von Gunter Weißgerber

Sehr geehrte Damen und Herren,
haben Sie vielen Dank für die Einladung.
Gern komme ich ihrer Bitte nach einem Vortrag zu 30 Jahren Deutscher Einheit nach.

Eine Vorbemerkung

Helmut Kohl führte nach 1982 den deutschlandpolitischen Weg von Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher fort. Brandts Wandel durch Annäherung, der Grundlagenvertrag, Schmidts KSZE-Engagement und dessen Idee der Doppelten Nulllösung – all das nahm Kohl auf. Auf den Punkt gebracht: ich bin Schmidt für die Doppelte Nullösung genauso dankbar wie ich Kohl für die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses zu danken habe. Anders ausgedrückt, der Widerstand der Unionsparteien gegen die Neue Ostpolitik hatte mich genauso geärgert wie mich das ›Gemeinsame Papier von SPD und SED‹ von 1987 noch heute auf die Palme zu bringen vermag.

Vorgeschichte

Deutschlands Weg in die Einheit lässt sich nicht erst ab 1989 skizzieren. Vor der Einheit 1990 stand bekanntlich die Europäische Teilung. 1945 begannen bereits die großen Unterschiede. Wurden die drei Westzonen und Westberlin tatsächlich dauerhaft befreit, so folgte in der SBZ sofort die nächste Diktatur.

Die vormaligen Nazi-Konzentrationslager füllten sich wieder und bei weitem nicht nur mit Tätern des Dritten Reiches. Persönlich kenne ich Menschen, die vor und nach 1945 dort inhaftiert waren, darunter Juden und Sozialdemokraten.

Das schlimmste Schicksal erlitten die wenigen überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Stalin ließ diese nicht nur nicht frei. Nein, diese armen Kreaturen kamen direkt in den Gulag. Für Stalin waren Überlebende Hitlers schlicht Verräter.

Wer nur halbwegs etwas über die Hölle der sowjetischen Kriegsgefangen in Deutschland weiß, kann die Enttäuschung ermessen, die diesen bedauernswerten Geschöpfen bevorstand. Für mich war dieses Wissen der Punkt, an dem ich begann, die Blutspur des Kommunismus genauso zu hinterfragen wie ich es von früher Kindheit an bereits mit dem Nationalsozialismus tat. Stalin war Massen-, kein Selbstmörder. Für ihn war klar, in seinen neuen Territorien würde es keine Demokratie geben.

Am 30. April 1945 nahm die ›Gruppe Ulbricht‹ Quartier bei Berlin. Im Marschgepäck hatte sie die Planung der Sowjetischen Besatzungszone als totalitären Unrechtsstaat. »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben« – so Walter Ulbricht zu seinen Gesellen.

So blieb es dann bis in den Herbst 1989. Das letzte durch Schusswaffen zu Tode gekommene Mordopfer an der Mauer war der 19jährige Chris Gueffroy. Er verblutete in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989. Der letzte zu Tode gekommene DDR-Flüchtling war der 43jährige Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 mit einem Ballon über Westberlin abstürzte.

Von Beginn an gab es keine Chancen auf persönliche, politische, wirtschaftliche Freiheit, auf Demokratie, auf freie Wahlen, auf unabhängige Justiz, auf unabhängige Medien. Für Andersdenkende gab es nur die mit der faktischen Todesstrafe bewehrte Flucht oder die Anpassung oder den Gulag und die kommunistischen Zuchthäuser.

Vier Parteien wurden zugelassen, sie sollten ein Mehrparteiensystem suggerieren. Massiv bevorteilt wurde die KPD, ebenso massiv benachteiligt wurden die SPD, die CDU und die LDP. Mit dem beginnenden Massenzulauf für die gesamtdeutsch denkende SPD schaltete die KPD um und begann die Vereinigungskampagne mit der SPD. Willfährige Sozialdemokraten wurden auch manchmal gefunden. Und wo dies nicht gelang, gründete die KPD selbst SPD-Ortsvereine, die dann natürlich für die Vereinigung waren. Unter brutalem Druck schmiedete die KPD die Zwangsvereinigung. Widerstand war zwecklos, die Gefahr für Leib und Leben aufrechter Sozialdemokraten war riesengroß.

Mit der Zwangsvereinigung schaltete die KPD ihren wichtigsten Konkurrenten aus. Die SPD verschwand spurlos, die meisten Sozialdemokraten verloren in den Folgejahren ihre Positionen und wurden aus der SED ausgeschlossen. Unter dem Kampfbegriff des ›Sozialdemokratismus‹ wurden nach 1953 die letzten aufrechten ehemaligen Sozialdemokraten aus der SED entfernt. Viele kamen in die Zuchthäuser der DDR, wenn ihnen nicht vorher die Flucht in den freien Westen gelang.

Zurück in die SBZ nach 1945. Die SPD war ausgeschaltet. Jetzt waren die CDU und die LDP dran. Außerdem gab es noch die vielen Täter und Mitläufer des NS-Systems, die eingesammelt werden mussten. Die SED ließ für die Gestrigen die NDP gründen und für die Landbevölkerung die DBD. Nun begann derselbe Druck wie vormals auf die SPD. 1948 mussten die restlichen Parteien kapitulieren und in die Zwangsverblockung der Nationalen Front einrücken.

Wer diesen Block heute nach demokratischen Maßstäben als Koalition missversteht, geht Jahrzehnte später Ulbricht noch immer auf den Leim. Nichts, wirklich nichts hatten die Blockparteien mitzubestimmen. Warum sind die Leute dann nicht aus diesen Parteien rausgegangen? Weil es in einer Diktatur nicht möglich ist, die Folgen solcher Austritte abschätzen zu können. Warum sind später Leute in diese Parteien eingetreten? Weil sie damit der lästigen und vieles entscheidenden Aufforderung, ob sie in die SED eintreten wollten, aus dem Wege gingen. Was sie nicht wussten, war die technische Organisation dieser Frage. Die Blockparteien mussten in jedem Fall bei der SED nachfragen, ob sie Herrn X oder Frau Y aufnehmen dürfen.

