentlichkeit auf. Heute vertritt nur noch ein kleiner Teil der antiimperialistischen Linken solche Parolen. Was war der Grund  für diese Verschiebungen im Diskurs um Israel?

Nun ja, Diskussionen um die linken Positionierungen zu Israel gibt es schon lange. Spätestens seit Mitte/Ende der sechziger Jahre die Linke auf Anti-Israel-Kurs ging, gab es immer wieder auch kritische Stimmen. Innerhalb der radikalen Linken aber gab es nie so einen dauerhaften anti-antizionistischen Gegenpol, wie er nun seit etwa 20 Jahren mit den Antideutschen – zugegeben ein etwas grobes Schlagwort für eine im Rückblick auch nicht homogene Strömung – etabliert hat. Ein großer Teil der Diskussion um Antisemitismus, Israel, Shoa usw. stellte sich als eine ›Antideutschendiskussion‹ dar. Der Eindruck, die Diskussion und die dadurch ausgelösten Reflexionsprozesse würden wir den Antideutschen verdanken, ist nicht ganz falsch, aber er unterbelichtet eine Struktur, von der das Auftauchen der Antideutschen und der mit ihnen assoziierten Diskurse nur ein Ausdruck ist.
Zunächst einmal muss man festhalten, dass in allen Lagern der politischen Linken (ich unterscheide Sozialstaatslinke, Traditionskommunismus, radikale Linke und das Feld der Neuen Sozialen Bewegungen; vgl. Ullrich 2008) Akteure gibt, die sich Solidarität mit Palästina auf die Fahnen geschrieben haben und solche, die israelsolidarisch sind. Nur im traditionskommunistischen Bereich spielen die Israelfreund_innen fast gar keine Rolle. In allen anderen sind die Konfliktpole in Arbeitskreisen, Vereinen, institutionalisierten Austauschprogrammen usw. organisiert. Damit ist der Konflikt um Nahost schon da.
Vor allem aber hat die Präsenz dieses Themas als Konflikt natürlich etwas mit der deutschen politischen Kultur zu tun. Es gibt eine Dauerspannung zwischen zwei relevanten diskursiven Kontexten, die ich ›diskursive Gelegenheitsstrukturen‹ nenne. Der eine Kontext ist die politisch-ideologische Verortung in der Linken. Dieser impliziert eine propalästinensische Orientierung, die mit dem realen Machtungleichgewicht zwischen Israel und den Palästinenser_innen und der Besatzung ebenso viel zu tun hat wie mit diversen linken Traditionsbeständen. Denn eine gewisse antizionistische Voreingenommenheit ist schon entstanden, bevor der Nahostkonflikt als solcher in den Blick der Weltöffentlichkeit geriet. Diese Vorprägung, verbunden mit menschenrechtlichen, völkerrechtlichen, antiimperialistischen, antikolonialistischen und weiteren linken Bezugsrahmen, führt zur dominanten Palästinasolidarität.

Und der deutsche Kontext wirkt in eine andere Richtung?

Im deutschen politischen Kontext ist der dominante Anschlussdiskurs die Erinnerung an Nationalsozialismus und Shoah, was die gesamte ideologische und institutionelle Struktur der Bundesrepublik auf komplexe Weise mit geprägt hat. Dieser Diskurs legt andere Deutungsmuster und Sensibilitäten nahe, also beispielsweise hinsichtlich Antisemitismus, deutscher Verantwortung usw.
Im realen Nahostkonflikt gibt es dauerhaft sehr komplexe und ambivalente Situationen. In der Einschätzung des Konflikts legen diese beiden diskursiven Gelegenheitsstrukturen oder Vorprägungen (links sein und in Deutschland zu sein) andere Urteile nahe und diese lassen sich oft nicht in ein kohärentes Bild bringen. Folgende Dilemma-Situationen sind dafür typisch: Was, wenn die jüdischen Opfer, für die man Empathie empfindet zu Tätern werden? Was, wenn die palästinensischen Kämpfer_innen gegen Besatzung ihre Ohnmachtssituation mit Verschwörungstheorie oder Judenhass kompensieren? Es ist am Ende diese Dauerspannung zwischen den moralischen Imperativen zweier unterschiedlicher für deutsche Linke relevanter diskursiver Kontexte, die die Debatte in der Bundesrepublik bestimmt.

