von Lutz Götze

Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben deutliche Ergebnisse gezeitigt. Gewonnen haben die Matriarchin Malu Dreyer und der Patriarch Winfried Kretschmann, nicht also die Parteien SPD und die Grünen. In Krisenzeiten kommt es auf Personen an, wusste schon Konrad Adenauer (›Auf den Kanzler kommt es an!‹), und die Wirtschaft muss stabil und von Veränderungen unbedroht sein, wusste in der Folge Ludwig Erhard (›Keine Experimente!‹) Beides wurde am 14. März 2021 bestätigt.

Mit der Wahl wurde auch die zweite der ehemaligen Volksparteien zu Grabe getragen: Die Union – zunächst nur die CDU – ist durch eigene Fehler und schweres Versagen in der aktuellen Pandemie (Impfstoffversorgung, Maskenskandal, Chaos in der Impfpriorisierung, eklatante Fehler der Kanzlerin, Unfähigkeit der Minister Spahn, Altmaier u.a.) auf ein historisches Tief zurückgefallen und allenfalls als Juniorpartner im ›Ländle‹ und demnächst eventuell auch im Bund noch brauchbar.

Apropos Angela Merkel: Ihre Amtszeit endet nun, zum Glück, nach sechzehn erfolglosen Jahren. Sie hat in ihrem Leben dreierlei gelernt und darauf ihre Politik gegründet. In der DDR lernte sie, wie man halbwegs anständig und unauffällig eine Diktatur überlebt, in der Bundesrepublik – beim einstigen Ziehvater Helmut Kohl, den sie später abservierte –,wie man innerparteiliche Gegner aus dem Feld räumt (neben Kohl auch Merz, Röttgen und andere), und drittens, wie man inhaltliche Debatten, denen man nicht gewachsen war, frühzeitig beendet und damit die Union zum Kanzlerwahlverein verkümmern lässt.

Die CDU folgt mit der Wahlniederlage von Stuttgart und Mainz der deutschen Sozialdemokratie, deren Abwärtsbewegung mit den Schröderschen Hartz-IV-Reformen begann, sich mit dem Eintritt in die unselige Große Koalition von 2017 fortsetzte und durch aktuelle Fehler wie z. B. die Kritik der Co-Vorsitzenden Esken am vernünftigen Standpunkt Wolfgang Thierses ihren vorläufigen Tiefpunkt erlebt. Die SPD dümpelt in ihrer derzeitigen Verfassung vor sich hin, ist profillos und weit entfernt von der Möglichkeit, in Berlin den nächsten Kanzler zu stellen. Kandidat Scholz behauptet zwar das Gegenteil, doch sind seine Bekundungen nichts als ein Pfeifen im Walde.

Beide Volksparteien gehören somit der Vergangenheit an. Das ist alarmierend, denn Sozialdemokratie und Union haben der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte hinweg Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ökonomische Stabilität gesichert. Es ist zudem das große Verdienst der beiden Parteien, dass im Ausland Ansehen, Anerkennung und Zuverlässigkeit Deutschlands beträchtlich wuchsen und das Land zu einem vertrauten Bündnispartner in demokratischen Prozessen (Spanien nach Franco), bei friedenssichernden UN-Missionen , wirtschaftlicher Stabilisierung und in der Entwicklungshilfe wurde.

Ursachen der politischen Veränderung

Freilich ist die heutige Entwicklung hin zu einem breiteren Angebotsspektrum nicht allein den Parteien anzulasten. Sie wird vorangetrieben durch eine grundsätzliche Änderung in der Meinungsbildung der Bevölkerung. Vor allem in der jungen und jüngeren Generation ist nicht nur im Wahlverhalten und im Engagement in den Parteien seit Jahren ein Kurswechsel zu beobachten: Man bindet sich nicht mehr auf Jahrzehnte, ist kaum noch Stammwähler, entscheidet eher spontan und gefühlsorientiert als lange überlegt und rational, folgt mehr dem Bauch denn dem Kopf. Entsprechend gelten Parteiprogramme als überholt, sind zu lang und zu anstrengend, stören den spontanen Entscheidungsprozess. Das ist ein ubiquitärer Prozess, folgend dem Werbeslogan ›Lebe jetzt, zahle später!‹. Oder in den Worten einer stressgeplagten 20jährigen, die angesichts der Corona-Beschränkungen klagt: ›Das Leben geht an mir vorbei, meine Jugend wird mir genommen!‹ Hielte man ihr vor Augen, wie viele Menschen in Kriegs- und Nachkriegsjahren gelitten haben und in Millionenzahl zu Tode gekommen sind, würde sie fassungs- und ahnungslos mit den Schultern zucken: ›Die Gnade der späten Geburt‹.