Wie war das mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR als Vorstufe zum Kommunismus?

Ulbricht, Honecker und Co. hatten alles richtig gemacht. Sie hatten den Sozialismus nicht verraten. Wer die Menschen über einen Leisten schert, wer ihnen alles wegnimmt, der muss eine Mauer um diese Menschen bauen, der muss diese Mauer auch gegen das eigene Volk schützen, der braucht Mielkes Staatssicherheit, der braucht Zuchthäuser, Jugendwerkhöfe und Irrenhäuser. Anders geht das nicht im richtigen Leben. Den Kommunisten ist zuerst ihre Idee zum Vorwurf zu machen. Alles andere ist von strafrechtlichem Belang!

Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR waren feste Bestandteile der beiden Blöcke. Beide waren außenpolitisch nicht souverän. Wobei die Bundesrepublik größere Spielräume besaß als die DDR als Teil des sowjetischen Kolonialsystems. In der Bundesrepublik gab es freie Wahlen, öffentliche Diskussionen über den eigenen Status, über die Wiederbewaffnung, über das westliche Verteidigungsbündnis, die Notstandsgesetze, die Neue Ostpolitik (die in Moskau das Vertrauen schuf, welches Gorbatschow später vertrauensvoll mit dem Westen zusammenarbeiten ließ), den NATO-Doppelbeschluß und vieles mehr. Als Ostdeutscher konnte man da nur staunend neidisch werden, über das, was in Westdeutschland alles möglich war. In der DDR konnte man für die leiseste Kritik im Gefängnis landen. Das ist das Perfide an Diktaturen: Niemand weiß, ob ihm und wenn ja, was passieren wird. Angst und Vorsicht sind sozusagen genetische Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens.

Die 80-er Jahre

Die 80er Jahre waren in der DDR für sehr viele Menschen eine bleierne Zeit. Bleierner als die von Margarethe von Trotta so gekennzeichneten westdeutschen 50er Jahre. Die Westdeutschen waren damals nicht eingesperrt, wurden nicht von der Staatssicherheit bedrückt. Alte Nazis in Verantwortung gab es in Hülle und Fülle in beiden deutschen Staaten. Kritisiert werden konnte das nur im freien Teil Deutschlands.

Die 80er Jahre in der DDR waren wie angestemmt. Seit der Neuen Ostpolitik, seit KSZE gab es Risse im östlichen Lagerleben. Die Charta`77 in der CSSR, Solidarnost in Polen, der Gulaschkommunismus in der lustigsten Baracke des Ostblocks, in Ungarn – und in der DDR dagegen Friedhofsruhe. Überall waren Änderungen zu ahnen. Nur bei uns herrschte die greise Betonriege mit der Macht der sowjetischen Waffen.

Vorher, zu Beginn der 80er Jahre schlug der Apparat noch zurück. Die Antwort der Warschauer Paktstaaten auf die Soldarnostgründung waren monatelange Manöver in der Ostsee und an den Grenzen zu und die Militärdiktatur in Polen.

Rahmenbedingungen

1981 kam Helmut Schmidt nach Güstrow. Auch damals hofften wir auf Besserungen, die der Bundeskanzler natürlich nicht direkt bewirken konnte. Was er jedoch bewirkte, das tat uns sehr wohl. Vor aller Welt blamierte sich die DDR mit der Abschottung Helmut Schmidts. Alle, die es sehen wollten, sahen, dass die Güstrower keinen Kontakt zu dem Mann aus Bonn bekamen, dass die DDR- Bevölkerung vor dem direkten Kontakt mit dem populärsten Träger des Sozialdemokratismus ›geschützt‹ wurde. Güstrow war eine Geisterstadt.

1982 verlor Helmut Schmidt die Kanzlerschaft an Helmut Kohl. Für uns Ostdeutsche war es nicht sofort klar, was dies für unsere Situation bedeuten würde. Zumal die SPD von nun an eine unverständliche Nebenaußenpolitik mit der SED betrieb und sich gegen den NATO-Doppelbeschluss wandte. Für mich waren das verheerende Signale. Die SED wurde faktisch als gleichberechtigt auf der gleichen Ebene anerkannt. Dabei sah sich die SED als kommunistische Partei. Kommunisten wollen keine Demokratie, keinen Pluralismus, keine Gewaltenteilung. Sie wollen Diktatur. Die ersten Opfer der Kommunisten unter Lenin waren die russischen Sozialdemokraten.

Den NATO-Doppelbeschluß lobte ich bereits. In diesem Zusammenhang muss ich noch etwas zur Parole ›Lieber rot als tot!‹beisteuern. Dieser Satz war ein infamer Umgang mit dem Freiheitswunsch der Ostblockvölker. Diese Worte sagten nichts anderes, als dass der Status Quo mit der Freiheit im Westen und der Unfreiheit im Osten um des Friedens willen beibehalten werden müsse. Das sagten aber nur die, die in der Freiheit leben konnten. Wir wurden da gar nicht gefragt. Die Bedrohung durch atomare Mittelstreckenraketen konnte nur in Westdeutschland hinsichtlich der US- und der Sowjetischen Raketen öffentlich thematisiert werde. Leider nahm die Friedensbewegung fast ausschließlich nur die amerikanischen Raketen in ihr Visier. So wie heute immer noch. Klar, die Amerikaner kann man folgenlos kritisieren.

