von Jens U. Hettmann
Einstweilen können wir alle uns nur fragen, wie es möglich war, dass Merkels Fehlleistungen sowie ihre Unterlassungen nie (außerhalb der AfD) auf Kritik stießen, dass sie mit ihrem Politikstil – in den Medien verharmlost als ›Auf-Sicht-Fahren‹ – durchkam.In Wirklichkeit passten ihre punktuellen Ausbrüche (Grenzöffnung, Thüringen, Atomausstieg), die gravierende politische Wirkung zeitigten, nicht zu dem behaupteten Pragmatismus. Einzig ihrer Intervention in Thüringen kann man noch ein strategisches Konzept unterstellen. Die beiden anderen Entscheidungen entsprangen undurchdachtem Aktionismus. Exemplarisch deutlich wird dies an Merkels dreist-lakonischem Satz ›Jetzt sind sie halt da‹ nach der Grenzöffnung 2015.
Mit einem der Agenda 2010 vergleichbaren ›großen Wurf‹ konnte Merkel nie aufwarten, nie hat sie einen Plan für „ihr Land“ erkennen lassen. Einige ihrer Fehlleistungen und Unterlassungen hat Herbert Ammon in seinem Beitrag treffsicher aufgespießt: den vernachlässigten Ausbau der Infrastruktur, die ausufernde Bürokratie, den abrupten Ausstieg aus der Kernenergie, das Ignorieren des brisanten Rententhemas sowie die Folgen der Grenzöffnung bis hin zum Brexit.
Aus meiner sozialdemokratischen Tradition heraus würde ich diesen Fehlleistungen noch die Enteignung der Sparer und Lebensversicherten hinzufügen, die – im Kontext des internationalen Finanzsystems – der Rettung von Banken und Schuldnerstaaten diente. Deren Folgen sind dreizehn Jahre danach noch immer nicht ausgestanden.
Die Frage steht im Raum, ob und wie die Ampel die hinterlassene Problemlage (Ammon: »a mess‹) bewältigen kann. Besonders ermutigend empfinde ich die nach Abschluss der ›Sondierungen‹ skizzierten Perspektiven nicht. Was bisher bekannt geworden ist, lässt den erforderlichen, in die Tiefe gehenden Ruck jedenfalls nicht erkennen.
Es käme darauf an, mit der – unter grüner Ägide betriebenen – Praxis deutscher Sonderwege zu brechen, obenan die nach wie vor faktisch offenen Grenzen sowie die apodiktische (mit an Popper geschultem Denken unvereinbare) Verweigerung einer Debatte über die Kernenergie. Immerhin liegen hier Spaltpilze für die kommende Ampel-Koalition verborgen. Widersprüche der deutschen Politik – in Fragen der Kernenergie, der Migration sowie der Corona-Pandemie – treten seit langem im Verhältnis zu den EU-Partnerländern hervor: Einzelentscheidungen mit gravierenden Folgen für die EU werden nach ›gusto‹ getroffen, andere Dinge – Impfstoffbeschaffung – wiederum ohne Not auf die EU abgewälzt. Es ist das, was früher gern ›Politik nach Gutsherrenart‹ genannt wurde. Wer die EU wie eine Art ›dumping ground‹ für Entscheidungen behandelt, die, aus welchen Gründen auch immer, mal auf auf nationaler Ebene getroffen werden, mal wieder nicht, darf sich nicht wundern, wenn die EU in der öffentlichen Wahrnehmung immer fragwürdiger dasteht.
Aktuell ko-existieren mehrere Politikfelder, die als Stresstest für die EU gelten können: der Umgang mit Polen und Ungarn, die Migrationsfrage und – wenngleich erst noch latent – die Frage der Kernenergie. Deutschland sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der Klima- und Energiedebatte andere Länder (jüngst auch die Niederlande, Frankreich ohnehin ) keineswegs bereit sind, der deutschen anti-nuklearen Glaubenswahrheit als einzigem (›alternativlosen‹) Weg zu folgen. Diejenigen, die Nuklearenergie – vor allem aus neuen, sicheren und wesentlich ›saubereren‹ Reaktoren – befürworten, verdienen ernst genommen zu werden. Im deutschen Alleingang ist diese Welt, schon gar nicht das Klima, nicht zu retten!
Das gilt – im Hinblick auf den Bevölkerungsdruck aus dem globalen Süden – nicht anders für alle Fragen der Migrationspolitik. Derzeit gleicht sie einem politischen Flickenteppich. Sinnvoll wäre eine Regelung nach kanadischem Vorbild, möglichst EU-weit akzeptiert. Was die Grenzsicherung betrifft, werden derzeit erneut die als Durchgangsstationen fungierenden Länder mit EU-Außengrenzen mit leeren Worten allein gelassen. Wenn sie dann zur Verhinderung eines neuerlichen Massenzustroms drastische Mittel einsetzen, die ›hässliche Bilder‹ (A. Merkel) evozieren, werden sie vor allem in Deutschland von den open-border-Aktivisten und deren Anhang in Medien, Parteien und Kirchen, beschimpft und politisch drangsaliert.
All das gehört zu Merkels Hinterlassenschaft, zu den Folgen ihrer ›reaktiven‹ Planlosigkeit. Olaf Scholz und seine prospektiven Koalitionäre versprechen eine umfassende ›Modernisierung‹ Deutschlands. Wie diese aussehen und wie sie ausgeführt werden soll, bleibt angesichts der bisherigen Ankündigungen – von ›grünen‹ Proklamationen und sozialer Kosmetik (Mindestlohn) abgesehen – ungewiss. Verlautbarungen zur Außen- und Sicherheitspolitik sind höchst widersprüchlich, ebenso zur energiepolitischen Notwendigkeit von Nordstream 2. Unsicher ist Deutschlands wirtschaftliche Zukunft als hoch entwickeltes, exportorientiertes Industrieland, während sich – parallel zu der offenbar angestrebten EU-Schuldenunion – eine steigende Inflationsgefahr abzeichnet. Überzeugende Zukunftskonzepte für das Land in der Mitte Europas sind jedenfalls nicht zu erkennen.
Zum Schluss: Was in Zeiten von Corona die politische Stimmung im Land betrifft, so bleibt offen, wie die Ampel aus den Widersprüchen im Umgang mit der Pandemie herauszukommen gedenkt. Was alles andere betrifft, so hege ich – wenn mich mein politischer Instinkt nicht täuscht – nur geringe Erwartungen, dass die Ampel-Koalition die historische Aufgabe erfüllt, das Land zukunftsfähig, sicher und lebenswert zu machen.