Dieses Verhalten hat unmittelbar mit einem allgemeinen Bildungs- und Kulturverfall zu tun. Als Folge einer seit Jahrzehnten andauernden verfehlten Bildungspolitik haben wir es heute mit einem Heer schlecht ausgebildeter junger Menschen zu tun, deren kulturelles Niveau erschreckend ist und deren Kenntnisse nicht einmal für die allseits geforderte Digitalisierung ausreichen. Es hapert an allem: Mathematiker beklagen die Unfähigkeit der jungen Leute, auch nur einfachste Rechenaufgaben im Kopf zu lösen. Professoren der Physik und Chemie – Domänen, in denen Deutschland früher Nobelpreise in Serie abräumte – spotten über ein nicht vorhandenes Abiturniveau ihrer Studenten, Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse von Abiturienten sind indiskutabel. Freilich, was Wunder: Wenn über Generationen hinweg naturwissenschaftlich-mathematisches Sachwissen sowie solide Kenntnisse und Fähigkeiten in Sprache, Literatur und Musik gering geschätzt werden, deren Unterrichtsstunden gestrichen und stattdessen auf Digitalisierung als eines vermeintlichen Allheilmittels gesetzt wird, braucht man sich über dieses Bildungschaos nicht zu wundern. Die Pandemie hat es im Übrigen dramatisch verstärkt.

Landtagswahlen in Stuttgart und Mainz

Das einzig Erfreuliche an den Wahlergebnissen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist das schlechte Resultat der AfD. Aber auch hier gilt das Gesagte: Sie hat sich vor allem selbst ruiniert und wurde in der Öffentlichkeit nur als Verein von Streithammeln zur Kenntnis genommen. Dass die Gefahr von rechts jetzt etwa geringer sei als vor wenigen Monaten, mag ein frommer Glaube sein, wird aber durch die Wirklichkeit in keiner Weise bestätigt.

Ähnliches gilt für die Partei ›Die Linke‹: Ihre Richtungskämpfe haben der Partei enormen Schaden zugefügt und sie in den ›alten Bundesländern‹ zur Splitterpartei verkommen lassen. Sie wird auch in Zukunft eine ostdeutsche Regionalpartei bleiben, freilich auf tönernen Füßen: gegründet auf einer ›DDR-Identität‹, die es in der DDR nie gab. Erst nach dem Mauerfall 1989 kam dieses dumpfe Gefühl auf.

Ist das Erstarken der Grünen im Südwesten Deutschlands nun ein deutlicher Hinweis darauf, dass die einstige außerparlamentarische Bewegung im Jahre 2021 dabei ist, sich zu einer neuen Volkspartei zu entwickeln? Die These steht im Raum und äußere Bedingungen sprechen zunächst dafür. Das ›Standbein‹ der Partei, die Umweltpolitik, ist dringlicher denn je und lediglich durch die Corona-Pandemie auf Zeit nach hinten gedrängt worden. Die schweren Zerstörungen von Flora und Fauna sind freilich weltweit sichtbar und verlangen deutlich vermehrte Anstrengungen aller politischen Parteien.

Gleichwohl spricht vieles gegen die These einer neuen Volkspartei, vor allem eine weltweit erkennbare Dissoziierung von Gesellschaften und das immer stärkere Beharren auf Gruppenidentitäten. Immer mehr Klein-und Kleinstgruppen bestehen darauf, in ihrer Identität definiert und von der Gesellschaft anerkannt zu werden. In Deutschland wurde es deutlich im Streit zwischen Wolfgang Thierse und einigen Genossen aus der SPD-Parteispitze. Thierse hatte beklagt, dass die Grundlage jeder Demokratie, nämlich die Herrschaft der Mehrheit und die Toleranz und der Respekt vor Minderheiten, nicht umgekehrt werden dürfe. Anderenfalls werde das demokratische Gemeinwesen schweren Schaden nehmen.

In den USA, aber auch in der westlichen und östlichen Welt, schlug die Auseinandersetzung um das Gedicht von Amanda Gorman, das sie bei der Amtseinführung von US-Präsident Biden vorgetragen hatte, hohe Wellen. Die Behauptung war, es dürfe nur von einer Übersetzerin der Kategorie ›people of colour‹ ins Niederländische oder jede andere Sprache transportiert werden. In der Konsequenz hieße diese Ausgrenzung, ein Roman des Juden Kafka dürfe nur von einem anderen weißen heterosexuellen Juden in welche Sprache auch immer übersetzt werden, Opern von Richard Wagner nur von Antisemiten inszeniert, gesungen und gespielt werden. Die Kette des Schwachsinns ließe sich beliebig fortsetzen.

In Deutschland – drittes Beispiel – wird, wie in anderen Ländern, derzeit heftig über eine ›geschlechterneutrale Schreibung‹ gestritten. Ziel der Befürworterinnen ist der Abbau von Diskriminierungen von Frauen in der Gesellschaft. Diesem Ziel wird sicher jeder vernünftige Mann zustimmen, jedoch einwenden, dass es besser wäre, in der Gesellschaft und in der Berufswelt damit anzufangen, also nicht in der Sprache. Eine Sprache, die im Übrigen mit Asterisk, Doppelpunkt und Unterstrich heftigen Schaden an Schönheit und Klarheit nimmt.

Diese fortschreitende Gruppenaufteilung in Lesbian, Gay, Bisexual, Nonbinär, Queer, Transgender, Intersex, Asexual, Ally, Pansexual und möglicherweise weitere Minigruppen gefährdet den Kern einer pluralen Gesellschaft und ist Gift für die Demokratie. Sie dürfte obendrein die Ursache für eine Verhinderung einer größeren Gemeinsamkeit, also einer neuen Volkspartei, sein. Das ist mehr als bedauerlich.

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