Wie wird mit dieser Widersprüchlichkeit umgegangen?

Folgen dieser problematischen Ausgangssituation sind divers. Zunächst gibt es sehr extreme Positionierungen, sowohl Israelsolidarität als auch Palästinasolidarität in einer Radikalität, Militanz und einem Manichäismus, also einem Gut-Böse-Denken, dessen Ursachen darin zu suchen sind, dass die widersprüchliche (und somit schwer zu ertragende) Situation einseitig aufgelöst wird.
Andererseits führt die Dauerspannung und die damit zusammenhängende Unsicherheit auch zu viel Metadiskussionen, die eine Selbstvergewisserungsfunktion für die tangierten Milieus erfüllt. Ein Großteil des (linken) deutschen Diskurses ist also nicht eine Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt, sondern eine über den Umgang mit dem Nahostkonflikt.
Aber selbst die Extreme, die Überidentifizierten, tragen am Ende zur Komplexität der deutschen Debatte bei, in der nach meinem Eindruck antisemitische und radikal-antizionistische Positionen marginaler werden. Das stete Aufeinanderprallen unterschiedlichster Deutungen, die gedankliche Vorwegnahme von sicher zu erwartendem Widerspruch auf jede Positionierung zur Thematik – all das führt zumindest dazu, dass man sich argumentativ ›wappnen‹ muss, selbst komplex argumentieren muss und nicht jede Plattheit einfach so äußern kann. Das führt bei manchen zu Vorsicht, auch Übervorsichtigkeit, aber auch zur Stärkung der Komplexität eigener Argumente und somit zu Lernprozessen.

Wie ist deiner Einschätzung nach heute die Situation?

Schrittweise ist nach einer eindeutig anti-israelischen Phase (ab Mitte der 60er Jahre) und einer Phase mit (auch) einer militanten Israelsolidarität (ab Anfang der 90er Jahre) wiederum eine Mäßigung bei vielen erreicht worden. In den vergangenen Jahren haben sich viele Leute eher vermittelnden ›Zwischenpositionen‹ zugewandt, sind bspw. weder israelfeindlich oder antisemitisch, noch Apologeten der Besatzungspolitik. Bei einigen war dies Resultat eines persönlichen Lernprozesses innerhalb der linken Auseinandersetzung. Der Modus dieses persönlichen Lernens war der beschriebene: sich auf einen komplexen, herausfordernden Diskurs beziehen und in ihm bestehen zu müssen, erfordert Zugeständnisse. Diese zunächst oft vielleicht nur strategischen Zugeständnisse erweitern aber den eigenen Reflexionsraum und öffnen Möglichkeiten der Überwindung eigener Blockierungen. Der Großteil des Wandels vollzog sich aber sicher nicht bei einzelnen Aktivist_innen, sondern im Wechsel der (politischen) Generationen. Gerade die häufige physisch und psychisch harte Konfrontation der Lager um die Jahrtausendwende führte dazu, dass viele angewidert waren von Bekenntniszwang, Fahnenschwenken und Identitätshuberei. Nachwachsende Generationen konnten zudem aus beiden extremen Identifikationsmustern (100% pro-Israel & pro-Palästina) wählen und sich v.a. einen eigenen Reim drauf machen. Diese Situation war für radikale Linke erstmals gegeben, als sich mit den israelsolidarischen und anti-antisemitischen Antideutschen eine Alternative etabliert hatte.
Man darf aber deswegen nicht glauben, dass die heutigen ›bekennenden‹ Antideutschen die einzigen waren, die vom weltbildhaften Antizionismus der 70er und 80er Jahre aufgebracht waren (vgl. Nowak 2012).

In fast allen Nachbarländern ist der Diskurs zum Nahen Osten noch ähnlich wie in Deutschland Ende der 80er Jahre. Du hast die Debatten im Großbritannien untersucht. Wo siehst Du die größten Unterschiede?

