von Ulrich Schödlbauer

Wer noch immer glaubt, das deutsche Parteiensystem sei erst durch die anstehende Gründung der Wagenknecht-Partei sowie der Werteunion in Bewegung geraten, der sollte in diesen Tagen an die Merkel-Parole zurückdenken, der die AfD ihren Namen verdankt: Es gibt keine Alternative oder, wie es im Thatcher-Original hieß: There is no alternative.

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Alternativlosigkeit als Programm: Das setzte pünktlich zur Banken- und Eurokrise von 2008ff. ein Novum in der bundesdeutschen Parteiengeschichte. Bis dahin galt der argumentativ zu begründende Dissens von Regierung und Opposition als Kernstück der parlamentarischen Demokratie und damit der ›westlichen‹ Demokratie schlechthin. Dass der Dammbruch in weiten Kreisen ohne Widerhall blieb (es sei denn, man nimmt den frenetischen Beifall der Claqueure dafür), war, neben dem Shock & Awe-Geschehen an den Börsen, just der Thatcher-Reminiszenz geschuldet. Die Regierung legte ein neoliberales Programm auf und bediente sich, so schien es damals, des für solche Fälle bereitliegenden Vokabulars. Man durfte das gut oder schlecht finden, aber – so tickte die Welt.

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Dass der neoliberale Schulterschluss mit der führenden Wirtschaftsmacht USA selbst auf der Linken nur spärlich kritisiert wurde (Peter Brandt auf Globkult), lag, neben der martialischen Rhetorik der Kanzlerin (eine Frage von Krieg oder Frieden), wohl vor allem an der tiefen Befriedigung der damaligen Deutschen darüber, dass die erste Frau im Kanzleramt sich in der Krise als starke Frau à la Thatcher zu erkennen gab. Plötzlich besaß Deutschland ein weibliches Führungsmodell, um das es sich von anderen Ländern beneidet fühlte. Wer an den Kult um Merkels audienzhafte Begegnung mit dem neugewählten griechischen Ministerpräsidenten Tsipras zurückdenkt, weiß, was es damit auf sich hatte.

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Damals hat man etwas übersehen: Merkels angebliche Stärke bestand, anders als Thatchers, darin, dass sie sich der Wallstreet-Politik des amerikanischen Präsidenten Obama anschmiegte, der, dem Nobelpreiskommittee sei Dank, dieweil in Europa als Friedensfürst gefeiert wurde. Ihre wahre Führungsstärke allerdings erwies sich darin, dass sie das deutsche Parteiensystem aufs Glatteis der Alternativlosigkeit führte und jahrelang lächelnd zusehen konnte, wie die heute von den Alternativen ›Altparteien‹ genannten Matadore des altbundesrepublikanischen Parteiensystems nacheinander ins Schlingern gerieten. Ihr garantierte das eine lange Kanzlerschaft und dem Parteiensystem einen gepflegten Ruin.

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Besonders hart traf es die CDU, die zur konturlosen Abnickpartei absank, sowie die SPD, die dankbar zugriff, als die Kanzlerin ihr eine Nische zum Überleben zuwies. Jede prätendierte Alternativlosigkeit bedarf zur Durchsetzung eines Feindes, genauer, eines Ausschlusskandidaten. Die Rolle übernahm die ursprüngliche Euro-Partei AfD, die schon durch ihren Namen andeutete, welchem Reflex sie ihren Ursprung verdankte. Die Aufgabe der programmatisch bedeutungslos gewordenen SPD sollte neben der simplen Mehrheitsbeschaffung in nichts anderem als dem ›Kampf gegen Rechts‹ bestehen, der sich gerade auf Deutschlands Straßen ein historisches Denkmal setzt. Ein Untergangskonzept, wie nicht nur die Kanzlerin feststellen durfte, der es die Arbeit abnahm, rechts von der CDU keine demokratische Kraft zuzulassen.

