von Ulrich Schödlbauer

Es spielt’ ein kühnes Spiel in dieser Zeit
Mit allen Sterblichen das mächtge Schicksal.
Hölderlin

1.

Wenn Albträume wahr werden, nehmen sie die Gestalt politischer Führer an. Warum ist das so? Politik entspringt den Abgründen der menschlichen Existenz. Sie ist – im Kern, versteht sich – Überlebenskunst. Und da die Überlebensstrategie der meisten Leute sich darin erschöpft, sich an die Röcke und Hosenbeine anderer Leute zu klammern, besitzt auch Politik diese zwei Seiten – eine der klammernden Masse zugewandte, die ihr signalisiert, alles wird gut, und eine zweite, auf der Politiker vor allem an sich selbst und ihr Fortkommen denken. Was sie auf dieser abgewandten Seite alles denken, das wissen ihre Geldgeber vielleicht am genauesten, oder, wenn sie auf eigene Rechnung unterwegs sind, ihre Träume, nicht zuletzt ihre Albträume.

Will man wirklich verstehen, was die in den letzten Jahrzehnten betriebene Abkehr vom Nationalstaat in Europa – genauer: in gewissen Teilen Europas – bedeutet, dann sollte man diesen Teil der Geschichte nicht vernachlässigen. Traum versus Albtraum: Politik basiert auf Entweder-Oder-Entscheidungen, sie ist binär strukturiert. Ihre Aufgabe besteht darin, das Überschießende abzuwehren, abzuleiten oder es bändigend in Dienst zu nehmen, den überschießenden Wunsch und die überschießende Furcht. Niemand ist da, ihr diese Aufgabe abzunehmen, sie steht mit ihr allein. Wenn sie versagt, versinkt die Welt im Chaos.

2.

Schnell abzuhaken sind die positiven Träume. Sie wurden allzu oft coram publico ausgebreitet und laufen auf eine Formel hinaus: Wir schaffen den Weltstaat. Die europäische Union ist bei dieser Inszenierung so etwas wie der willige Helfer, der dem politischen Hochadel des Kontinents die Räuberleiter hinhält, auf dass er sich leichter und in gehöriger Zahl in den inter- und supranationalen Gremien tummeln und die dazugehörigen Bürokratien mit seinen Leuten bestücken könne, ganz nach dem Motto: Souverän ist, wer die Regeln bestimmt, nach denen gespielt wird.

Europa, das heißt seiner politischen Führungsschicht, erlaubt ein historisch gewachsenes Selbstverständnis nicht, auf der Weltbühne nicht präsent zu sein. Es ziemt sich nicht, nicht die Rolle der ehemaligen Kolonialherren zu spielen, die jene Sache, genannt Welt, ›in Ordnung‹ zu bringen haben. Kaum etwas prägt das Phänomen Merkel mehr als diese Bühnenpräsenz und die Rolle, besser, das Rollenfach, in dem sie sich einbringt. Sie kann dort dem amerikanischen, dem russischen und dem chinesischen Präsidenten, Gebietern über Waffenarsenale, vor denen die Welt nur besteht, indem sie die von ihnen drohende Gefahr hartnäckig ausblendet, auf fast beliebige Weise Paroli bieten, das birgt keinerlei Schwierigkeiten, solange die komplizierte Balance zwischen mitgebrachter ökonomischer Potenz, europäischem Kompetenzwirrwarr und beitragsunterfütterter Mitsprache in den diversen Weltorganisationen trägt. So etwas macht etwas mit der Person.

2.

Fragt man die klugen Leute, was ein Jahr Covid-Politik gebracht hat, so erhält man zur Antwort: die Restitution des Nationalstaats als Irrenhaus. Wer dahinter ein Scheitern der Globalisierung oder gar des Supranationalismus vermutet, der beweist damit nur, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Der Ausnahmezustand – denn um ihn geht es in der Sache, auch wenn er sich hartnäckig hinter Infektionsschutzmaßnahmen versteckt – mit seinem hektischen Lockdown- und Grenzschließungsregiment imponiert dem Virus offenbar herzlich wenig. Mit der Dreistigkeit der Natur scheint es sich kaum um bürokratieentsprungene Maßnahmenkataloge zu scheren, wie die übereinandergelegten Verlaufskurven der verschiedenen Länder mühelos allen Interessierten nahelegen. Gewiss aber dient er den Deichgrafen der etablierten Parteien, die sich mit einer mediengeschürten, albtraumhaft sich fortwälzenden Massenhysterie konfrontiert sehen, welche, einmal der Kontrolle entglitten, die säuberlich gezogenen Grenzen zwischen Regierten und Regierenden überspringt: Rettet uns oder geht zum…!

Dass alle personalisierte Macht irgendwann zum … geht, es sei denn, die Inhaber sind klug genug, sich rechtzeitig ins Privatleben abzusetzen: diese Allerweltsregel springt den Akteuren der Krise umstandslos ins Gesicht. Die Chuzpe von Regierenden erkennt man in solchen Zeiten daran, wen alles sie zur Not über die Klinge springen lassen, um sich Zeit zu kaufen. Was bedeuten schon Kultur- und Kneipenszenen gegen die Qualen drohenden Machtverlustes, was die grundgesetzlich garantierte Freiheit des Einzelnen angesichts der verzweifelten Not, im voraus verlorene Wahlen dennoch gewinnen zu müssen, koste es, was es wolle, was die Verwüstungen im zivilisatorischen Feinbetrieb, der die Kleinsten und Ältesten ebenso umfasst wie die Labilsten und Schwächsten, gegen die Retter-Attitüde erstplatzierter Kümmerer mit angestauten Überwachungsgelüsten, was die Parzellierung des Lebens, das eben noch in der großzügigsten aller Welten dahinströmte, gegen die Entgrenzung und Personalisierung der Macht in den Händen weniger Führungsfiguren, die, wem auch immer, nun einmal versprochen haben, diese erlösungsverheißende Impfsache durchzuziehen: Einmal lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

3.

