von Siegfried H. Seidl

Im Ziel sind Gunter Weißgerber und ich uns einig: Machtwechsel. Vielleicht muss man vorausschicken, dass ich von 1985 bis 2003 SPD-Mitglied gewesen bin. Nach einigen Jahren Abstinenz bin ich 2009 in die FDP eingetreten. Das sind ziemlich verschiedene Welten, aber ich zählte immer zu den Wirtschaftsliberalen, also zu Menschen, die es in der SPD sowieso schwer hatten. Ausgetreten bin ich, weil die Schröder-II-Regierung den Anti-Amerikanismus in meinen Augen salonfähig gemacht hat, und weil sich linksideologische Technokraten in den Gremien zunehmend breit gemacht haben. Da Außenpolitik mein Feld war, konnte ich mit der FDP zu Lebzeiten Hans-Dietrich Genschers nicht viel falsch machen. Gunter Weißgerber war bis 2009 SPD-MdB, zehn Jahre später ist auch er ausgetreten, aus überwiegend innenpolitischen Gründen. Dieses Detail, ich meine das Jahr 2009, ist interessant. Just im Jahr 2009 startete nämlich Guido Westerwelle mit einer 14,6 Prozent FDP eine furiose Wiederauflage der christlich-liberalen Koalition. Was dann folgte, kann man nur beschönigend als Desaster bezeichnen, genau genommen war es die Geschichte einer Vernichtung. Ich erinnere mich genau. Deshalb weiß ich auch, woran es lag.

Es gibt im Internet-Zeitalter einen zunehmenden Unterschied zwischen dem Gesagten, dem ›Geposteten‹, auf der einen Seite, und den Handlungen, der ›Wirklichkeit‹, auf der anderen Seite. Westerwelle war ein begnadeter Rhetoriker und Oppositionspolitiker. Damit allein kann man noch kein Ministerium erfolgreich führen und Programme durchsetzen. Dahinter steckt die zweite Voraussetzung für den Erfolg, zumal im abstrakten Deutschland, in dem eine Datenschutzrichtlinie höher bewertet wird als das nackte Leben: Der richtige Kompass, das richtige Ziel reichen allein nicht aus, man muss Ahnung von Institutionen haben, von ihren Funktionen und ihrer Wirkungsweise. Den Begriff Institutionen verstehe ich umfassend, beginnend vom Elternbeirat eines Kindergartens bis hin zu völkerrechtlichen Verträgen, am besten umschrieben mit dem Begriff kulturelle Hegemonie des Neo-Marxisten Antonio Gramsci in seinen Briefen aus dem Kerker. Von diesen Dingen ist die FDP, die Partei mit den interessanten, klugen und erfolgreichen Individuen an der Basis, leider weit entfernt. Kraftvolle Euphorie (›GermanMut‹), böse Leute würden sagen ›schreckliche Oberflächlichkeit‹, siegt über das vertiefte Aktenstudium, das Durcharbeiten ermüdender Soziologen-Werke oder den Gang zu einer Diskussionsveranstaltung. Ich spreche aus Erfahrung.

Das ist der Ausgangspunkt, die Spannung, von der Gunter Weißgerber schreibt: Man will es noch einmal versuchen mit der CDU/CSU, aus den Fehlern lernen, zumal es keine ›Scholz-SPD‹ gebe. Damit will ich gerne in die Runde einsteigen. Es gab auch nie eine Schmidt-, oder Schröder-SPD. Die letzte geeinte SPD mit Charisma war die Brandt-SPD. Diesen Grad an Integration und Identifikation wird niemand mehr erreichen. 1998 wurde die SPD von Oskar Lafontaine (der etwas anders aufgestellt war als Saskia Esken oder wie hieß der andere nochmal) an die Macht geführt, nachdem er sich bereit erklärt hatte, Gerhard Schröder den Vortritt zu lassen, weil dieser Wahlen gewinnen konnte. Was Schröder dann daraus gemacht hat, ist mit den Stationen Schröder-Blair-Papier, robuste Auslandseinsätze der Bundeswehr bei der Stabilisierung des Balkans und der Anti-Terror-Bekämpfung, grundlegende Reform des Arbeitsrechts (›Hartz-IV-Reformen‹) weithin bekannt. Da Lafontaine seit seinem Coup 1995 aus der SPD eine dogmatische Verweigerer-Partei im Bundesrat gemacht hatte, konnte die Kohl-Regierung den angemahnten ›Ruck‹ (Roman Herzog) nicht mehr umsetzen. Schröder war ab 2002 also förmlich gezwungen, sein zentrales Wahlversprechen, die Senkung der Massenarbeitslosigkeit des ›kranken Mannes‹ namens Deutschland, irgendwie umzusetzen. Er hat da wenig falsch gemacht. Allerdings war das eigentlich nicht die Aufgabe der SPD. Weil er nur zeitweise Politiker sein wollte (wie der Sprung ins Russland-Geschäft zeigt), war ihm die Partei ziemlich wurscht, was dann Stück für Stück zu einem Desaster, beinahe ebenso zur Vernichtung, der SPD geführt hat.

