Reflexionen nach der Bundestagswahl 2021
von Lutz Götze
Mit dem katastrophalen Absturz der Unionsparteien bei der Bundestagswahl hat auch die zweite der einstigen Volksparteien ihren Nimbus verloren. Wie vormals die deutsche Sozialdemokratie ist sie durch Wählervotum zu einer Partei der Normalität degradiert worden. Beide Parteien werden den früheren Status der entscheidenden Partei bei der Regierungsbildung nicht wieder erlangen. Auch keine andere Partei – etwa die Grünen – wird ihn je erreichen. Volksparteien gehören seit dem 26. September der Geschichte an. Ursache dessen sind zwei Phänomene: zum einen die Parteien selbst und zum anderen fundamentale Änderungen der Wählerschaft.
Zunächst zu den Parteien: Sie haben, zumal während der Perioden der Großen Koalition, Zug um Zug an Profil verloren und sich irgendwo im Spektrum der Mitte angesiedelt. Für die überwiegende Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler ist bereits seit langem nicht mehr erkennbar, wofür die Sozialdemokratie oder die Unionsparteien eigentlich einstehen; es handelt sich in Wahrheit um ein Sammelbecken nahezu beliebiger Meinungen und Ansichten, obendrein auch innerhalb der Parteien. Profillosigkeit ist zum Prinzip geworden. Also wendet man sich anderen Parteien zu, falls diese eine Klärung der Standpunkte verschaffen. Das Phänomen einer ›Stammwählerschaft‹ gehört damit ebenso der Vergangenheit an.
Weit stärker aber wiegen die Änderungen innerhalb der Wählerschaft. Es sind eine, genauer zwei, Generationen herangewachsen, die im privaten wie beruflichen Leben keine Dauer anstreben, sondern den Wechsel. Mithin werden private Beziehungen kurzfristig beendet, wenn der Wind einmal von vorn bläst. Ebenso geschieht es im Beruf: Immer häufiger verlassen Menschen Firmen und Karrieren kurzfristig, um neuen und, im Augenblick, faszinierenden Angeboten zu folgen. Häufig folgt das bittere Erwachen auf dem Fuße.
Genau dieses Verhalten prägt nun auch die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler: Man ist ratlos und entscheidet sich, häufig erst in der Wahlkabine, für diese oder jene Partei. Ratlos ist man freilich auch deshalb, weil man die Mühe einer eingehenden Beschäftigung mit den Zielen einer oder der anderen Partei scheut. Eher folgt man dem persönlichen Vorteilsstreben, dem Bauchgefühl, der Einflüsterung durch obskure Institutionen, oder einer – was immer das sein mag – ›Schwarmintelligenz‹. Vernünftiges, tiefschürfendes Studium der Angebote ist die Ausnahme, was freilich durch die Profillosigkeit der Parteien obendrein nachhaltig gefördert wird. Oberflächlichkeit statt rationaler Entscheidung, Egoismus statt eines Verantwortungsgefühls für die Gemeinschaft bestimmen letztlich die Wählerentscheidung.
Bernard -Henri Lévys ›Hohelied‹
Der Mitbegründer der Nouvelle Philosophie sieht das anders: ›Die Dämonen des Extremismus, des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit fanden bei dieser deutschen Wahl…wirksame Blitzableiter…Das Land der Frankfurter Schule und des Verfassungspatriotismus, die kulturelle Heimat von Kant und des kategorischen Imperativs, jene von Hölderlin und seiner Wanderer, die ihr Nationalbewusstsein in der Dialektik mit dem Fremden ausbilden, das Land von Nietzsche und seinem Horror vor jeder bigotten Selbstzufriedenheit – dieses Deutschland erteilt der Welt, insbesondere Frankreich, eine schöne Lehrstunde in Demokratie. Danke, Deutschland!‹
War es wirklich so? Haben nicht vielmehr in jüngster Zeit extremistisches Gedankengut und hasserfüllte, fremdenfeindliche und antisemitische Verbrechen, zumal in Corona-Monaten, deutlich zugenommen? Man denke an Hanau, an Halle, an Idar-Oberstein und die unzähligen vermeintlich kleinen Gewalttaten überall im Lande. Und war nicht dieser ›Wahlkampf‹, der in Wahrheit ein ermüdendes Phrasendreschen und aufgeheiztes Medienspektakel war, alles andere denn ein Beispiel kantischer Klarheit und Rationalität? Er wurde mit jedem Tag mehr ein Beispiel eitler Selbstzufriedenheit und Selbstdarstellung; die Homepage der Bewerber quoll über von überschwänglicher Begeisterung über jeden einzelnen Auftritt des Kandidaten, auch und gerade nach den ›Triellen‹, diesem Jahrmarkt der Eitelkeit und der Symbolpolitik. Der ungeistigen Tristesse dieser medialen Shows entsprach das Niveau der drei Kanzlerkandidaten: zwei – Laschet und Baerbock – wurden von vornherein von der Masse der Wähler als unqualifiziert empfunden, was sie freilich obendrein durch zahlreiche Entgleisungen und Betrügereien nachhaltig unter Beweis stellten. Der Dritte, Scholz, hielt sich – vermeintlich staatsmännisch – zurück und profitierte am Ende lediglich von den Schwächen der Gegner. Er wurde nicht seinetwegen, sondern lediglich deshalb gewählt, um eben jene beiden anderen zu verhindern.
