von Siegfried H. Seidl
Die Bundestagswahl 2021 bleibt spannend. Nach den neuesten Umfragen, wenige Wochen vor dem Wahlstichtag, führt die SPD deutlich vor CDU/CSU. Olaf Scholz könnte Kanzler werden. Das Anti-Merkel-Lager ist aufgewühlt. Kommen nach dem offiziellen Abgang von Angela Merkel jetzt auch noch die Kommunisten in die Regierung, ob in Form der Linkspartei oder mit dem Parteigenossen Kevin Kühnert? Auch eine sog. Ampel (Rot-Gelb-Grün) schreckt ab, denn – so die Narration – die FDP könnte gegen zwei linke Parteien in der Regierung nichts durchsetzen. Schließlich gibt es noch die nicht aufgearbeitete Cum-Ex-Geschichte, in der dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz schwere Vorwürfe gemacht werden wegen einer Steuer-Niederschlagung zugunsten einer Hamburger Privatbank (zu Zeiten eines Franz-Josef Strauß nannte man das ›Freunderlwirtschaft‹).
Aber bleiben wir mal nüchtern. Angela Merkel tritt offiziell ab, es bewirbt sich ihr Parteifreund Armin Laschet, derzeit Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen und ›Freund‹ der FDP, für das höchste politische Amt als Kanzler. Als Mitbegründer der sogenannten Pizza-Connection, die schon in den 1990er Jahren informelle schwarz-grüne Sozialkontakte initiierte, fühlt er sich sicher im Sattel einer sogenannten Jamaika-Koalition, schließlich kennt er sich aus. Er will natürlich Vieles anders machen, so verkündet er, damit die Unionsparteien wieder mehr Zuspruch erhalten. Wo liegt der Fehler? Der Fehler liegt darin, dass Armin Laschet ein hundertprozentiger Merkel-Mann ist. So unternimmt er auch in der jüngsten von Merkel mitverantworteten Krise, dem Afghanistan-Desaster, nicht einmal den Versuch, sich von ihr abzugrenzen. Im Gegenteil, er lobt sie wieder mehr oder weniger unverhohlen. (Merkel hat das übrigens bei ihrem Vorgänger Helmut Kohl ganz anders gehalten, was ihr den Aufstieg gesichert hat.)
Dabei ist das Grundproblem unseres Landes mit zwei Wörtern umschrieben: Angela Merkel. Sie hat die Union inhaltlich entkernt, zur reinen Macht- und Korruptionspartei transformiert. Sie hat wie kein Kanzler vor ihr links-grüne Themen umgesetzt, ohne dafür gewählt worden zu sein und damit die Gesellschaft tief gespalten. Sie hat – das ist der größte Vorwurf – den zukünftigen Generationen ihre Aussichten gestohlen. Wer kann sich heute noch aus eigener ehrlicher Leistung einen gesicherten Wohlstand schaffen? Was sind akademische Abschlüsse heute noch wert? Wer kann ohne staatliche Alimentierung überhaupt noch dauerhaft existieren? Fast jedes bürgerliche Versprechen, jede hart erarbeitete Stufe der Demokratie, jede wirtschafts- und finanzpolitische Weisheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sie abgeräumt, Stück für Stück. Demnächst zahlen wir den doppelten Strompreis und müssen umweltschädlichere Energie importieren, um unsere Rechner bedienen zu können. Der Vorwurf der Abschaffung von Freiheitsrechten und der Deindustrialisierung stehen im Raum. Dieser größte Betriebsunfall seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland muss aufgearbeitet werden.