Während man hierzulande streitet, mit welcher Seite im Konflikt man sich solidarisiert, lautet die Frage in Großbritannien nur, wie sehr man sich auf die Seite der Palästinenser_innen stellt und wie hart man Israel kritisiert, bzw. welche Mittel des Kampfes man für gerechtfertigt hält, also beispielsweise, ob man auch Anschläge in Israel akzeptiert bzw. sich dazu zumindest einer offenen Positionierung enthält. Ein weiterer Strang der Auseinandersetzung dreht sich um die angestrebte Lösung (Zwei-Staaten-Lösung oder binationaler Staat). Insgesamt dominiert dort eine israelkritische bis israelfeindliche Position, in der an vielen Stellen Anschlüsse an den Antisemitismus bestehen. Das zeigt sich in der Obsession mit Palästina, inbesondere bei der »Socialist Workers Party«, der größten linken Organisation außerhalb von Labour, in einer radikalen Bildsprache, die auch mal aus dem Reservoir des Antisemitismus schöpft, in einseitigsten Betrachtungsweisen, im Hofieren von dubiosen Israelhassern und damit Kooperation mit reaktionären und z.T. offen antisemitischen Kräften. Das stellt sich ähnlich wie in Teilen des traditionellen antiimperialistischen Spektrums der Bundesrepublik dar, nur dort ungefiltert und ungebrochen durch die erinnerungspolitischen Deutungsmuster, die bei uns dazwischen kommen. Das heißt, dass die Positionierungen vergleichbarer antiimperialistischer Organisationen in Großbritannien noch radikaler ausfallen als Positionierungen ihrer deutschen Schwersterorganisationen. Mir ist beispielsweise aufgefallen, dass in Interviews, die ich in GB geführt habe, kaum auf israelische Interessen und Sorgen eingegangen wurde – ganz anders als in den deutschen Interviews.
Trotzdem sollte man nicht denken, dass keine Diskussionen stattfinden. Es gibt linksliberale und akademische Kritiker_innen des Antizionismus, die beispielsweise gegen die immer wieder auflebenden Versuche eines akademischen Boykotts gegen Israel ankämpfen. Und es gibt kleine trotzkistische oder leninistische Gruppen, wie die »Alliance for Workers Liberty« und die »Communist Party of Great Britain«, die bei einer  ablehnenden Haltung gegenüber der Besatzungspolitik doch nicht alle Gegner_innen Israels hofieren und bspw. Koalitionen mit Islamist_innen  ablehnen und sich für eine Zwei-Staaten-Koexistenz stark machen. Auch im libertären, anarchistischen Milieu gibt es viele, die einfach offener und nicht so fanatisch sind wie die Hardcore-Antizionisten_innen.

Was sind die Ursachen für diese Gestalt der Debatte?

Auch hier sind die Ursachen z.T. im nationalen Kontext zu finden. Die britische Linke formierte sich in einem und gegen ein weltweites Imperium. Anti-Imperialismus und Antikolonialismus waren mehr als in Deutschland Konstitutionsmoment linken Engagements. Das erwies sich als Möglichkeit wie als Begrenzung des Denkens. Gerade nach dem 11. September 2001, als hier die Antideutschen einen diskursiven Aufwind hatten und große Teile sich unter dem Motto »Fanta statt Fatwa« endgültig in Richtung einer bürgerlichen, anti-muslimischen Israelsolidaritätsbewegung entwickelten, entstand in der britischen Linken ein Bewusstsein für die Folgen, die diese Ereignisse für Muslime haben würden. Ganz schnell war der Kampf gegen antimuslimischen Rassismus und Krieg zentrales Thema. Britische Linke kämen, anders als manche deutsche, nicht auf die Idee, die Palästinenser_innen als »Horden« zu bezeichnen oder sich über ihre Kleidungsstücke lustig zu machen (Stichwort »Pali-Lappen«, abwertend für die Kuffijah oder das »Pali-Tuch«). Auch hier waren aber die Folgen ambivalent. Die Kehrseite von Sensibilität und Solidarität waren Aufweichung des Säkularismus und Zurückstellung anderer emanzipatorischer Forderungen (bspw. Kampf gegen Homophobie), um mögliche muslimische Wähler_innen nicht zu verschrecken, und der schon erwähnte Flirt mit reaktionären Elementen, wenn diese nur auch gegen die USA und Israel waren.
Man sieht daran, dass beide Kontexte besondere Sensibilitäten und somit andersartige ideologische Komplexität hervorbringen (in der Bundesrepublik gegenüber jüdischen Interessen und Antisemitismus, in Großbritannien gegenüber Muslimen und antimuslimischem Rassismus), dies aber mit der rassistischen Abwertung der wahrgenommenen ›anderen‹ Seite einhergehen kann. Die eigene Stärke ist auch die eigene Schwäche.

