von Herbert Ammon
Es kam, wie es nach der Wahlniederlage der beiden Unionsparteien kommen musste: In der CDU – und auf bayerische Weise auch in der CSU – ist der Streit entbrannt, wo und bei wem die Ursachen für den Sturz aus der Wählergunst und aus der Macht zu suchen seien. In der Klima- oder in der Corona-Krise, bei den grünen, klimabesorgten und sternchenverzierten Jungwählern, an Laschets Auftritt während der Flutkatastrophe oder an Söders Quertreibereien?
Selten fällt der Name Merkel. Die noch amtierende Kanzlerin bleibt von Vorwürfen weitgehend verschont. Vermutlich, weil die potentiellen Kritiker – sofern nicht junge Parteikarrieristen – die Frage abbiegen wollen, warum sie sich erst jetzt zu Wort melden.
Erst recht gilt dies für die veröffentlichte Meinung. Mit Ausnahme von ›Welt‹, ›Tichys Einblick‹, ›Achse des Guten‹ (und der verpönten social media) erweist sich die deutsche Medienwelt nach wie vor als merkelfromm. Die Berichte über Merkels Abschiedstour sind voll der Anerkennung, gerade auch, was ihre Besuche bei Putin im Kreml und bei Erdogan in Istanbul anbelangt.
Auffällig geringe Beachtung findet hierzulande die am Tag vor der Septemberwahl veröffentlichte Ausgabe des liberalen britischen Magazins The Economist mit dem provokativen Titel: The mess Merkel leaves behind. Der Leitartikel, fundiert durch einen zehnseitigen ›special report‹, kennzeichnet Merkels vielfach bewunderten Regierungsstil als äußerlich konsensorientiert, im Kern indes als selbstgenügsam und geprägt von Versäumnissen.
Am Anfang der Kritik an Merkels »complacency« steht der vernachlässigte Ausbau der Infrastruktur, keineswegs nur des digitalen Sektors. Das ›Loch in der Infrastruktur‹ ist in den Kommunen zu besichtigen: am Zustand der Schulen, an den veralteten Brücken, am Schuldenstand. Als wirtschaftlicher Hemmschuh wirkt eine ausufernde Bürokratie. The Economist, ein eher wirtschaftsliberales Organ, wendet sich – auch im Hinblick auf das Verhältnis Deutschlands zu den schwächeren, schuldenfreudigen EU-Staaten – gegen die 2009 unter Merkel beschlossene Schuldenbremse.
Im Hinblick auf den Klimawandel erscheint dem britischen Betrachter Merkels abrupter Ausstieg aus der Kernenergie als falsch. Als gravierendes Versäumnis tritt sodann – im Hinblick auf die deutsche Demografie – die fehlende Rentenreform hervor. Fraglos geht dieses Versagen auf Merkels Konto, auch wenn dafür die Haltung des Groko-Partners SPD bezüglich Änderungen des Rentenalters angeführt wird. Ob und wie die von Scholz, Lindner und Habeck angestrebte ›Ampel‹-Koalition das Problem anzugehen bereit ist, gehört zu den deutschen Zukunftsfragen.
Anders als deutsche Mainstream-Medien rechnet das britische Magazin zu den Negativa der Ära Merkel auch das Agieren der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise 2015-16. Sie öffnete den Weg für die ›far-right‹ AfD und spaltete die EU, die bis heute keine Reform der Asylregeln zustande gebracht habe. Hinzuzufügen wäre, dass Merkels Grenzöffnung auch den Ausgang des Brexit-Referendums bewirkte.
Ins kritische Licht gerückt wird schließlich Deutschlands Außenpolitik. Unter Merkel habe Deutschland, geleitet von seinen Wirtschaftsinteressen, gegenüber China und Russland einen verständnisvollen Kurs gesteuert. Die Industriemacht Deutschland stieß damit bei den USA und bei ihren EU-Partnerländern auf wenig Sympathie. Von dem ›passiven (und pazifistischen) Land‹ werde eine aktivere, energischere Außen- und Sicherheitspolitik erwartet.
Mutatis mutandis sind die auf die Bilanz der Ära Merkel zielenden Fragen auch an die künftige, kaum noch fragliche Ampel-Koalition zu richten. Sie werden arbeitsteilig beantwortet werden: Die SPD ist zuständig für mehr Schulden und ›sichere‹ Renten, die FDP für weniger Schulden und mehr Digitalisierung, die Grünen für den großen Rest: Klima, Diversität – will heißen: mehr Einwanderung und buntere Familien – und ›energischere‹ Außenpolitik, insbesondere im Verhältnis zu Russland und China. Kritik an derlei Regierungshandeln ist hierzulande fortan noch weniger zu erwarten als unter Merkel.