Noch wichtiger: Angela Merkel und ihre Entourage, ihre unzähligen Lakaien, müssen jetzt komplett und dauerhaft von den Töpfen der Macht ferngehalten werden. Mit Laschet? Mitnichten. Das Kanzleramt bliebe in den Händen der CDU, vermutlich würde Laschet nicht einmal das Personal austauschen. Als CDU-Vorsitzender hat er bewiesen, wie hasenfüßig er ist. Er ist ein leicht überheblicher Erziehertyp, der die Welt so erklärt, wie es ihm aufgeschrieben wird. Er ist der Prototyp des Politikers, der von der Angst getrieben wird, von den Medien nicht geliebt zu werden. So macht er als Fähnchen im Wind täglich Fehler, weil man ohne Rückgrat und gesetztem Erfahrungswissen nicht auf Dauer bestehen kann im Internet-Zeitalter. Mit diesen Eigenschaften ist er der ideale Nachfolger – für Angela Merkel. Sie würde ihm unausweichlich im Genick sitzen. Aufarbeitung der 16 Jahre Irrfahrt? Fehlanzeige. Abstand zu ihrem Netzwerk? Fehlanzeige. Neujustierung der Union? Fehlanzeige. Die Grünen würden die Regierung wie bisher vor sich hertreiben, jetzt halt mit Ministerinnen und Staatssekretärinnen. Deshalb gefällt ihnen die schwarz-grüne Option am Besten. Die FDP könnte daran nichts ändern.
Der Neuanfang kann nur gelingen mit einem Machtwechsel im Kanzleramt. Zwar hat sich Olaf Scholz verdächtig gemacht, als er nach dem G-20-Debakel in seiner Heimatstadt Hamburg unter Merkels Mantel gerutscht ist. Das war eine Enttäuschung. Jetzt wirbt er sogar mit der Raute. Er wird als ›schlumpfig‹ beschrieben. Vielleicht ist er es sogar und diese Dinge sind nur taktisches Kalkül. Auch Gerhard Schröder warb 1998 mit ›weichen‹ Wahlplakaten, um Kohl-Wähler zu gewinnen. Er hatte aber mit Kohl wenig gemein, eigentlich gar nichts. Des weiteren wirft man Scholz vor, dass er die Linksdrehung der SPD mitgemacht hat und sozialistische Themen fährt. Eine Koalition mit den SED-Nachfolgern schließt er nicht aus. Das kann ein Problem darstellen, aber genauso gut einer innerparteilichen Taktik dienen. Bei SPD-Politikern der Mitte ist es ein übliches Instrument, um kandidieren zu dürfen. Außerdem verbessert die rot-rote Option den Verhandlungsspielraum bei Koalitionsgesprächen mit der FDP. Von Verhandlung hat die SPD Ahnung, das haben sie unter Merkel mehr als bewiesen. Weil unter Merkel aber kein Gras wuchs, nutzte das der alten staatstragenden Partei nichts. Vielleicht schadet das relativ linke SPD-Wahlprogramm der Linkspartei, so dass sie aus dem Bundestag vertrieben werden. Das wäre ein wohltuender Effekt für die Zukunft unseres Landes. Denn die Linkspartei hat die SPD in die Zwickmühle zwischen linker CDU und linker Linkspartei getrieben, deshalb ist sie geschrumpft und geschrumpft.
Der Machtwechsel würde meines Erachtens keinen Linksruck bedeuten. Er gäbe vielmehr der FDP die Chance, endlich ein paar ihrer Programmpunkte umzusetzen. Die unsäglichen Jamaika-Verhandlungen 2017 haben bewiesen, was sie in einer schwarz-gelb-grünen Koalition erwartet: königliche Nichtachtung. Zwar wird Laschet ein aufgeschlossenes Verhältnis zu seinem ›Wunschpartner‹ FDP nachgesagt, man kennt sich in NRW. Aber wie wertlos solche ›klimatischen‹ Verhältnisse in der Politik sind, musste am bittersten und am lehrreichsten der rhetorikbegabte und grundanständige Guido Westerwelle 2009 erfahren, oder der liberale Koalitionspartner in der ersten und vermutlich letzten bayerischen schwarz-gelben Regierung zwischen 2008 und 2013. Nämlich nichts. Als Zeitzeuge kann ich dazu nur sagen: Lernt aus diesen Irrtümern und macht so etwas nie wieder! Ja, es gibt die geräuschlose Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein, aber Schleswig-Holstein mag das schönste Bundesland sein, in dem man regieren wollte, es ist aber nicht Deutschland oder Berlin. Wolfgang Kubicki und Robert Habeck können im Übrigen in einer Ampel mehr bewirken als in jeder Jamaika-Konstellation.