Welche Rolle hat die israelsolidarische Linke bei der Diskursverschiebung gespielt und könnte man nicht trotz aller Kritik, die an ihr geübt wurde, bescheinigen, dass sie auch Verdienste hatte und Nazivergleiche in Bezug auf Israel heute bis weit ins antiimperialistische Spektrum unterbleiben?

So kräftezehrend und oft schmerzhaft der antideutsche Furor auch oft war und ist, so nötig war er wohl auch. Ohne eine solche Zuspitzung hätte es vielleicht nicht eine so nachhaltige Auflockerung des weltbildhaften Antizionismus in der deutschen Linken gegeben. Doch neben den m.E. erfreulichen ›Zwischenpositionen‹ gibt es ja auch weiterhin die extremen Ränder. Und da gibt es eine m.E. unzulässige, aber sehr wirksame und stabile diskursive Themenkoalition. Auf der einen Seite stehen die Israelfreund_innen und Antisemitismuskritiker_innen, die auch und gerade den Antizionismus und ggf. Antisemitismus in der Linken thematisieren, aber palästinensische Interessen mit Füßen treten. Auf der anderen Seite stehen die Palästinafreund_innen, die häufig die vorgebrachten Vorwürfe in Bausch und Bogen verurteilen und nicht selten Antisemitismus bagatellisieren und simplifizieren. Diese Lager können nicht miteinander kommunizieren, wehren einander reflexhaft ab und reduzieren einander, indem sie sich nicht ernstnehmen, auf ihre irrationalen Momente.
Man müsste aber den intentionalen Kern ihrer Positionierungen freilegen, um sie wirklich zu würdigen. Die Motive der meisten pro-palästinensischen Aktivist_innen würde ich klar als richtig, wichtig und legitim einordnen. Besatzung und Entrechtung darf nicht hingenommen werden. Aber man muss auch sehen, dass oft Äußerungsformen und Argumentationsmuster zur Anwendung kommen, die kritikwürdig bis untragbar sind.

Wo siehst Du die Grenzen des Legitimen?