Politisch gesehen – wie sonst? – war Covid ein Aphrodisiakum der Macht: Eben noch lag sie auf dem Boden, gequält von Kompetenz- und Ansehensverlust, von Legitimitätslücken, groß wie Scheunentore, plötzlich erhebt sie sich, schüttelt die Anmutungen des Alltags von sich und wächst, manche heben den Zeigefinger und warnen: ins Unermessliche. Was ist das Unermessliche? Es herrscht dort, wo alles ins Ermessen der Herrschenden gestellt ist, also im Ausnahmezustand, der nie so genannt werden darf, soll das simple Kalkül aufgehen, das da lautet: Wir haben eine Notsituation, was wir dringend benötigen, sind Sachentscheidungen, die weder Aufschub noch Widerspruch dulden, soll heißen, die konkurrierenden Gewalten in die unbedingte Pflicht nehmen. Dieses In-die-Pflicht-Nehmen, dieser moralisch-politische Zwang zum Einverstandensein, in Bausch und Bogen und bis ins skurrile Detail, funktioniert nur auf der nationalen Ebene – und dort funktioniert es absolut.

Warum das so ist? Weil in Krisenzeiten die Nation als Resonanzkörper der Politik fungiert – aus diesem und keinem anderen Grund. Und wenn es sich, wie im Fall einer von den zuständigen Instanzen ausgerufenen Pandemie, um ein Weltproblem handelt, dann verschmelzen nationale und Weltperspektive ohne weiteres miteinander. Jedenfalls hält sich der Anschein, es verhielte sich so, bis die ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit unterliegende Panik der Massen im Gerangel um die besten Plätze sich aufsplittert und die Koalition der Willigen von unten her aufbricht. So betrachtet, ist die abenteuerliche Parole vom ›Impfnationalismus‹ ein Versuch, die nationale Perspektive krampfhaft über den Zeitpunkt hinaus festzuhalten, zu dem der Kampf der partikularen Interessen wieder offen in Gang kommt, nachdem er eine Zeitlang unter der Decke schwelte. Schließlich möchte jeder Willige so rasch wie möglich in den Genuss der verheißenen Panazee kommen. Es ist kein Nationalismus, Regierungen an ihre Aufgaben zu erinnern. Es ist Realismus, genauer, der Realismus der Regierten, der zurückschwingend die Regierenden in die Pflicht nimmt – dieselben, die gerade noch frei auf der Klaviatur der Macht spielten und sich eine Weile vormachen durften, sie könnten es noch immer.

4.

Das Schicksal der internationalen Zusammenarbeit wird von diesem Perspektivenwechsel gar nicht berührt. Wer anderes behauptet und vor einer Renationalisierung der Politik warnt, die ›das Erreichte‹ gefährde, der sieht vor allem sich selbst und seine erreichte Position im Machtgefüge gefährdet. Da können die Schwabs dieser Welt ruhig für ihre farblosen Utopien trommeln – mehr als Rhetorik für den Hausgebrauch gegen das Albtraum-Szenario regierender Krisengewinnler, die den Machtabriss fürchten, vermögen sie nicht zu liefern. Hic Rhodos, hic salta, der eherne Grundsatz aller Politik, die reell sein will, holt alle Handelnden ein, den einen früher, den anderen später. Eine Inzidenz zu viel und der aufgeblasene Kandidat von morgen ist einer von gestern. Jeder Autofahrer muss lernen, den Fuß rechtzeitig vom Pedal zu nehmen. Manche Politiker lernen es scheint’s nur unter Schmerzen.

Misstraue Politikern, die aus der Krise heraus umstandslos in die nächste Vision starten. In der Regel bemühen sie sich nur, den entstandenen Schaden umzudeklarieren, um daraus Legitimität für die Zukunft zu gewinnen. Was nicht bedeutet, dass die ›Vision‹ (»Build Back Better«) nicht wirklich eine Zeitlang die Agenden beherrscht und die Taschen von Leuten – und Organisationen – füllt, die wissen, wie man sich bei solchen Gelegenheiten bedient. Abtretende Tyrannen pflegen gern die Perspektive auf das nächste Jahrtausend zu öffnen, während sie ihren Lieblingen unter der Bank noch schnell die größeren Batzen hinwerfen. Demokratische ›Führer‹, die ohne Gesichtsverlust von der Bühne ins Privatleben gehen können, sollten schon aus Gründen persönlicher Integrität vermeiden, die Machtfülle, die der liebgewonnene Krisenmodus für sie bereithält, bis zum Ende auszureizen. Wo das nicht gelingt, wird es zur vornehmsten Aufgabe gewählter Amtsinhaber, die ihrer Zukunft und der des Gemeinwesens gleichermaßen verpflichtet sind, dem zusehends unwürdigen Spiel ein Ende zu bereiten – eingedenk Hölderlins Distichon Wurzel alles Übels, das da lautet:

Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn
   Unter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei?

 

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