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Merkel hat die Krise des deutschen Parteiensystems ausgelöst. Sie hat das grundsätzliche Problem nicht gelöst, sondern sich für eine klammheimliche Transformation nutzbar gemacht. Letztere, die Umwandlung des vereinten Deutschland in einen monolithischen Haltungsstaat, dessen Erscheinungsbild immer mehr Menschen an ihr Herkunftsland DDR erinnert, kann nicht auf Dauer mit der verfassungsrechtlich garantierten Volkssouveränität zusammengehen: Die Verstaatlichung des Souveräns lässt die demokratischen Routinen in den Augen einer wachsenden Zahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren links und rechts der ›Brandmauer‹ von Tag zu Tag bedeutungsloser erscheinen. Das setzt zwar, hauptsächlich ›gegen rechts‹, den Verfassungsschutz in Bewegung, aber zur Lösung des Knotens taugt es bekanntermaßen nicht.

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Deutschlands Krise ist keine Staatskrise, sie ist eine Krise des Parteiensystems. Anders formuliert: Sie ist nicht konstitutioneller, sondern institutioneller Natur. Ihr Zentrum liegt nicht im verfassten Staat, sondern in der sich in informellen Bahnen bewegenden Gesellschaft. Die Institutionen des Staates sind bloß insoweit tangiert, als ihr Personal dem Einfluss der Gesellschaft unterliegt. Der Unterschied mag in manchen Ohren haarspalterisch klingen, aber er weist den Weg – sowohl im Hinblick auf die Krise selbst als auch zu ihrer Lösung. Die Konzentration der politischen Kräfte im und auf den grün-woken Zeitgeist lässt das tradierte politprogrammatische Spektrum inzwischen weitgehend bedeutungslos erscheinen. Als Indikator dafür möge die reichlich nutzlos gewordene FDP dienen, deren Schlüsselrolle im alten System legendär – und vielen Wählern ein Ärgernis – war. Das Parteienspektrum der alten Bundesrepublik und die Gesellschaft des neuen Staates passen nicht zueinander. Kluge Köpfe konnten das schon in den neunziger Jahren erkennen. Wer in diesen Tagen hoffen mag, darf es so ausdrücken: Was sich hierzulande unter Spektakeln entwickelt, ist ein an das US-Modell angelehntes Zweiparteiensystem.

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Das ist nicht verwunderlich, wenn man auf die plattformbasierte Öffentlichkeit blickt, die ihre Themen und Aufreger bis in einzelne Formulierungen hinein aus den amerikanischen Netzen bezieht (und via X etc. in sie einspeist). Gemessen an der Fülle und Intensität der Konflikte, die gegenwärtig in den angelsächsischen Ländern ausgetragen werden, nimmt sich die deutsche Öffentlichkeit weitgehend unbedeutend aus. Hier werden Gesten nachgeahmt und Parolen von blassen Protagonisten bis zur Sinnlosigkeit weitergetragen, die dort zweifellos ein fundamentum in re besitzen, gleichgültig, was man von ihnen halten mag. Je tiefer der kulturelle Graben zwischen den USA und Deutschland sich ausnimmt, desto oberflächlicher und kraftloser wirken die Adaptionen. Authentisch erscheinen dagegen die protestierenden Bauern. Ihre Probleme zumindest sind real.

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Wie reell ist es, auf ein Zweiparteiensystem für Deutschland zu hoffen? Es würde voraussetzen, dass die Parteien der Blöcke, die sich bereits heute oder in naher Zukunft gegenüberstehen – ›Altparteien‹ hier, alternative Parteien da – miteinander fusionieren. Gegen solche Fusionen stehen alte Animositäten, etwa zwischen Rot und Grün, und mächtige, über Jahrzehnte gepflegte Tabus wie die zwischen der CDU-Abspaltung Werteunion und der allseits verschrienen AfD. Bei den Grünen kommt die Diskrepanz zwischen ihrer Rolle als Stichwortgeber der institutionalisierten Politik samt journalistischer Gefolgschaft und ihren bescheidenen Erfolgen an den Wahlurnen als Hemmstein hinzu: Mehr Einfluss als in der gegenwärtigen Konstellation kann sich diese Partei nicht erträumen. Erratischer schließlich als die Wagenknecht-Gründung lässt sich eine Partei kaum denken. Das alles schmeckt nicht nach Vereinigung, allenfalls nach taktischer Bündelung der Kräfte, der gegenüber das Votum der Wähler immer mehr einem Raunen ähnelt, weit entfernt von klarer Willensbildung des Souveräns.