Der Lackmustest ist für mich, ob es den Aktivist_innen nur um die Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit geht, die ihren Ausdruck oft in den aufbewahrten Schlüsseln palästinensischer Flüchtlinge findet, welche die Sehnsucht nach ihrem (i.d.R. nicht mehr existenten) Heim im heutigen Israel symbolisieren, oder, ob genauso die Lage und berechtigten Interessen aller heute in der Region lebenden Menschen zum Ausgangspunkt des Engagements gemacht wird. Ein emanzipatorisches Engagement zielt auf Gerechtigkeit, Entschädigung, Entschuldigung einerseits und Versöhnung sowie Ausgleich andererseits (zu konkreten Kriterien für eine universalistische, nicht antisemitische Kritik vgl. Ullrich 2011: 36). Und genau an dieser Stelle trifft die u.a. von Antideutschen formulierte Kritik, die ja einer der wichtigen Ausgangspunkte ihrer Entstehung und v.a. Festigung als politische Strömung ist, ins Schwarze: bei unreflektiertem Bejahen des Befreiungsnationalismus und seiner doch meist ambivalenten und oft auch reaktionären Akteure oder der ›arabischen Kultur‹ und eben auch in dem Beharren auf nur historisch verstandener Gerechtigkeit, die auf dem Altar der Identifikation mit den Palästinenser_innen die Interessen und Sorgen der israelischen Bevölkerung opfert. Beide Grundmotive (die Kritik an der Besatzung und die an der falschen Besatzungskritik) sind ernstzunehmen. Ohne Anerkennung dieser wird der Streit wohl noch lange Andauern. Und er ist auch nicht administrativ zu lösen, wie dies beispielsweise die Führung der Fraktion der LINKEN im Bundestag versuchte, als sie Streit um Antisemitismus in der Linkspartei im Jahr 2011 einzelne Aktionen oder Forderungen (wie die nach einem binationalen Staat für Israelis und Palästinenser_innen) per se in den Ruch des Antisemitismus brachte, obwohl diese sich einer einfachen Einordnung widersetzen, sondern sehr unterschiedliches bedeuten können.
Die Antideutschen haben also bestimmte Positionen in der Linken gestärkt oder mit hervorgebracht. Dazu gehört die Kritik am Befreiungsnationalismus und an der Nation generell, die Kritik des Kulturrelativismus, eine Betonung des Individualismus und Hedonismus, eine Betonung des zentrumslosen Charakters des Kapitalismus, die ideologiekritische Analyse von Antisemitismus. Gleichzeitig haben sie ein Strukturdilemma. Ihre Kritik richtete sich von Anfang an fast genauso gegen die Linke wie gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Dieser Duktus wurde zum Habitus, ja zum Korsett. Die Folgen sind nur konsequent. Ein Teil verabschiedete sich aus der Linken und landete im konservativen bis rechten Lager. Bei einem großen Rest ist die abstrakte Begeisterung für den Kommunismus mit einer tiefsitzenden Feindschaft gegenüber allen Versuchen und Wegen, die dorthin führen könnten, verbunden – aufgrund eines moralischen Maximalismus und Rigorismus, der aus den Ambivalenzen transformatorischer Politik den fatalistischen Schluss zieht, dass Agieren sich auf Negation, Destruktion, Kritik und Kommentar beschränken müsse. Wie bei Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung wird die Kritik als Flaschenpost ohne konkrete Adressat_innen verstanden, nur in einer historisch komplett anderen Situation und einem nicht vergleichbarem Erfahrungshintergrund. Damit schließen die Antideutschen auch an bestimmte esoterische und elitäre theoretische Traditionen an, die im westdeutschen Linksradikalismus immer eine große Rolle spielten. Diese wurzeln in der gesellschaftlichen Isolierung der Linken und diese wiederum historisch in der Zerschlagung der Arbeiter_innenbewegung im Nationalsozialismus und im Antikommunismus der alten BRD.

Du hast ja bereits früh in deinen Schriften linken Antisemitismus, aber auch eine bestimmte Lesart der  Antisemitismuskritik moniert. Was sind deine Hauptkritikpunkte?

