von Lutz Götze

Die Nominierung der Kanzlerkandidaten von Union und den Grünen ist ein Armutszeugnis. Sie dokumentiert in erschreckender Deutlichkeit, wie weit staatstragende Parteien die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland bereits beschädigt haben.

Beide Parteien weisen dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf. Die Unterschiede sind geringfügig: Die Grünen haben ihre Entscheidung stillschweigend über die Bühne gebracht, die Union konnte ihre Schwatzsucht nicht bremsen. Damit enden die Unterschiede.

Nicht so in Presse und Öffentlichkeit: Den Grünen wurde bescheinigt, sie hätten den Findungsprozess geradezu beispielhaft, ja vorbildlich, über die Runden gebracht: Beide Vorsitzenden hätten in vertraulichen Gesprächen herausgefunden, wer der bessere Kandidat für die Kanzlerschaft sei. Nichts sollte nach draußen dringen; äußerste Vertraulichkeit sei das oberste Gebot. Am Ende trat das Duo vor die Mikrofone und verkündete das Ergebnis: Eine Kandidatin sollte es sein, nämlich Annalena Baerbock. Der Ko-Vorsitzende Habeck durfte als Conferencier mitspielen. In einigen Wochen soll ein Bundesparteitag die Entscheidung abnicken. Die Presse lobte unisono das professionelle Management.

Ähnlich wie die Grünen verfuhr die Union: Über Wochen hinweg diskutierten die Vorsitzenden von CDU und CSU, Armin Laschet und Markus Söder, die gleiche Frage: allein oder in Parteigremien. Unentwegt wurden freilich Details durchgestochen, fielen Kampfbegriffe wie ›zerfleischen‹ oder ›einen Vorsitzenden ramponieren‹ oder gar ›vom Sockel stürzen‹, gelegentlich auch ›schwerer Imageschaden für die Union‹. Große Teile der Presse heizten die Stimmung vehement an. Emotionen bestimmten die Tagesordnung; der Vernunft wurde kein Raum gewährt.

Vom Wesen der Demokratie: ein Exkurs

Die Demokratie fußt im Wesentlichen auf drei Fundamenten: der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, der Garantie von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und dem Schutz von Minderheiten. Die Meinungsfreiheit gebiert den Disput, also den freien und öffentlichen Austausch von Meinungen mit dem Ziel eines Kompromisses, möglicherweise aber auch lediglich der Feststellung, dass eine Einigung der streitenden Parteien (derzeit) nicht möglich ist. Damit müssen Demokraten leben können.

Wird die öffentliche Auseinandersetzung um Themen und Inhalte von staatlicher Seite verboten, ist der Weg gebahnt zur Diktatur, deren Vorstufe neuerdings auch – so in Russland – ›gelenkte Demokratie‹ genannt wird. Die Verteidigung der demokratischen Grundrechte ist daher Aufgabe aller Bürger und Bürgerinnen, obendrein Sache des Staates, der Organisationen und der Medien.

Die Kandidatenkür beider Parteien hat das Grundrecht der freien und öffentlichen Meinungsäußerung mit Füßen getreten. Union wie Grüne bevorzugten eine Kungelei der Vorsitzenden in Hinterzimmern statt der Befragung der Basis. Besonders unerträglich ist das bei den Grünen, die einstmals angetreten waren, genau dieses Eliteverhalten zu bekämpfen. Jetzt praktizieren sie es selbst.

Erschreckend aber war obendrein die Rolle der Medien: Anstatt dieses undemokratische Polittheater als das zu brandmarken, was es ist, nämlich eine schleichende Aushöhlung der Demokratie, priesen sie das vermeintlich perfekte Agieren der Grünen und machten sich lustig über die Provinzialität und Laienhaftigkeit der Unions-Fürsten.