1985 fiel dem Politbüro in Moskau nichts anderes mehr ein als dem jungen Michail Gorbatschow das Heft des Handelns zu geben. Gorbatschow sah, dass ohne Reformen, ohne Freiheit, ohne eine soziale Marktwirtschaft seine Sowjetunion keine Überlebenschance haben würde. Glasnost und Perestroika waren seine großen Mittel. Mit Hilfe der Öffnung der Archive wollte er der Nomenklatura den Boden entziehen und das Vertrauen der Bevölkerung in seine wirtschaftlichen Reformen gewinnen. Das Ausmaß der Verbrechen seit Lenin und Stalin war so unglaublich, dass er einfach meinte, wenn die Bevölkerung das erst einmal weiß, wird sie ein Bollwerk gegen die bisherigen Eliten im Sowjetstaat sein. Für Honecker und Co. war dies der Anfang vom Ende. Sie wussten, wenn Gorbatschows Reformen auch nur ansatzweise in der DDR greifen würden, wäre es mit der DDR vorbei. Auch nur ein bisschen mehr Freiheit hätte ein wirkliches Mehrparteiensystem nach sich gezogen, und in freien Wahlen wäre der SED-Staat abgewählt worden. Die SED hatte zu keinem Zeitpunkt des Bestehens der DDR die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich!

Leipziger Montagsdemonstrationen

Die Deutsche Einheit 1990 nun ist ohne die Leipziger Montagsdemonstrationen nicht denkbar. Doch wie kam es zu diesen Ereignissen? Ich zitiere Richard Schröder:

»1978 führte Margot Honecker ein neues Schulfach ein: Wehrerziehung. Das stieß auf den Protest vieler Eltern und auch der Evangelischen Kirche, die dagegen eine Erziehung zum Frieden forderte – vergeblich. Darauf beschloss die Evangelische Kirche in beiden Teilen Deutschlands, jährlich eine Friedensdekade an den letzten 10 Tagen des Kirchenjahres ... abzuhalten. 1980 fand die erste Friedensdekade statt. Das Dresdner Jugendpfarramt hatte für diese Andachten eine Materialmappe erstellt, die an die Gemeinden versandt wurde. Und man hatte sich dafür etwas Besonderes ausgedacht, ein Lesezeichen, gedruckt auf Vlies, das eine sowjetische Plastik von Jewgeni Wutschetisch zeigte, nämlich einen sehr muskulösen Mann nach Art des heroischen sozialistischen Realismus, der aus einem Schwert eine Pflugschar schmiedet. Diese überlebensgroße Plastik hatte die Sowjetunion 1959 der UNO geschenkt. … die Kirche dachte: dann kanns ja wohl nicht verboten sein, diese Plastik, … auf Textilvlies drucken zu lassen. Das Herrnhuter Unternehmen Abraham Dürninger… druckte 120.000 Stück. Dabei nutzte die Kirche eine Gesetzeslücke. Das Bedrucken von Papier unterlag der Zensur, die aber nicht so genannt werden durfte. Das Bedrucken von Textilien dagegen galt als Oberflächenveredelung. Deshalb also war das Lesezeichen aus Vlies und nicht aus Papier. Und deshalb ließ es sich, was gar nicht beabsichtigt war, gut auf Jackenärmel nähen, was viele Jugendliche auch prompt taten. Darauf begannen Schulen und die Polizei eine Jagd auf dieses Abzeichen. Es musste sofort entfernt werden oder die Jacke wurde beschlagnahmt. Disziplinarische Maßnahmen folgten. Studenten wurden deshalb exmatrikuliert. Manche Jugendliche nähten sich daraufhin einen weißen Fleck auf den Ärmel mit der Inschrift: ›hier war ein Schmied‹.

Diese Friedensdekade … fand auch in der Leipziger Nikolaikirche statt, aber eben jährlich … Zu den wöchentlichen Friedensandachten in Nikolai kam es so: Im Leipzig-Probstheida stand für die Gemeindearbeit nur eine Zweiraum-Wohnung zur Verfügung. Durch einen Planungsfehler standen eines Abends zwei Gruppen vor der Tür, die Junge Gemeinde … und der Bibelkreis …). Was tun? Der Jugenddiakon Günther Johannsen schlug vor: dann redet eben heute mal Jung mit Alt. Die Alten fragten: warum provoziert Ihr Jungen mit den Aufnähern ›Schwerter zu Pflugscharen‹ den Staat und riskiert Eure Karriere und Schlimmeres? Die Jungen antworteten: der Staat wird immer militanter, wir werden im Wehrkundeunterricht massiv gedrängt, freiwillig 3 oder gar 10 Jahre in der Volksarmee zu dienen. Ohne diese Verpflichtung kommt man oft gar nicht mehr zum Studium. Dagegen wollen wir ein Zeichen setzen. Die Alten waren erstaunt. …. Da wurde die Idee eines Friedensgebetes geboren. Denken, Handeln, Beten für den Frieden, so war es gedacht – und informieren. Eine zentrale Leipziger Kirche sollte es sein und nach Arbeitsschluss. Am besten wäre die Nikolaikirche und 17 Uhr. Und Montag empfahl sich, weil das der Pastorensonntag ist, an dem sie nicht ausgebucht sind.«

Rauswurf aus der Nikolaikirche 1988

Selbstverständlich waren es nicht nur die Leipziger Montagsdemonstrationen, die die DDR zum Einsturz und zum Verschwinden brachten. Überall in der DDR gab es ›versammelte‹ Opposition, vor allem auch in Ostberlin – Stichwort Gethsemane-Kirche. Für Leipzig galt die Besonderheit, dass zweimal im Jahr die Weltöffentlichkeit auf die Messestadt blickte. Damit bekam Leipzig ein Podium, welches in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen war.