Es gibt eine interessante Parallele zwischen der militanten Israelsolidarität und der 150-%-Palästinasolidarität. Beide sind Resultat eines Radikalisierungsprozesses der Identifikation mit einer Opfergruppe. Am Ende der Radikalisierung wurde jeweils ein Grad der Identifikation erreicht, den ich Überidentifikation nenne, weil hier die Grenzen zwischen einem selbst und dem Objekt der Identifikation komplett verschwimmen. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist häufig die rassistische Abwehr der Gegner der eigenen Zielgruppe. Was auf der Strecke bleibt, ist eine wirklich universalistische Positionierung. Im Argumentieren für das gute Recht des Handelns der einen oder anderen Seite (wer hat angefangen, den ersten Stein geworfen usw.) ist oft zu wenig Platz zur Analyse der generellen Konfliktmechanismen. Zu diesen allgemeinen Folgen des langen Krieges gehört bspw. die Verrohung und die Zuspitzung und Ideologisierung der Feindbilder. Diese lassen die Frage nach dem Anfang für einen kühlen Betrachter immer mehr in den Hintergrund treten. Ihre Analyse erfordert mehr als den Nachweis von Antisemitismus als ideologisches, und am besten noch aus Deutschland importiertes Motiv (die antideutsche Variante) oder von israelischer Urheberschaft an allen Missständen (die antizionistische Variante). Doch stattdessen solidarisiert man sich häufig sogar mit den jeweiligen Rechten der ›eigenen‹ Fraktion.
Zur Kritik an den Obsessionen der Palästinasolidarität hab ich mich oben schon am britischen Beispiel geäußert. Da gibt es jedenfalls auch Leute, die kämpfen nicht für eine bessere Welt, sondern für die Suche nach weiteren Beweisen für die israelische Malaise, was auch leider nicht so schwer ist.
Bei den militanten Israelfreund_innen stößt mir besonders dieses ideologische Verfangensein in der Situation von 1933-1945 auf (so ähnlich hat es, glaube ich, Robert Kurz mal formuliert), der Zwang alle Ereignisse auf die antideutschen ideologischen Fixpunkte (meist schlicht: Antisemitismus) zu reduzieren oder diese Deutungsmuster unzulässig zu generalisieren, was dann zu so absonderlichen Konstrukten führt wie »struktureller Antisemitismus« (nicht gemeint: strukturelle Anschlussfähigkeit), also Antisemitismus, der sich nicht gegen Jüdinnen und Juden richtet. Man lebt dann in einer Welt, in der nur von deutschem Geist beseelte Antisemit_innen ihr Unwesen treiben und alle anderen Aspekte linker Kritik werden als bestenfalls sechstrangig abgetan oder schlicht ignoriert. Stabilisiert wird dieses Weltbild durch eine Mystifikation Israels. Die Vision von der »einzigen Demokratie im Nahen Osten« wird zu einem affirmierten Zerrbild von Israel, welches bestenfalls etwas mit dem Nachtleben von Tel Aviv zu tun hat. Nicht in dieses Bild passen einerseits die Brutalität und auf dauerhafte Erniedrigung der Palästinenser_innen ausgerichtete Kontinuität und Vertiefung der Besatzung und andererseits die extrem autoritäre Entwicklung in Israel selbst (von der Geschlechtersegregation, dem extrem chauvinistischen Großmachtdiskurs und offiziellen Rassismus bis hin zum in aller Eile voranschreitenden Sozial- und Demokratieabbau).
Damit schlägt die Kritik doppelt in ihr Gegenteil um. Repressivste Verhältnisse werden, wie geschildert, banalisiert. Und die berechtigte Kritik, die Israelfreunde an den falschen Gründen und falschen Argumenten der Israelhasser geübt haben, sowie der harte Streit darum, führt auch dazu, dass Israel nun häufig mit Samthandschuhen angefasst wird, wo schonungslose Kritik – eingedenk der Tatsache, dass die israelfeindliche Hegemonie gebrochen ist – angebracht wäre. Doch diese Situation ist vielleicht besser als die unreflektierte und einseitige Hegemonie der Israelfeinde.

Aber eine so problematische Debatte gibt es ja nicht nur in der Linken...

Man muss sich, wenn man die deutsche linke Debatte verstehen will, bewusst machen, dass die Muster dieser Identifikation mit den Konfliktparteien in der Bundesrepublik auch außerhalb der Linken vorhanden sind. Sie schöpfen u.a. aus den Quellen des Antisemitismus und insbesondere des sekundären Antisemitismus (des Antisemitismus wegen Auschwitz), des Philosemitismus (die international anerkannte Art, die Schatten der deutschen Vergangenheit von sich abzuwerfen) und der Abwehr dieses Philosemitismus. Der regierungsamtliche Philosemitismus und die Tatsache, dass er auf äußert tönernen Füßen steht, weil er nur eine Phrasenhafte Kaschierung einer widersprüchlichen Situation darstellt, tragen mit dazu bei, dass die Antisemitismusdiskussion in der Bundesrepublik einer kriminalistischen Logik folgt (vgl. Erb, Kohlstruck o.J.), deren Ziel es ist, Menschen zu überführen, zu entlarven und dann aus dem Diskurs auszuschließen. Denn Ausschluss und Stigmatisierung fällt einem leichter, als sich dem Thema zu stellen und sich selbst zu hinterfragen. Bei Antisemit_innen ist Ausschluss auch das richtige Rezept. Aber wie geht man mit dem riesigen Graubereich um? Das ist die Herausforderung.