In dieser alt-bundesdeutschen Idylle spielten sich aber im Hintergrund längst andere Programme ab. Gunter Weißgerber zeigt zurecht auf das Hauptproblem der heutigen Zeit: die grüne Bewegung. Er hat auch Recht, wenn er die Grünen mit einer Lagerordnungsbewegung in Verbindung bringt. Ob die Bewegung wirklich innenpolitisch weltweit operiert, bezweifle ich. Genaugenommen operiert sie – streng marxistisch – in den weltweiten Institutionen, denn viele gescheiterte Alt-68er haben ihren Antonio Gramsci verstanden und holten weit aus, sehr weit: angefangen bei den kleinen Bauern-Demos gegen ›Atom-Fabriken‹ (mit den Arbeitern hat es nicht geklappt, dann versuchen wir es doch bei den Bauern), bis in die Menschenrechtsverbände. 1979 traten die Grünen zum ersten Mal bei einer Wahl an, bei der ersten Europa-Wahl. Sie wussten, wenn sie bei dieser Wahl, die keine Fünf-Prozent-Hürde kannte, ein wenig Erfolg hätten, erhielten sie Wahlkampfkosten-Erstattung, also überlebensnotwendiges Staatsgeld. Warum schreibe ich das? Weil es eines zeigt: Die Grünen haben sich alle verfügbaren Institutionen zunutze gemacht. Der größte Erfolg der grünen Basis ist zweifellos die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro, aus der das sogenannte Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaveränderungen hervorging, mitverhandelt übrigens von Klaus Töpfer, einem CDU-Umweltminister. Dieses Dokument ist der Ur-Koran der Lagerordnung, von der Gunter Weißgerber zurecht schreibt.

Die Umweltbewegung, gefährlich esoterisch unterwegs, hat es geschafft, dass Regierungen ein Dokument unterzeichnen, das weniger die Ziele festschreibt – damals gab es nur wenig Ziele, es ging ›nur‹ um schädliche Treibhausgase –, sondern vielmehr eine Verfahrensordnung über Aufgaben und Mechanismen der Staaten, die ständig fortgeschrieben, überprüft und verschärft werden. Das war nur möglich, weil auf dieser Konferenz erstmals in großem Maßstab zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt waren, also schnöde gesagt Lobby-Verbände. Insgesamt 2400 Vertreter nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) nahmen an der Konferenz teil. Verhandelt wurde unter dem Eindruck eines zwölfjährigen Mädchens, eine ›vielversprechende Umweltaktivistin der Zukunft‹ (dw), das sich in einer Rede an die Delegierten wandte, die ›die Abgesandten der Regierungen dieser Welt sprachlos machte‹ (dw). Die damalige Greta Thunberg, mit dem coolen Namen Severn Cullis-Suzuki, wird in einem Artikel der dw wie folgt zitiert:

»›Sie wissen nicht, wie man die Schäden repariert, dann hören sie damit auf, weiter Schäden zu verursachen!‹ Ein intensiver, persönlicher und provokanter Appell an die Delegierten. Sie erhielt stehende Ovationen von Politikern aus aller Welt. Al Gore sagte ihr, sie habe die beste Rede der Konferenz gehalten.«

Wo ist hier das Problem, könnte man fragen. Das Problem ist ein staatsrechtliches: In Artikel eins der Rahmenvereinbarung wurde für immer definiert, dass unter ›Klimaveränderung‹ nur die Änderungen gemeint sind, die ›unmittelbar oder mittelbar auf menschliche Tätigkeiten zurückzuführen‹ sind. Das Rahmenabkommen befasst sich also nicht mit der Frage, warum sich das Klima ändert, es ist schlicht nirgendwo geregelt und gefordert. Aus dem Rahmenabkommen ist über exakt festgelegte Folgekonferenzen im Jahr 2015 das Übereinkommen von Paris geworden, das ähnlich einer Verfassung die Unterzeichnerstaaten jetzt verpflichtet, Programme und Überwachungsmechanismen der Deindustrialisierung zu beschließen. Ein Anschlag auf die Souveränität jedes Unterzeichnerstaates. Mir ist beim Lesen dieser Dokumente aufgefallen, dass sie in ihren Windungen sehr den Verträgen zur Europäischen Union gleichen und deshalb zu befürchten ist, dass sie irgendwann genau so angewendet werden: als unmittelbar geltendes Gesetz. Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm hat in seiner grundlegenden Schrift Europa ja - aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie in eindrucksvoller Form herausgearbeitet, was das Kernproblem all dieser Verträge ist: die Konstitutionalisierung völkerrechtlicher Verträge. Mit anderen Worten: Man wendet sie wie Staatsverfassungen an. Wer aber einmal in dieses Schiff eingestiegen ist, kommt da nur schwer wieder heraus. Zwar kann man von die Verträge kündigen (›zurücktreten‹, aber das hat bisher nur der ehemalige US-Präsident Donald Trump – erfolglos – versucht. Ich habe das einmal in einer Veranstaltung im Deutschen Bundestag in die Debatte geworfen. Da erntet man große Augen, wie man sich vorstellen kann – ›Klima-Leugner‹?). Neuerdings liest man von ›Geschlechtergerechtigkeit‹ etc. in diesen Dokumenten, dem weiteren Einfallstor für Gender, Open borders (Stichwort Klimaflüchtlinge) etc.

