von Ulrich Schödlbauer
Ilias, 21. Gesang
Parole auf der Berliner Großdemonstration vom 1. August 2020
Es fällt nicht schwer, der Republik einen unruhigen Herbst vorauszusagen.
Es gibt Menschen, die glauben zu wissen: Corona ist eine unglaubliche Bedrohung für die Welt. In diesem ›unglaublich‹ steckt ein gewisses Drohpotential – sowohl gegen diejenigen, welche die Bedrohung für real, als auch für jene, die sie für irreal halten. Was, wenn sich beide irren? Nicht möglich, sagt die Logik. Doch auch die Logik muss bei unsachgemäßer Verwendung weichen. Wer behauptet das? Die Logik, Dummerchen.
Daher möchte man am liebsten von jedem, der sagt oder schreibt, Corona sei … ach Sie wissen schon –, wissen, wie genau er das meint: Corona sei (a) eine Bedrohung für Individuen, die daran wie an zig anderen Krankheiten erkranken können, (b) eine Bedrohung, nach Maßgabe des pandemischen Geschehens, für die Weltgesellschaft im Ganzen, (c) eine Bedrohung für die Bürgergesellschaft, wo immer auf der Welt sie existiert, soweit sie aus (oder mit) medizinischen Gründen zum Verzicht auf elementare Grundrechte genötigt wird.
Nein, ich gedenke diese Punkte hier nicht zu diskutieren, sie wurden und werden an vielerlei Orten diskutiert, man muss nur nachlesen wollen. Doch es bleibt dabei: Erst wenn diese Frage geklärt ist, kann man rational über politische Vorgänge reden. Dann aber, ja dann müssen auch die Karten, sprich: Kenntnisstände aller Seiten auf den Tisch und gegeneinander abgeglichen werden. Bevor das geschieht, bleibt jene Bedrohungsrede Angstrede und damit befangen in einem Genre, gegen dessen allzu ausgiebige Handhabung Leute, wie man sie gestern in großer Zahl in Berlin zu sehen bekam, aufzubegehren scheinen.
Niemand kann wissen, ob die Berliner Demonstranten die Mehrheitsgesellschaft abbilden. Das zuzugeben fällt schwer, besonders wenn einer das Anliegen teilt, das ihm hinter der ›Querdenken‹-Bewegung zu stehen scheint. Mehrheiten müssen politisch errungen werden. Festgehalten zu werden verdient jedoch die Wahrnehmung, dass die überwältigende Mehrheit der Demonstranten nach Alter, Geschlecht, bekundeter Meinung und – aggressionsfreiem – Verhalten zum Spektrum der ›ganz normalen Leute‹ gerechnet werden durfte: einer Spezies also, von der man demnach ohne großes Risiko behaupten darf, sie sei müde der Diskrepanz zwischen politisch-medialer Panikmache und den allmählich in die Köpfe einsickernden Informationen über das Virus samt Test- und Auswertungspraxen, entsprechend missvergnügt über die offensichtliche Irrationalität der getroffenen Maßnahmen und die damit einhergehenden Einbußen an Lebensqualität und ökonomischer Prosperität. Es sind dies Leute, die von Angstschürern für dumm verkauft werden und nicht länger für dumm verkauft werden wollen. Wer das neue Buch des Mikrobiologen Bhakdi in den Händen dieser Leute gesehen hat, der ahnt, dass hier eine neue Volksbibel umläuft, deren Leser darauf bestehen werden, in einer naturwissenschaftlich informierten und faktenbasiert entscheidenden Republik zu leben und nicht in einem angstflatternden Hühnerstall, in dem Vokabeln wie ›Covidioten‹ und ›Coronaleugner‹ den Ton vorgeben und, allen Aufklärungsseiten im Netz zum Trotz, aufgewirbelter Schmutz an die Stelle von Argumenten getreten ist.
Wer immer diese Menge auf die Beine gebracht hat, trägt eine große Verantwortung: nicht nur gegenüber Polizei und Justiz, nicht nur für sich, nicht nur für die ›Botschaft‹, sondern für das Land selbst.
Denn es ist sicher: Wer so oder so ähnlich über die Regierenden denkt wie vermutlich die Masse der Demonstranten, der wird sich, einmal der eigenen Stärke bewusst, kaum mit dem vordergründig kommunizierten Ziel zufriedengeben, die aktuellen Corona-Maßnahmen vom Tisch zu nehmen. Vermutlich hat er nicht einmal etwas gegen Maßnahmen an sich – nur adäquat und verhältnismäßig sollen sie sein. Zu Seltsames ist seit Ausbruch der Pandemie geschehen, zu viele Ungereimtheiten haben das Licht der Öffentlichkeit erblickt und werden in den alternativ genannten Medien bis an die Grenze des Erträglichen durchgehechelt, zu vieles an unausgeräumten, durch prominente Äußerungen genährten Verdächten steht mittlerweile im Raum, um von Parteischützen und Medien fortdiffamiert zu werden. Die nach Berlin gereiste Durchschnitts-Demonstrantin, falls es dergleichen geben sollte, hat offenbar eine gewisse Vorstellung davon, wie in diesem Land regiert wird, und sie findet: nicht gut.
Da schießen dann viele Anliegen zusammen. Bald könnte sich zeigen: Das Thema ›SARS-CoV-2‹ hat das Zeug dazu, die verheerende Links-Rechts-Polarisierung von Politik und Gesellschaft im Dienst einer nicht mehr so großen Koalition und einer nicht mehr so erfolgreichen Kanzlerin zu überspringen und, auf mittlere Sicht, zu depotenzieren. Die in der Regierungsverantwortung stehenden Parteien dürften also, dessen kann man sicher sein, Gefahr wittern und fürs erste mit dem üblichen Mix aus entdifferenzierender Propaganda und administrativer Hartleibigkeit reagieren. Aber schon die Grünen werden sich überlegen müssen, ob sie als brave Hygiene-Partei einen Teil ihrer Klientel drangeben wollen, ohne dafür angemessen entschädigt zu werden. Ob die Liberalen noch einmal festen Boden unter die Füße bekommen, weiß zur Stunde kein Mensch. Bloß fliegen … es ist kein Verlass aufs Fliegen, in ökologischer und politischer Hinsicht nicht und schon gar nicht im Hinblick auf die Ergebnisse der nachbereitenden Studien, an denen, dessen sei man sich sicher, kein Mangel herrschen wird. Eigentlich wäre es nicht schlecht, sich vor dem nächsten Talk zur Abwechslung auch einmal in der Sache kundig zu machen. Überhaupt wäre es nicht das Schlechteste, wenn in den Parteien gegenwärtig die Köpfe rauchten.
Es fällt nicht schwer, der Republik einen unruhigen Herbst vorauszusagen.