Erkläre doch bitte mal dein Konzept der »Grauzone«!

Ich wende mich der Problematik aus einer wissenssoziologischen und diskursanalytischen Perspektive zu, also aus einer wissenschaftlichen Sicht, die einerseits die handelnden Menschen mit ihren Einstellungen, ihrem Wissen und ihren Interaktionen untersucht, wie auch die überindividuellen, gesellschaftlichen Wissensstrukturen.
Und da wird deutlich, dass die verschiedenen Ebenen weit auseinanderfallen können. Ich unterscheide bei der Analyse von politischen Bewegungen konkret drei Ebenen: eine strategische Ebene (die Intentionen und politischen Ziele von Aktivist_innen und Gruppen), eine expressive Ebene (was drückt die Wahl bestimmter Argumentationsmuster, Bilder oder Handlungsformen aus, was sagt sie über die, teils unbewussten, Prägungen von Akteuren in ihrem politischen Kontext, also über ihre sozialen Hintergründe) und eine Rezeptionsebene (wie werden die Bewegung und ihre Inhalte, bspw. Flugblätter, gedeutet oder diskursiv anschlussfähig). Die Frage nach dem antisemitischen Charakter bspw. eines Flugblattes oder einer Karikatur kann u.U. auf allen drei Ebenen unterschiedlich beantwortet werden. So kann eine aus subjektiver Sicht ganz klar nicht antisemitisch gemeinte Aussage durchaus (unbewusst) auf  antisemitische Semantiken (die Teil der politischen Kultur und der Medienöffentlichkeit sind) zurückgreifen oder von anderen antisemitisch verstanden werden.

Kann man daraus etwas für die Gestaltung der linken Debatte lernen?

Ja! Weil es so komplex ist, braucht die Linke Selbstreflexion anstelle schneller Ausschlüsse, Verurteilungen und dauerhafter Anklagen, in denen Vergleiche mit dem Nationalsozialismus heute manchmal fast so schnell zur Hand sind, wie in den 70er Jahren in der antizionistischen Israelsicht, nur diesmal gegen die Palästinenser_innen, Muslime oder ihre linken Unterstützer_innen gerichtet. Es müssten stattdessen Orte oder Reflexionsräume geschaffen werden, wo man in solidarischer Atmosphäre darüber nachdenken kann, wie man beispielsweise an antisemitischen ideologischen Strukturen und Praxen teil hat, so wie dies in der Reflexion über Rassismus selbstverständlich ist. Man kann auch als Antirassist_in nicht einfach von sich behaupten, mit der rassistischen Strukturierung unserer Gesellschaft nichts zu tun zu haben, als wäre man im luftleeren Raum aufgewachsen. Gleiches gilt auch für den Antisemitismus. Diese Deutung erfordert reflexive Praxen – und Ausschluss nur dann, wenn klar eine Grenze überschritten ist. Doch die meiste Zeit bewegt man sich eher in einer Grauzone, in der es verschiedene Problemaspekte gibt, über die wir ja schon gesprochen haben. Nur ein Teil davon ist Antisemitismus. Und für diesen braucht man einen Begriff (als verschwörungstheoretisches, judenfeindliches Weltbild). Nicht jede falsche oder übertriebene Charakterisierung Israels lässt sich da einfach subsummieren.
Zudem wünsche ich mir eine Beschäftigung mit den anderen Problemstellen der Nahostsolidarität jedweder Couleur (Rassismus, Bellizismus, Kulturalismus, Partikularismus, die Rolle der Identifikations- und Radikalisierungsprozesse). Der Auseinandersetzung mit Antisemitismus kommt dabei weiter eine zentrale Stellung zu, solange beispielsweise Jüdinnen und Juden für die israelische Politik in Haftung genommen werden. Doch mit diesem Begriff ist beileibe nicht das ganz Feld verstanden.
Zudem ist die Bedeutung des nationalen, also deutschen Bezugsrahmens unserer Debatte anders als bisher zu würdigen. Wir müssen zum einen anerkennen, dass wir hier sozialisierte und geprägte Menschen sind, die damit bestimmte ›Erbschaften‹ aufgenommen haben. Alle Seiten müssen sich dessen bewusst sein, wie ihre Nahostpolitik eben nicht nur Ausdruck von Analyse oder Theorie ist, sondern auch Ausdruck vieler, teils unbewusster Prägungen, die als überindividuelle Strukturen von den einzelnen immer schon vorgefunden werden. Das für sich selbst zu reflektieren ist leider nicht selbstverständlich. Damit wird aber viel so genannte Theorieproduktion dekonstruierbar, bzw. in einen historisch-konkreten Bedingungszusammenhang gestellt. Und damit ist auch ein Ansatzpunkt für kritische Selbstreflexion vorhanden. Zum zweiten muss vielen noch mehr bewusst werden, dass wir auch zum großen Teil hier politisch handeln (und nicht im realen Nahostkonflikt). Also müssen wir uns in der politischen Ausrichtung auch auf den deutschen politischen Kontext beziehen, weil wir zuerst hier wirken und wahrgenommen werden. Die Überidentifizierten beider Pole erwecken manchmal den Eindruck, sie führten ausschließlich die Kämpfe anderer.