Was hat das alles mit der Erwiderung von Gunter Weißgerber zu tun? Es hat etwas mit seinem frühen Zitat von Henning Voscherau zu tun, wonach überall Grüne säßen. Die grüne Anmaßung ist Staatswirklichkeit, sie ist auf dem Weg zur Verfassungswirklichkeit! Insofern ist sie in Wirklichkeit Vollzug. An dieser Stelle muss ich die SPD in Schutz nehmen: Alle diese Umweltkonferenzen wurden maßgeblich von Unionspolitikern mitgestaltet. Gerhard Schröder wollte stets die Unverbindlichkeit, ihm wäre es im Traum nicht eingefallen, Gesetze mitzutragen, die die Deindustrialisierung oder den weltweiten institutionalisierten Länderfinanzausgleich zwischen Industrieländern und sogenannten Entwicklungsländern bedeuten würden. Die größte Treiberin der neuen Globalverfassung war Angela Merkel. Sie hat sich 1995 auf der Bonner Folgekonferenz stark gemacht für dieses Thema und ihr ist 2007 sogar ein Husarenstück gelungen, indem sie George W. Bush in Heiligendamm auf Linie gebracht hat. Er hat ihr wohl einen Gefallen getan wegen ihrer verbalen Unterstützung vor dem Irak-Krieg, und die Sache nicht wirklich durchschaut. Mit den USA an Bord nahm das Schiff seinen folgenreichen Lauf. Insofern ist war Merkel wirklich die Anführerin des Westens geworden, nur wohin und für was? Das Klimapaket ist nur der Schlüssel für den Abbau von Freiheitsrechten und der Einführung einer weltweiten Planwirtschaft. Mit dem Klima haben diese Abkommen eigentlich gar nichts zu tun, wie man an der Definition in Art. 1 des Rahmenabkommens von 1992 sieht.

Besitzt somit eine »grün lackierte Union vielleicht noch die größten Restbestände gegen die grünen Erziehungsmaßnahmen«, wie Gunter Weißgerber schreibt? Er meint, die Union werde sich jetzt von Merkel absetzen. Dabei ist das nicht mal das Problem. Das Problem ist, wie man aus dem Klima-Regime wieder herauskommt. Mit Laschet als »neuen Magneten«, der sich mit den »Restbeständen« gegen die Politik seiner Vorgängerin stellt? Welche »Anderen« sind gemeint? Es gibt nur zwei ›Andere‹, und beide werden nichts zu sagen haben. Der eine ist Friedrich Merz, eine einsame Stimme im Meer von Gegnern. Er kann noch so beliebt an der Basis sein, auf die Basis kommt es in der Union nie an. Deshalb wurde aus CDU/CSU ja das, was man heute nur noch als Skelett bezeichnen kann. Der andere heißt Hans-Georg Maaßen. Den behandelt man selbst bei gesetzten CDUlern wie den Teufel in Person, als persona non grata. Die Politstrategen in der Union glauben, in der Großstadt ihr neues Heil gefunden zu haben und verachten inzwischen das Land regelrecht. Deshalb ist Deutschland auch so gespalten und wird die AfD dauerhaft in den Parlamenten sitzen, ein großes systemisches Problem übrigens.

