von Markus C. Kerber
Zum Zorn über die Unterlassungen im Zusammenhang mit dem seit 2015 kaschiert insolventen Finanzdienstleister Wirecard gesellt sich das Unverständnis darüber, dass besagtes, mittlerweile insolvent gemeldetes Unternehmen immer noch zum DAX, also jenem deutschen Börsenindex, der für höchste Bonität und größte Sicherheit gegenüber Anlegern in Aktien bürgt, gehört. Ein spätkarnevalistischer Scherz?
Spät, viel zu spät regt sich nun die Politik. Die Vorsitzende des Finanzausschusses im Deutschen Bundestag will wissen, wann, wer, was wusste und warum nicht früher gehandelt wurde. Dass im Falle Wirecard zuvörderst die zuständige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young zu Selbstzweifeln ob ihrer Prüfungsmethode Anlass hat, ist so offenkundig, dass man sich fragt, warum über die Haftung von Wirtschaftsprüfern für erkennbar falsche Testate erst heute diskutiert wird. Indessen geht die organisierte Verantwortungslosigkeit und die organisierte gegenseitige Schuldzuweisung bislang weiter.
Der Finanzminister, der bereits seit Anfang des Jahres 2019 schriftlich über Zweifel an der Korrektheit der Jahresabschlüsse von Wirecard informiert worden war, versucht die Flucht nach vorn und verspricht eine bessere Ausstattung jener BaFin, also der Finanzaufsicht, die sich auf die Position zurückzieht, sie hätte nur die Wirecard Bank prüfen müssen, während alle anderen Unternehmen der Gruppe nicht unter ihre Aufsicht fielen. Vergessen wird in der Medienberichterstattung, dass die EZB seit 2014 die gesamte Bankenaufsicht an sich gezogen hat und auch bei normalen Finanzdienstleistungen meint, mehr als nur ein Wörtchen mitreden zu dürfen. Aber bei Wirecard scheint sie in Tiefschlaf gefallen zu sein. Der federführende Staatssekretär im Finanzministerium, Jörg Kukies, aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit für Goldmann Sachs mit reichlich Anschauung in der Finanzbranche ausgestattet, ist derweil dabei, den Feuerwehrhelfer für seinen Minister zu spielen und erklärt an allen Fronten, warum der potentielle Kanzlerkandidat Scholz vollständig saubere Hände habe. Doch darum geht es gar nicht.
Mittlerweile geht es auch nicht mehr um die Frage, ob die Aufsicht und damit Ministerium und BaFin versagt haben. Dieses Versagen ist so offenkundig, dass niemand es bestreiten kann. Die Frage ist vielmehr, wieso das deutsche Establishment sich mit solchen Entschuldigungen aus der Verantwortung drückt oder in Scheingefechten versucht, die Interpretationsgewalt an sich zu ziehen. Da gibt es beispielsweise die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Anlageberatung. Ihr Kernanliegen müsste es sein, Anleger gerade vor solchen desaströsen Wertverlusten zu schützen und nunmehr schnörkellos aufzuarbeiten, wie es zum Wirecard-Skandal hat kommen können. Der in der Presse präsente Vorsitzende der DVFA, Stefan Bielmeier, seines Zeichens Chefvolkswirt einer großen Bankgruppe, findet stets Zeit, um der Öffentlichkeit in FAZ-Kolumnen zu erklären, wie die EZB mit einem Federstrich den Anforderungen des Urteils des BVerfG vom 5.5.2020 genügen könne. Er ist extrem empfänglich für Anrufe aus der EZB, damit seine DVFA-Kommission die Geldpolitik der EZB nicht zu sehr aufs Korn nimmt. In diesem größten Skandal für deutsche Anleger schweigt Bielmeier beharrlich und lässt dem Leiter der Kommission Unternehmensanalyse, Herrn Christoph Schlienkamp, den Vortritt bei der Abgabe von Kommentaren. Wie Recht dieser Herr Schlienkamp da hat. In der Tat hätte man die Entwicklung bei Wirecard früher erkennen können und müsste die DVFA im Interesse des Anlegerschutzes nunmehr ganz anders auftreten. Jedoch weit gefehlt. Bielmeiers DVFA kuscht.
Anders agiert das Mitglied des Bundestages, Frank Schäffler. Er erregt sich öffentlich über die Fehlleistungen der BaFin und versucht, gegebenenfalls hierdurch vergessen zu machen, dass er – neben anderen wichtigen Mitgliedern des Deutschen Bundestages – seit Jahren im Verwaltungsrat der BaFin sitzt. Es hätte ihm seit seiner Wiederwahl in den Bundestag 2017 freigestanden, innerhalb der BaFin und gerade aufgrund seiner Funktion als Abgeordneter den durch gut recherchierte Artikel einer englischen Zeitung öffentlich belegten Zweifeln an der Wahrheitsgemäßheit der Jahresabschlüsse von Wirecard nachzugehen. Nichts von dem ist geschehen.
Der Präsident der BaFin, Herr Hufeld, ist gewiss ein integrer und ehrlicher Mann. Seine Empörung über den Wirecard-Skandal war ebenso ehrlich. Doch fügt sich die amtliche Empörung in die politische Landschaft institutionellen Verfalls. Politik, Aufsicht aber auch der Berufsverband DVFA üben sich in Apologetik statt jene unangenehmen Fragen aufzuarbeiten, deren Beantwortung die Anleger als Betrogene erwarten dürfen. Man sägt nicht gern an dem Stuhl, auf dem man sitzt. Und zwar seit jeher fest und bequem.