Das Paradebeispiel der Wirkung dieses Podiums lieferte am 29. August 1988 ausgerechnet Pfarrer Christian Führer. Um ihre Gemeinde zu schützen, beschlossen er und der Superindent Friedrich Magirius, die Oppositionsgruppen aus der Nikolaikirche zu verweisen. Die Herbstmesse stand bevor, die Erwartungen der Westmedien, über die Friedensgebete während der Messe weltweit berichten zu können, war bekannt. Mit den Worten ›Das sind keine Leute von uns!‹ mussten die Oppositionsgruppen die Nikolaikirche verlassen. Was letztlich ein großes Glück für unsere Freiheit war. Von da an versammelten sich die jungen Leute im Nikolaikirchhof. Der Rauswurf bedeutete den Gewinn des öffentlichen Raumes für die Leipziger Opposition. Es war ein Rauswurf, der sich als gewaltiger Sprengsatz erweisen sollte. Plötzlich wurde diese Opposition öffentlich von den Leipzigern erkannt. Die Westmedien konnten von nun an noch bessere Bilder bringen. Technisch ausgedrückt: War diese Opposition unter dem Schutzdach der Kirche bis zum Sommer 1988 weitgehend unbemerkt, so wurde der Nikolaikirchhof die Brennkammer der Friedlichen Revolution, die ein Jahr später zum Motor der Leipziger Montagsdemonstrationen wurde.

Die Ungarn demontierten ihre Todesgrenze

So richtig in Fahrt kam die Entwicklung nach dem 2. Mai 1989. Der ungarische Premier Miklos Nemeth riss den ›Eisernen Vorhang‹ zu Österreich und Jugoslawien auf und zog damit den Stöpsel aus der Wanne Ostblock. Wir spürten plötzlich den Sturm der Freiheit, den wind of change. Zwar durfte noch kein Ostdeutscher diese Grenze überschreiten, der Fall dieser Bastion war jedoch absehbar. Dieser Sturm füllte die bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest. Es folgten das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989 nahe Sopron, die endgültige ungarische Grenzöffnung für DDR-Flüchtlinge am 11. September 1989 und die 14 Flüchtlingszüge zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 1989 von Prag nach Hof durch den Süden der DDR. Gerade letzteres Ereignis wurden von zehntausenden DDR-Bürgern entlang der Bahnstrecke wagemutig begleitet. In Dresden gab es eine Woche lang bürgerkriegsähnliche Zustände. Damals entstand die ›Gruppe der Zwanzig‹.

Noch eine Anekdote zu Nemeth und seiner Entscheidung, die Todesgrenze zu entschärfen. Mit Amtsübernahme im November 1988 sah er, dass Ungarn einige Millionen Devisen aufwenden musste, um die Grenzanlagen zu modernisieren. Das war Geld, welches Ungarn nicht hatte. Die geforderte Stacheldrahtqualität gab es nur im Westen. Nemeth sah nicht ein, dass Ungarn für das Einsperren der ostdeutschen Lagerinsassen Devisen ausgeben sollte. Die Ungarn selbst durften schon viele Jahre in den Westen reisen. Die ungarische Grenze wurde nur für die DDR-Bevölkerung tödlich bewacht. Nemeth reiste im März 1989 nach Moskau zu Gorbatschow. Grenzanlagen abbauen, das musste in Moskau genehmigt werden. Er teilte Gorbatschow mit, dass Ungarn die Grenzanlagen abbauen würde, dass Ungarn im laufenden Jahr eine parlamentarische Demokratie mit freien Wahlen einführen würde und dass die ungarische kommunistische Partei diese Wahlen verlieren würde. Gorbatschow gab grünes Licht.

Zurück nach Leipzig 1989. Die Montagsdemonstrationen erhielten enormen Zulauf aus der gesamten DDR. Da Gorbatschow seine Panzer nicht auffahren ließ, war die SED-Führung ganz ungewohnt ganz allein zu Haus. Ohne die sowjetischen Waffen und Soldaten in der Hinterhand hatten sie nicht den Mut, auf die Bevölkerung zu schießen. Die Angst war übermächtig, dass sich die Soldaten mit den geladenen Gewehren gegen ihre Vorgesetzten wenden würden. Prügel, willkürliche Verhaftungen, Erniedrigung der ›Zugeführten‹ waren allerdings DDR-weit an der Tagesordnung.

Der Volksaufstand zwischen dem 9. und dem 16. Oktober 1989 in Leipzig

Allgemein wird der 9. Oktober als der Tag des Durchbruchs der bis dahin alles andere als friedlich abgelaufenen Ereignisse betrachtet. Das ist so richtig wie etwas zu euphorisch. Erst zwischen dem 9. und dem 16. Oktober entschied sich das Schicksal der ostdeutschen Freiheitsbewegung. Am 9. Oktober geboten mehr als 70 000 Menschen, nicht vermummt oder freiheitlich-verwöhnt Steine werfend, dem SED-Staat Einhalt. Dessen Lähmung hielt aber nicht an. Die SED setzte alles auf eine Karte, auf den kommenden Montag, den 16. Oktober und lockte mit dem vergifteten ›Dialog-Angebot‹. Wären diese 70 000 nicht wiedergekommen, hätte der Apparat brutal zugeschlagen. Leipzig war am 16. Oktober 1989 eine eingeschlossene Stadt, die auch von Fallschirmjägern ›gesichert‹ war. Statt der von der SED erhofften weniger als 70 000 kamen jedoch mehr als 120 000 Menschen in Leipzig zusammen. Die SED traute sich nicht zuzuschlagen. Auf die Betriebskampfgruppen war auch kein Verlass mehr.