Merkels Erbe
Wenn jetzt, wie zu erwarten war, bei dem gestürzten Engel das große Schlachtfest beginnt – deutlicher: die Union den oder die Schuldigen in aller Offenheit und Brutalität zur Strecke bringt –, wird die eigentliche Ursache des Niedergangs der Konservativen Partei aus Scham oder Feigheit verschwiegen. Es ist die Politik Angela Merkels und ihrer Zöglinge. Frau Merkel hat dieses Land sechzehn lange Jahre regiert, genauer: Symbolpolitik betrieben, die im Wesentlichen aus Abwarten und Verhindern allfälliger Entscheidungen bestand. Frau Merkel hat in der Zeit ihrer Kanzlerschaft im Grunde eine einzige Entscheidung selbstständig und aus voller Überzeugung getroffen: ›Wir schaffen das‹ erklärte sie 2015 und ließ Flüchtlinge in großer Zahl ins Land, ohne sich auch nur im Geringsten um die Probleme der sprachlichen und sozialen Integration der Einwanderer zu kümmern. Die Entscheidung war falsch.
Frau Merkel hat im Grunde zweierlei in ihrem Leben begriffen: Im Osten lernte sie, wie man sich in schwierigen Zeiten durchwurstelt, ohne den Mächtigen Schwierigkeiten zu bereiten. Im Westen, nach dem Mauerfall, lernte sie beim Lehrmeister Kohl, wie man durch Intrigen und Durchstechereien parteiinterne Konkurrenten aus dem Weg räumt. Das erste Opfer war Kohl selbst, ihm folgten Friedrich Merz, Norbert Röttgen und zuletzt Annegret Kramp-Karrenbauer.
Ihr politisches Leitmotiv hieß seit den Neunzigerjahren: Abwarten, Aussitzen, keine Initiativen starten und die anderer – etwa das Europakonzept Macrons – auf die lange Bank schieben. Merkels Problem war dabei – im Taktischen – das Verhindern notwendiger Veränderungen etwa im Klimabereich, aber auch bei der Bekämpfung der Pandemie, bei unabdingbaren Verbesserungen im Bildungsbereich oder sozialen Problemen wie Mietendeckel oder Mindestlohn.
Weit schlimmer aber war ihr inhaltlich-strategisches Desaster: Merkel präsentierte, gleichgültig auf welchem Gebiet der Politik, nie eine Konzeption, geschweige denn gar Visionen zukünftiger Politik. Man mag darüber streiten, ob sie ihnen misstraute oder überhaupt nie solche hatte – ich tendiere zu letzterem.
Seit Jahren breitete sich deshalb in wachsendem Maße Mehltau über das Land, in dem die Masse sich wohlfühlte und Rentenanwartschaften, Kita-Sorgen oder Genderschwachsinn für existenzielle Probleme hielt. Friedrich Merz' Wort von der ›Denkfaulheit‹ der Union lässt sich umstandslos auf die gesamte Republik anwenden.
Ein Neuanfang?
Auf dieser Grundlage soll ein fundamentaler Neuanfang gelingen. Die ersten Treffen, ›Vorsondierungen‹ geheißen, hinterließen freilich eher schale Eindrücke: Alles wie gehabt, also Selfies, Selbstdarstellung, Ämtergeschacher. Schlimmer noch: Die beiden ›kleinen‹ Parteien, also Grüne und Liberale, kungeln miteinander und suchen sich sodann einen Ehepartner unter den ›großen‹ aus, offen nach allen Seiten. Wie opportunistisch, besser: käuflich, die Grünen dabei zu Werke gehen, schockiert dennoch. Ein Verbot der Autobahnraserei ist plötzlich, trotz Klimaschädlichkeit, keine unabdingbare Forderung mehr. Obendrein bekennt die gescheiterte Kanzlerkandidatin Baerbock, Union wie SPD seien gleichermaßen für die Grünen koalitionsfähig. Das las sich im Wahlprogramm schon einmal vollkommen anders.
Aber vielleicht ereignet sich dennoch ein Wunder?