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Hört man auf die im Raum schwirrenden Konzepte, dann schälen sich zwei Strategien der Machterhaltung bzw. -gewinnung heraus: das heftig verteidigte Informations- und Meinungsmonopol des politmedialen Komplexes und das neuerdings von der Werteunion in Anspruch genommene Profil einer Volkspartei, die auf den Flügeln viel Raum für Spielarten und Minderheitsauffassungen bietet. Mit leisem Spott in der Stimme ließe sich sagen: Gegenüber stehen sich Ausschluss- und Anschlussfähigkeit der Parteien. Das immerhin nötigt die Wähler zu einer klaren Stellungnahme: Ersichtlich gehört, wer primär auf den Ausschluss Andersdenkender setzt, einer anderen Mentalitätsgruppe an als derjenige, der den Kampf der Meinungen auch innerhalb der favorisierten Partei fortgesetzt sehen möchte.

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Zu den Paradoxien der gegenwärtigen Situation gehört, dass bereits ein Machtkampf in vollem Gange ist, bei dem es um die ganze Macht geht – und zwar auf beiden Seiten –, während die ungleiche Verteilung der Macht eine Sprache spricht, die nicht deutlicher ausfallen könnte. Das liegt vornehmlich daran, dass der heutigen Politik ein starkes utopisches Moment innewohnt, gleichgültig, ob es als Große Transformation, Great Reset oder als Erdpolitik auf der einen, als Rückkehr zur Normalität, als Korrektur einer falsch genommenen Abzweigung, als basisdemokratische oder libertäre Vision auf der anderen Seite daherkommt. Immer sind es zwei Zukünfte, deren mehr oder weniger fanatische Anhänger sich um die Macht im Lande balgen und sich gegenseitig attestieren, die Realitäten aus den Augen verloren zu haben. Was nicht ganz falsch sein dürfte.

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Zu den Urängsten der gegenwärtigen Regierungsparteien zählt die Angst, nicht in der Wahl der Mittel, sondern als Träger der besseren Zukunft zu versagen. Diese Angst kommt nicht von ungefähr, wie Wirtschafts- und Forschungsdaten immer wieder suggerieren. Gleichgültig, ob es um die regelmäßig kassierten Horrorprognosen der Klima-Alarmisten, das nicht tot zu bekommende Argument, Deutschland allein könne kein Klima retten, falls es denn zu retten oder seine Rettung nötig wäre, den tapfer verkündeten Sprung in eine neue Ökonomie bei Abwanderung der bewährten, auf deren Effizienz nach wie vor der (relative) Reichtum der Gesellschaft beruht, um Einwanderungs- und sonstige Themen geht: Stets bleibt die bange Frage, ob es sich beim großen Sprung nach vorn nicht doch um den ominösen Sprung ins Nichts handeln könnte, von dem die Gegenseite so genüsslich daherredet. Der Schalter steckt in den Gehirnen der Regierungsnahen und mischt ihrer Parteienrede jene Larmoyanz bei, die in der Vergangenheit so oft ›linke‹ Menschheitsprojekte begleitete. Für das Parteiensystem bedeutet das: Festhalten um jeden Preis, gleichgültig, was das befragte Volk dazu zu sagen weiß. Das letzte Wort ist das nicht, aufhaltend ist es schon.