Überall wurde demonstriert – nach fast überall wurde geflohen

Die Montagsdemonstrationen breiteten sich über die gesamte DDR aus. Viele Menschen fuhren montags nach Leipzig, um dort die Zahlen nach oben zu treiben und demonstrierten an anderen Wochentagen in ihren Heimatregionen. In Plauen wurde beispielsweise samstags demonstriert. Die Schlagzahl wurde von Leipzig seit dem 4. September 1989 gewissermaßen vorgegeben, auch weil Leipzig im besonderen Medieninteresse stand. Der Einfallsreichtum, die Intelligenz und Kreativität der Demonstranten anderen Ortes stand dem der Leipziger in nichts nach. Die Bevölkerung erwachte und erhob sich aus gebückter Haltung. Die SED konnte nur noch reagieren und versuchte durch die bereits genannten ›Dialoge‹, die Bevölkerung von der Straße zu holen. Das gelang in keinem Fall.

Honecker tritt ab, Krenz formuliert ›Die Wende‹

Am 18.Oktober 1989 wurde Honecker zurückgetreten. Krenz verkündete die ›Wende‹ und meinte damit, die DDR würde mit der SED-Stasi-Herrschaft letztlich erhalten bleiben. Damit lag er nicht auf der Höhe der Zeit. Wenige Wochen später war ›Wende-Krenz‹ abgewendet. Sein falsches Wort aber hat ihn leider überlebt. Sicher auch, weil ›Friedliche Revolution‹ zwar richtig, aber sperrig in der Formulierung ist. Ich würde lieber von einem gelungen ›Volksaufstand‹ sprechen. Bisher bekamen nur misslungene Volkserhebungen das Attribut Volksaufstand angeheftet.

Parteien gründeten sich, die Blockflöten wurden munter

Jetzt beginnt die aufregende Zeit der Parteigründungen. Demokratie Jetzt, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch (DA), Grüne Partei, Bund Freier Demokraten u.v.m. Die SDP gründete sich als der direkteste Angriff auf die SED am Republik-Geburtstag am 7. Oktober 1989 (Aufruf zur Gründung einer Initiativgruppe am 24. Juli 1989). Wieso die SDP als direktester Angriff? Weil es mit uns ans Eingemachte ging. Die Mär von der Einheitspartei von Kommunisten und Sozialdemokraten wurde durch uns endgültig zerstört. Was wir damals nicht wussten, war, dass es Träume im Westen gab, in denen sich die SED zu einer sozialdemokratischen Partei mausern sollte. Wir enttäuschten den Pro-SED-Flügel in der SPD. Was für das Beitrittsjahr noch gewaltige Bedeutung erlangen sollte.

Der Mauerfall

Nur vor dem Hintergrund des grundlegenden Irrtums der SED über die tatsächlichen Sympathien für ihre DDR innerhalb der Bevölkerung lässt sich der Mauerdurchbruch vom 9. November 1989 erklären. Die Neusozialisten hatten die Hoffnung, die Meckerer würden sie los und ›Der Doofe Rest‹ (DDR) würde bleiben und nun den ›richtigen‹ Sozialismus richtig aufbauen.

Dritter Weg oder Deutsche Einheit

Wie ich schon andeutete, von nun an ging es der SED besonders darum, ihre eigenen Leute mit neuer Hoffnung hinter sich zu scharen und in der restlichen Bevölkerung neue Sympathien für die DDR zu entfachen. Die Chimäre hieß ›Dritter Weg‹. Den gab es aber schon: Es war die Bundesrepublik mit ihrer Sozialen Marktwirtschaft! Die Ostdeutschen wollten auch keine Versuchskaninchen mehr sein.

Die Montagsdemonstrationen mussten machtvoll weitergehen

Das Streben der SED war nach dem Mauerfall immer stärker darauf gerichtet, diese riesigen Demonstrationen einzuschläfern. Ein Mittel hierzu waren Diffamierungsversuche, wonach die Demonstrationen faschistische Tendenzen hätten und deshalb niemand mehr hingehen solle. Wir mussten damals alles daransetzen, die Demonstrationen zu perpetuieren. Bis zur Volkskammerwahl. Gelingen konnte dies nur, wenn wir weiterhin Kundgebungen anboten und unsere Politik formulierten bzw. vorstellten. Ohne Kundgebungen wären die Menschen nicht mehr gekommen, und ohne den Druck der Straße hätte die SED wieder gemacht, was sie wollte.

Die Deutschlandpläne von SPD und CDU

Am 28. November 1989 schlug Hans-Jochen Vogel in der Haushaltsdebatte eine Konföderation mit der DDR vor. Helmut Kohl antwortete mit seinem 10-Punkte-Plan zur Neuregelung der Vereinigung Deutschlands und Europas. Die SPD stimmte sofort zu. Das war sehr wichtig. Kurz vorher wollte Lafontaine den Ostdeutschen noch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen und maßregelte Norbert Gansel, der den ›Wandel durch Annäherung‹ durch einen ›Wandel durch Abstand zur SED‹ ersetzen wollte.

An dieser Stelle muss die Rolle von George Bush sen. hervorgehoben werden. Er war es, der Gorbatschow jeglichen Gesichtsverlust ersparte. In seiner Administration wurde streng darauf geachtet, auf Jubel und Selbstbeweihräucherung zu verzichten. Das mag heute lächerlich klingen, doch es sind Menschen, die handeln, und wenn sie in den eigenen Reihen gegen erhebliche Widerstände angehen müssen, dann ist Häme von außen alles andere als hilfreich.

Volkskammerwahl

Am 18. März 1990 konnten die Ostdeutschen das erste Mal frei wählen. Sie taten dies souverän. Das Ergebnis war eindeutig. Die Parteien, die sich für die Deutsche Einheit aussprachen, bekamen mit 75,2 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent einen eindeutigen Auftrag. Der Beitritt war nur mit verfassungsgebender Mehrheit möglich. Lothar de Maiziere bat deshalb die SPD um Eintritt in eine große Koalition. So machten wir es dann auch.