Weitere Gemeinsamkeiten der Kandidatenwahl

Die anderen Gemeinsamkeiten beider Parteien sind schwerwiegender. In beiden Parteien und bei allen vier Kandidaten – Laschet und Söder auf der einen und Baerbock und Habeck auf der anderen, ehemals gegensätzlichen Seite – wurde auch nicht im Ansatz erkennbar, wofür sie eigentlich stehen. Genauer: Welche unterschiedlichen inhaltlichen Positionen vertreten sie? Worin unterschieden sich Baerbock und Habeck bei den Grünen, beide zusammen von den Unionskandidaten und diese wiederum unter sich? Antwort: Nicht erkennbar! Von Inhalten oder gar Programmen war nicht die Rede; es ging ausschließlich um Personen, um Biografien, um Identitäten, Charisma und dergleichen mehr. Politik fand nicht statt!

Es gab einmal eine Zeit in der Bundesrepublik Deutschland, da wurden der sachliche Disput, das Ringen um die bessere inhaltliche Lösung für die Bürger und das Land, geschätzt. Es wurde von den politischen Parteien geradezu gefordert, zumal von der Sozialdemokratie, die zahlreiche fundamentale Probleme – Gründung der Bundeswehr, NATO-Beitritt, Doppelbeschluss, Hartz-IV-Regelung -– stellvertretend für die Gesellschaft debattierte und dafür, über Jahre hinweg während der Kanzlerschaft Brandts und Schmidts, geschätzt, freilich am Ende abgestraft wurde. Der Union und den Liberalen wurde diese Rolle nie zugemessen: Sie waren Kanzlerwahlvereine, nichts sonst.

Die Grünen hatten, an ihrem Anfang, die Aufgabe der Fundamentaldebatte übernommen und mit heftigen Auseinandersetzungen zwischen ›Realos‹ und ›Fundis‹ befeuert. Das ist Geschichte. Die Grünen von heute sind der Kanzlerwahlverein der Moderne, haben die FDP überflüssig gemacht und nur ein einziges Ziel: Macht! Dazu bedienen sie sich der gängigen Moden und ihrer, zumeist, Vertreterinnen, zumal in den Großstädten: Umweltschutz und Wohlstandssicherung, Digitalisierung, eine ›Gesellschaft der Singularitäten‹, vage Versprechungen und gigantische Investitionsforderungen, deren Finanzierbarkeit sie nicht diskutieren.

Dazu passt, dass die Grünen eine Kandidatin erkoren haben, deren Lebens- und Berufserfahrung gegen Null geht. Annalena Baerbock hat an der London School of Economics Völkerrecht studiert und dort einen ›Master in Public International Law‹ (LL.M) erworben. Anschließend arbeitete sie als Büroleiterin im Europaparlament und als Referentin für Außen-und Sicherheitspolitik in der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Ein Promotionsvorhaben zum Thema Naturkatastrophen und humanitäre Hilfe im Völkerrecht brach sie ab, um sich der Politik zu widmen.

Es passt zum Gesamtbild, dass es heute in der Bundesrepublik möglich ist, dass eine Politikerin für das höchste politische Amt im Lande kandidiert, deren Leben mit dem der überwiegenden Mehrheit der Menschen nicht das Geringste zu tun hat. Mehr noch: Eine Parlamentarierin, deren Sozialisation ausschließlich in der Blase politischer Prozesse in Brüssel und Berlin verlief. Auf die Frage, wie sie ihre mangelnde berufliche und praktisch-politische Erfahrung kompensieren wolle, antwortete die Kandidatin, Erfahrung sei nicht alles und häufig sogar schädlich, wie gerade die Handelnden in der Pandemie bewiesen hätten. Ergo: Am besten ist es, man versteht von nichts etwas Genaues und verfügt schon gar nicht über so etwas wie Fachkenntnisse, um in der Politik erfolgreich zu agieren!

Die öffentliche Zustimmung zu dieser Aushöhlung der Demokratie ist bestürzend: ›Zeitgeist‹, ›Lifestyle‹ oder wie auch immer die Leerformeln zur Erklärung dieser Entwicklung lauten. Widerstand ist geboten!