Welche Rolle könnte in Zukunft eine  Kritik am linken Antisemitismus spielen?

Wie es sein wird, weiß ich natürlich nicht; dass der Streit weitergehen wird, ist aber plausibel. Und es ist auch gut, dass der Streit weitergeht, so lange es in der Linken Menschen gibt, die davon besessen sind, alles Unheil in der Welt Israel oder den Jüdinnen und Juden anzulasten (wobei es in der Linken heute, anders als im bspw. stalinistischen antizionistischen Antisemitismus, eigentlich nur ersteres gibt). Denn zum einen ist dieses Denken zumindest anschlussfähig an den Antisemitismus und knüpft teilweise direkt an ihn an, gibt dem Antisemitismus damit eine scheinbar rationale Begründung. Zum zweiten führt diese extreme Fokussierung auf Israel zu einem Partikularismus, hinter dem universelle emanzipatorische Ziele verschwinden. Wenn die Befreiung der Palästinenser_innen von der Besatzung zum alleinigen Zweck und damit Israel zum alleinigen Übel wird, gehen wichtige allgemeine theoretische und normative Bezugspunkte, nämlich die Kritik an Kapital, Staat, Nation, Religion, Patriarchat verloren. Und das gleiche gilt, wenn die Antisemitismuskritik zum beliebig einsetzbaren Herrschaftsinstrument verkommt. Deswegen müssen wir uns auch noch viel mehr mit dem Umschlagen dieser Kritik in rassistisches Ressentiment beschäftigen.

Literaturhinweise:
Rainer Erb, Michael Kohlstruck o.J., Eine Anmerkung zur aktuellen öffentlichen Diskussion um Antisemitismus, in: http://zfa.kgw.tuberlin.de/lehrmaterial/dateien/AS_Debatte_30_05_2006.pdf; abgerufen am 25.01.2012.
Peter Nowak 2012, Kurze Geschichte der Antisemitismus-Debatte in der deutschen Linken, Berlin.
Peter Ullrich 2008, Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin.
Download: http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Texte_48.pdf
Peter Ullrich 2011, Antisemitismus, Shoa und deutsche Verantwortung. Die Nachwirkungen des Nationalsozialismus im deutschen Nahostdiskurs, in: Kathrin Vogler, Martin Forberg, Peter Ullrich, Königsweg der Befreiung oder Sackgasse der Geschichte? BDS | Boykott, Desinvestition und Sanktionen. Annäherungen an eine aktuelle Debatte, Berlin 2011, S. 36.

Anm. der Redaktion: Das Interview ist ein Auszug der im Juli 2012 erscheinenden Publikation von Peter Nowak, Kurze Geschichte der Antisemitismus-Debatte in der deutschen Linken, Edition Assemblage, Berlin 2012 (Reihe Antifaschistische Politik (RAP), Bd. 4, Reflexionen, Bd. 1).

Dank geht an Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung des Vorabdrucks an dieser Stelle.