Beitrittsbeschluss

So leicht, wie sich das heute mit dem Beitrittsbeschluss lesen lässt, war das überhaupt nicht. Die DDR war zu dem Zeitpunkt bereits ein Rechtsstaat, der nur mit einer Zweidrittelmehrheit in der Volkskammer den Beitritt zur Bundesrepublik realisieren konnte. Nicht auszudenken, die SDP hätte nach dem 9. Oktober 1989 alle SED-Mitglieder aufgenommen. Die SPD-Volkskammerfraktion wäre eine SED-Fraktion geworden. Überall in der SDP hätten sich ehemalige SED-Mitglieder mit ihrer Skepsis gegen die Bundesrepublik und ihrem Antiamerikanismus durchgesetzt, schon rein mengenmäßig.

Ich bin absolut sicher, hätte die SDP den viel kritisierten Aufnahmestopp für ehemalige SED-Mitglieder nicht beschlossen, am 23. August 1990 hätte es keine DDR-SPD-Fraktion gegeben, die dem Beitritt zugestimmt hätte. Der Beitritt wäre ohne die SPD der DDR nicht beschlossen worden. Für die Moskauer Zentrale wäre dies auf jeden Fall ein Zeichen gewesen, die DDR nicht aus ihren Fängen zu lassen.

Der Putsch in Moskau

Das Zeitfenster für die Deutsche Einheit war knapp bemessen. Wie knapp, das zeigte sich schon neun Monate später. Am 19. August 1991 wurde in Moskau geputscht. Wäre dieser Putsch geglückt und es hätte die DDR noch gegeben, aus dem Traum von der Einheit wäre nichts mehr geworden. Die DDR wäre in die Diktatur rückabgewickelt worden und die sowjetischen Truppen wären in Deutschland geblieben. Die Stasi hätte wie nie zuvor gewütet. Viele Menschen wären in die Lager gekommen, die 1989 längst vorbereitet waren.

Der Einigungsprozess ohne Blaupause

Für die Deutsche Einheit gab es keine Vorlage. Und das Wissen, das vorhanden war, wurde leider nicht abgefragt. Nicht das Innerdeutsche Ministerium wurde federführend, sondern das Innenministerium. Damit blieb viel Wissen auf der Strecke.

Insgesamt ist die Deutsche Einheit allerdings gelungen. Wer mit offenen Augen durch die Republik reist, kann gar nicht anders, als dieses festzustellen. Obwohl wir gerade in diesen Tagen innereuropäisch oft zu Recht unter Kritik stehen, bleibt die Feststellung: Wir sind friedlich zu einem sehr gewichtigen Partner unserer Freunde geworden.

Die EU- und die NATO-Osterweiterung

Der Begriff wirkt irreführend aktiv! Es war der Wunsch der Mittel-Osteuropäer, am EU-Binnenmarkt teilzunehmen zu können und sich in der NATO vor Russlands immer wiederkehrendem Appetit auf Territorien und Menschen zu schützen. Ich habe das jeden Augenblick verstanden. Ging es mir doch 1989 / 1990 selbst um diese Sicherheit vor Moskau. Pole oder Balte möchte ich aktuell nicht sein. Sie hatten das alles wundervoll angestoßen und hoffen jetzt, dass sich Deutsche und Russen nicht noch einmal zu ihren Lasten verständigen.

Gorbatschow wurde 1990 zugesichert, dass es keine NATO-Truppen auf ostdeutschem Gebiet geben wird. Das wird bis heute eingehalten. In Ostdeutschland gibt es keine NATO-Stützpunkte.

Was 1990 nicht vorhersehbar war, dass der Warschauer Pakt verschwindet und die Sowjetunion aufhören würde zu existieren. Es gab kein Versprechen an die Sowjetunion, keine ehemaligen Ostblockstaaten in die NATO aufzunehmen. Die waren nämlich alle noch im Warschauer Pakt. Bis 1991.

Und der jetzige Status Quo? Selbstverständlich darf es bei dem jetzigen Misstrauen nicht bleiben! Wir brauchen gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Russland. Das aber nicht zu Lasten unserer direkten Nachbarn. Bei aller Wertschätzung der militärischen Supermacht Russland, die Telefone nach Warschau, Tallinn, Vilnius, Riga, Bratislava, Budapest, Bukarest, Sofia stehen nicht mehr in Moskau.

So wie es Gorbatschow mit seiner Idee des gemeinsamen ›Hauses Europa‹ meinte. Die legitimen Interessen aller müssen geachtet werden. Das muss uns wieder gelingen. Mit Amerikanern, Russen und den EU-Mitgliedern. Lassen Sie uns in diesem Sinne wirken!

1989/90 – 2020 – ein Blick

Ich danke noch immer dem Glück, welches mich 1989/90 an Freiheit, Demokratie und Deutscher Einheit hat mitwirken lassen!

Doch wie steht es mit unseren Wünschen von damals in Bezug auf deren Solidität heute? Das Demonstrationsrecht erkämpften wir gegen die hochgerüstete Staatsmacht 1989 zuerst. Das gelang auch, weil Michail Gorbatschow den deutschen Kommunisten in Ostberlin seine Schützenhilfe gegen die Bevölkerung verwehrte und die SED-Führung inklusive ihres Offizierskorps in Armee und Polizei Angst hatte, dass sich die Waffen der Soldaten und Polizisten gegen sie selbst und nicht gegen das Volk richten würden.

Das Demonstrationsrecht ist seiner Natur nach unpolitisch und gehört keiner einzelnen Gruppe, Partei oder Regierung. Der parteipolitisch unabhängige und wehrhafte Staat schützt den Rechtsrahmen des Grundgesetzes und damit die offene plurale Gesellschaft. Soweit zum Ziel der meisten 89er Demonstranten mittelosteuropaweit.