Warum wäre die FDP und damit die Hoffnung auf eine liberalere und verantwortungsbewusstere Politik in einer Ampel besser aufgehoben? Weil die SPD, so links sie derzeit dreht, ein verlässlicher Koalitionspartner ist. Was man mit ihr aushandelt, daran hält sie sich auch. Das war das große Geheimnis der sehr gut funktionierenden sozial-liberalen Koalition zwischen 1969 und 1982, die am Ende politisch gescheitert ist. Das setzt allerdings voraus, dass man mit ihr auch richtig verhandelt. Betrachtet man die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen in der Rückschau, könnten da Zweifel aufkommen. Koalitionsverhandlungen sind kein Vorlese-Wettbewerb und auch kein universitäres Seminar, sondern unangenehme Termine, in denen man – manchmal höflich, manchmal hinten herum, manchmal aber auch brutal – seine Interessen durchsetzen muss. Das können die Grünen am Besten, weil sie von ihren Ideen beseelt, machtbewusst und durchtrieben sind. Sie sind mit den Medien vernetzt wie keine andere politische Partei, wissen, was Institutionen sind, welche Funktionen sie haben und wie man sie einsetzt.
Schröders Bonmot – man muss wissen, wer Koch und wer Kellner ist – war kein Witz, sondern Regierungsalltag in der rot-grünen Koalition 1998 bis 2005. Die Grünen wurden als das behandelt, was sie waren, eine Partei im einstelligen Bereich. Im Nachlassverfahren von Merkel ist das etwas anders, weil es – wie erwähnt – Optionen für die Grünen gibt. Sie könnten ein Jamaika-Bündnis vor einer Regierung mit den zuweilen sperrigen Genossen im Kanzleramt vorziehen, aber es liegt letztlich an der FDP, ob sie auf die Taktik der Grünen hereinfällt. Indem die Liberalen ohne Not Werbung für Laschet machen, erweitern sie den Verhandlungsspielraum der Grünen, ›Jamaika‹ als Druckmittel gegen Scholz einsetzen werden. Die FDP wäre als gut beraten, sich nicht auf Laschet festzulegen. Die FDP kann nur ein einziges Interesse haben: das Vertrauen ihrer Wähler in der Regierung nicht erneut zu enttäuschen. Wenn das mit der SPD besser gelingt, dann muss sie der Ampel zum Erfolg verhelfen.
Betrachten wir das ganze Bild noch von der anderen Seite: Im Falle einer Ampel säßen die AfD – (großteils die alte CDU/CSU) mit der CDU/CSU der neuen Merkelschen Mitte – gemeinsam auf der Oppositionsbank. Zwei maximal verfeindete Gruppen, die sich im Wortsinne nicht riechen können. Das muss man nicht als Rache verstehen, sondern als Chance für die Union, ihren eigenen Irrweg, 16 lange Jahre, aufzuarbeiten, und zu neuer Kraft zu kommen, und das politische System der Bundesrepublik Deutschland wieder zu heilen. All die Drostens und Spahns im Nirwana. Die Brauns und Brinkmanns auf dem Abstellgleis. Was kann der Politik dienlicher sein?
Schließlich würde der Machtwechsel auch helfen, das ruinierte politische System der Bundesrepublik Deutschland wieder zu reparieren. Die SPD kann sich bewähren und den Einfluss der Linkspartei, den der Tabu-Bruch von Klaus Wowereit 2002 schaffte, wieder rückgängig machen. Diese Alt-Last der DDR säße mit der Merkel-Union auf der Oppositionsbank, wenn sie noch einmal in den Bundestag gewählt würde, was ihre Angriffe neutralisieren würde. Die Gefahr der weiteren Zersplitterung der Parteienlandschaft wäre gestoppt. Vielleicht würde die Aufarbeitung der Merkel-Jahre auch einen Impetus für eine große Partei- und Parlamentsreform darstellen, damit die Staatsverfassung wieder zur vollen Geltung kommt. Die Wahl bleibt nicht nur spannend, sie stellt eine Weiche. Weiter so oder Neuanfang.