Kommen wir zu Olaf Scholz. Ich weiß nicht, ob er ein Alphatier ist. Vielleicht ist auch das zweitrangig. Seine Rede im Bundestag, die er sehr ordentlich und sozialdemokratisch im herkömmlichen Sinn abgelegt hat (also staatstragend) zeigt mir eines: Er sprach als einziger zum Beispiel über die Berufsausbildung von jungen Menschen, und zwar ziemlich weit vorne in seiner Rede, sogar der akademischen Bildung vorangestellt. Das Klima kam zwischen dem sehr großen sozial- und wirtschaftspolitischen Teil und der – übrigens auch brauchbar umschriebenen – Außen- und Sicherheitspolitik nur nebenbei vor. Jedenfalls hat er kein zentrales Thema daraus gemacht. Dagegen klang Annalena Baerbock fast verzweifelt: Warum redet man im Hohen Hause überhaupt noch über Themen außerhalb von Klima und den damit verwandten Themen, zum Beispiel dem Corona-Regime, der Blaupause fürs Klima-Regime? Hier konnte man sehen, was den ehemaligen Arbeitsrechts-Rechtsanwalt Olaf Scholz (Praktiker) und die Sektenführerin Annalena Baerbock (Utopistin) antreibt. Natürlich kann Scholz nicht die weitere »Zerstörung des Wirtschafts-, Automobil-, Energie- und Forschungsstandortes Deutschland«, wie Gunter Weißgerber mahnt, einfach so aufhalten, aber die Frage ist erlaubt, wer uns das Ganze eingebrockt hat: Das war die Union: Merkel und all ihre Laschets. Unter den Bedingungen der Großen Koalition wurden die SPD-Minister dann in den desaströsen Wettbewerb getrieben, wer noch weiter links steht. Sigmar Gabriel, heute große Klappe, brachte es jedenfalls nicht fertig, sich 2015 gegen Merkels große Grenzöffnung zu stellen.

Es ist erlaubt, die Lebensläufe und Lebenswerke noch einmal genau anzuschauen: Armin Laschet ist ein Medien-Politiker, ein Fähnchen im Wind, und einer der Protagonisten der Union der Mitte, der Großstadt-CDU, die praktisch völlig ›vergrünt‹ ist. Wo hat er auch nur den Versuch unternommen, etwas anders zu machen als Merkel, oder im Nachhinein wenigstens darüber reflektiert? Olaf Scholz hat als ›Scholzomat‹ die Arbeitsrechtsreformen der Schröder-II-Regierung vertreten, später maßgeblich an der Rente mit 67 – einem sehr wohltuenden und vernünftigen Projekt übrigens – mitgewirkt, also schon oft gegen die linke Parteibasis gehandelt. Dass er bei den Jusos einmal sehr links angefangen hat, schadet nicht, es ist eher ein Ausweis für Läuterung und Festigkeit in seinen heute eher konservativen Ansichten. Diese Erfahrungen helfen ihm auch, die Linken im Zaum zu halten. Mit Robert Habeck bekommen wir keinen Linksrutsch. Wer in Kiew, anders als die CDU-Kanzlerin, ein offenes Ohr für die Lieferung von Verteidigungswaffen hat, eine Selbstverständlichkeit übrigens, um glaubhaft abschrecken zu können vor neuen Abenteuern des Kreml, der hat bewiesen, dass er kein Linksdogmatiker ist. Das Heft liegt jetzt bei der Lindner-FDP. Ich glaube, dass Olaf Scholz froh wäre, wenn die FDP stark verhandelt, denn er liegt mit seinen Themen näher an der FDP als bei den Grünen.

Die Deutschland-Abbruch-Koalition, die Gunter Weißgerber in der nun vermutlich möglichen Ampel sieht, war in meinen Augen das, was 16 Jahre zurückliegt, und ist nicht das, was mit Scholz kommen würde. Wenn man die Lindner-FDP beobachtet, ist Jamaika wahrscheinlicher als die Ampel, auch wenn Scholz weit vor Laschet ins Ziel fährt. Nicht ohne symbolische Bedeutung hat er Scholz ins Stammbuch geschrieben, dass ihn das Schicksal von Helmut Kohl 1976 erreichen könnte, der trotz erheblicher Wahlgewinne und der größten Fraktion dann Oppositionsführer wurde. Auch die FDP glaubt, mit dem ›Freund‹ Laschet viele Punkte – gegen die Grünen – durchsetzen zu können. Ich halte das nach wie vor für den gleichen Trugschluss wie 2009. Anders als Gunter Weißgerber glaube ich im Falle des Kanzlers Laschet auch nicht, dass Angela Merkel ab Herbst »unrühmliche Geschichte« sein wird. Wer – wie sie – in der vorerst letzten Rede im Bundestag so platt für ihre hausinterne Nachfolge wirbt, hat noch mehr vor, der geht nicht ›in Pension‹. Vielleicht ist der Beworbene nur ihr Statthalter? Sie hat übrigens wieder fast nur von Corona und Klima und diesen Dingen geredet, voll auf Linie mit den Grünen. Ihre Mission ist noch lange nicht zu Ende. Allerdings könnte man sie wenigstens in Deutschland aufs Abstellgleis stellen. Nur zu!