Wir wollten das Demonstrationsrecht für alle in einer weltanschaulich neutralen Republik im Rahmen von freien Wahlen, Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive, Judikative, unabhängige Medien, die darauf achtet, dass Verfassungsfeinde nicht den Staat okkupieren können. Wer Verfassungsfeind ist, stellt dabei nicht die politische Konkurrenz fest. Das ist allein Sache des Bundesverfassungsgerichts. Soweit die Theorie seit 1848 und 1989. Wie steht es um die Praxis des Jahres 2020? Das Demonstrationsrecht ist seitens des Staates sicher. Das merken die rechten und linken Ränder der Gesellschaft immer wieder – deren Demonstrationen werden polizeilich geschützt.

Demonstrationsrecht und Meinungsfreiheit stehen jedoch von anderer Seite unter gewaltigem Druck. Unter der spalterischen Parole ›Kampf gegen rechts‹ unterliegt inzwischen jede auch nur in Details von der Regierungslinie abweichenden Meinung dem offiziösen Verdikt ›Rechts‹, ›Nazi‹, ›Verschwörer‹, ›Skeptiker‹ und ganz neu: ›Rassist‹. Obwohl die Bundesregierung parteipolitisch neutral sein muss, Innenminister Seehofer wurde dies beispielgebend vom Bundesverfassungsgericht im Juni eindringlich ins ministerielle Stammbuch geschrieben, fördert sie unverhältnismäßig Aktivisten und Vereine/Antifa/NGOs, die das politische Leben der Res Publika mit einer Linksaußenbrille beurteilen.

Statt den Extremen aller Seiten, den rechten, den linken, den islamistischen beherzt entgegenzutreten, verlor diese Bundesregierung den Kompass der ausgleichenden Mitte und brachte die Bundesrepublik in die schwierigste Schieflage seit Bestehen.

Politisch äußert seine Meinung nur noch öffentlich, wer auf Regierungs- und Antifa-Linie lustwandelt. Nachfragend oder kritisch äußert sich inzwischen nur noch, wer mutig und/oder unabhängig ist oder wer nichts zu verlieren hat. Große Teile der Bevölkerung sind längst auf dem Weg in die private Nische und gehen der Republik verloren. Das können sich Diktaturen vermeintlich leisten, Demokratien gefährden sich damit selbst.

Die Öffentlich-Rechtlichen Medien haben eine traurige Genese zum Staats- und Regierungsfunk hinter sich. Der Glanz von ARD und ZDF ist perdu. Für immer?

Auch vielen privaten Medien ist das so hinter den Spiegel zu stecken. Die ›Vierte Gewalt‹ wurde zum Transmissionsriemen der Kabinette Merkel I-IV. Inzwischen werden sie zum Teil staatlich bezuschusst. Aus unabhängigen, der objektiven Berichterstattung verpflichteten, Medien wurden abhängige, einseitige, die Pluralität verheimlichende Organe. Kehren wir um!

Meinten die meisten 89er Demonstranten im Sinne Voltaires, jede Meinung, sei sie noch so ärgerlich, muss geäußert werden dürfen, so ist 2020 festzustellen, das Behindern nicht verbotener Demonstrationen wird geduldet und das Äußern eigener, vom Regierungskurs abweichender Meinungen führt zwar (noch) nicht ins Gefängnis oder ins Lager, die Existenz kann es aber kosten. Eine offene Gesellschaft, die nicht atmen kann, führt sich ad absurdum.

Unsere Freiheit folgte 1989 dem gerade gewonnen Demonstrationsrecht auf dem Fuß. Abgesichert hatten wir die Freiheit in einem ersten Schritt mit der ersten und letzten freien Volkskammerwahl. Seit dem 18. März 1990 besaß die DDR-Bevölkerung erstmals ein Parlament und eine Regierung, die aus freien Wahlen hervorging. 2020 besitzen wir diese Freiheit noch immer. Werden wir sie nach einem ökologischen Umbau weiterhin besitzen?

›Freie Wahlen!‹ war eine Hauptforderung 1989. Wir setzten diese Forderung durch und wählen seitdem regelmäßig die Parlamente der verschiedenen Ebenen. 2020 ist zu konstatieren: Im Lande gibt es Bestrebungen, das Wahlrecht zu deformieren. Die große Zahl der Überhangmandate führt zu abstrusen Überlegungen, die Erststimmen (Direktmandate) zu Lasten der Zweitstimmen zu kürzen – also den Proporz zwischen direkter Demokratie (Direktmandat) und Parteiendemokratie (Parteilistenplatz) zugunsten der Parteilinien zu verzerren. Käme es dahin, verkäme die Bundesrepublik zu einer stärkeren Beute von Parteien. Kreativität, Mut, Entschlossenheit würden unter Kandidaten und Abgeordneten in die Nische der Existenzsicherung entfleuchen. Die Bundesrepublik würde eine andere, unsympathischere.

Sehr geehrte Damen und Herren, 1989 kam mit ›Freie Wahlen jetzt!‹ eine zentrale Forderung von ›unten‹. 2020 mehren sich von ›oben‹ Forderungen nach Wahlwiederholungen. Im Februar d. J. wurde der Freidemokrat und Katholik Thomas Kemmerich in geheimer Wahl zum Minderheits-Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt. Sein Regierungsangebot hatte er an CDU, SPD und Grüne gerichtet. 1989/90 hätte diese Wahl Bestand gehabt. Die Ostdeutschen wollten nach Jahrzehnten von Diktatur und Einheitsliste frei wählen und die Ergebnisse akzeptieren.

Was hat sich in den vergangenen dreißig Jahren so dramatisch verändert, dass es einer faktischen Obrigkeit möglich ist, Wahlen und Wahlergebnisse nach politischer Wetterlage gebrauchen oder missbrauchen zu können? Drei Jahrzehnte war es – gut begründet – nicht möglich, der Regierungslinie unangenehme Wahlergebnisse rückgängig zu machen. Kritiker von SED-PDS/Linke-Kooperationen kämpften zwar gegen solche Bündnisse an, akzeptierten diese letztlich jedoch immer und immer wieder. Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung vor dem Föderalismus im Staat und in den Parteien.

2020 maßte sich die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, eine ehedem Ostdeutsche, die Forderung nach Rückgängigmachung der juristisch einwandfreien Wahl des FDP-Ministerpräsidenten Kemmerich an. Zentralstaat schlug Föderalstaat. Ein Dammbruch. Ich bin erschüttert und komme zurück zu 1989.

Ich sage es so, der Weg vom ›Freie Wahlen jetzt!‹ zum ›Wählen lassen, bis es passt‹ ist ein Weg zu 1984, Die Farm der Tiere, Fahrenheit 451 oder Der vormundschaftliche Staat. Halten wir inne! Besinnen wir uns! Geben wir der Meinungs-, Wissenschaftsfreiheit und dem Demonstrationsrecht wieder den Platz, den sie noch vor wenigen Jahren einnahmen und diese Republik zum Besten machten, was es je innerhalb deutscher Staatsgrenzen gab.

Stichwort Wissenschaftsfreiheit: These und Antithese, das Hinterfragen scheinbar fester Positionen, scheinbar unwiderlegbarer Erkenntnisse gehört seit der Aufklärung zum Besteck seriöser Wissenschaft. Dieses Besteck verlor in den letzten beiden Jahrzehnte in Deutschland, aber auch weltweit an Bedeutung. Aus einer Wissenschaft, die sich im kreativen Diskurs von These und Antithese immer weiter entwickelte, wurde ein Wissenschaftsbetrieb, der von der öffentlich-politisch geförderten Thesenbestätigung zu Lasten der kritischen Nachfrage lebt. Wir ersticken die Wissenschaft und damit unsere Weiterentwicklung. Geben wir der Wissenschaft ihre Freiheit zurück!

Ich bin meinem Schicksal dankbar, in einer Zeit politisch wirksam gewesen sein zu können, die zu den glücklichen Momenten der deutschen und europäischen Geschichte gehört. Ohne unsere mittelosteuropäischen Nachbarn und Freunde, herausragend an dieser Stelle seien Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei und Michail Gorbatschow mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika genannt, hätten wir diese glückliche Zeit mit ihren wunderbaren europäischen Folgen nicht erleben können.

Unbedingt sei auch der US-amerikanische Präsident George Bush sen. gewürdigt. Seine kluge und auf Gorbatschows Stellung innerhalb der sowjetischen Führung bedachte Politik gab uns Deutschen die Chance, die historisch kurzzeitig geöffnete Tür zu Freiheit und Sicherheit in der Einheit souverän mit dem ›Zwei-Plus-Vier-Vertrag‹ zu durchschreiten. Mit Fünfundvierzig Jahren Verspätung und der Überwindung einer weiteren Diktatur bekamen die Deutschen und ihre Nachbarn damit endlich ihren Friedensvertrag.

Ich danke posthum Willy Brandt für dessen ›Neue Ostpolitik‹, Helmut Schmidt, Ronald Reagan, Helmut Kohl für die Idee und das Umsetzen der ›Doppelten Nulllösung/NATO-Doppelbeschluß‹! Ohne die Vertrauens- und Gleichgewichtspolitik und deren Ergebnissen würden auch die ›Leipziger Friedensgebete‹ noch immer unter den Bedingungen kommunistischer Unfreiheit organisiert werden müssen.

Ich danke den Ostdeutschen, die unter Androhung der Todesstrafe als Deutsche von Deutschland nach Deutschland flüchteten. Sie führten unter Lebensgefahr den Unrechtsstaat DDR aller Welt vor Augen und zerstörten dessen unmoralische Grundlagen ebenso wie die Oppositionellen der 50er, 60er, 70er und 80er Jahre. Der Erfolg von 1989 hatte viele Mütter und Väter. Die Flüchtlinge und politischen Gefangenen der Diktatur des Proletariats gehören untrennbar dazu. Ich danke den Westdeutschen, die immer am Einheitsgedanken des Grundgesetzes festhielten und uns willkommen hießen.

Sozialdemokrat bin ich wieder ohne Parteibuch. Mein Ideal ist eine Sozialdemokratie, deren vornehme Aufgabe die Interessenvertretung von Facharbeitern, Technikern, Ingenieuren, Wissenschaftlern, willentlich aufstrebenden Menschen ist, die die von der Kehrseite des Erfolgs betroffenen Mitbürger nicht aus dem Auge verlieren. Ohne den starken Wirtschafts-, Energie- und Wissenschaftsstandort Deutschland ist das nicht zu haben. Meine vormalige Partei verließ diesen Kurs irreversibel. Das hat die Bundesrepublik Deutschland nicht verdient!

Ich bin gern Deutscher, Europäer und Transatlantiker in einer offenen Gesellschaft. Halten wir alle diese Republik offen!

Nachtrag vom 1.10.2020

Wolfgang Kubicki in Steingarts Morning Briefing:

»70 Prozent der Deutschen glauben, sie können ihre Meinung nicht mehr frei äußern. 40 Prozent glauben sogar, dass sie berufliche Nachteile erleiden, wenn sie sich gegen das Gendersternchen aussprechen. Das ist ein besorgniserregendes Zeichen für eine Demokratie.«

(Rede vor dem Bundeswehr Kampfhubschrauberregiment Fritzlar am 2. 10. 2020)