von Eckhard Stratmann-Mertens

Ende Juni 2020 präsentierten die Bundesvorsitzenden der Grünen den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms der Partei. Darin werden in neun Kapiteln und 383 Paragrafen grüne Leitlinien zur Gestaltung der Zukunft Deutschlands skizziert. »Dieser Entwurf ist die Antwort auf das überholte Konzept der Volksparteien. Es definiert uns als moderne Bündnispartei mit dem Anspruch auf Mehrheitsfähigkeit für die gesamte Gesellschaft.«, betonte der politische Geschäftsführer Michael Kellner. Dieses Diktum bringt auch zum Ausdruck, dass sich die Grünen nicht nur vom Konzept der Volkspartei verabschieden wollen, sondern auch von dem Begriff des Volkes, zumal in seiner ethnischen Bedeutung als historische Herkunfts-, Schicksals- und Kulturgemeinschaft. An seine Stelle tritt durchgängig durch den gesamten Programmentwurf das Konstrukt der Gesellschaft mit zahlreichen Adjektiven. Unter diesem Aspekt lohnt sich ein genauerer Blick in den Entwurf.

Es überrascht nicht, dass sich der Entwurf für eine »vielfältige Einwanderungsgesellschaft« (§182) ausspricht. Dazu wird ein Einwanderungsgesetz und ein »modernes Staatsbürgerschaftsrecht« gefordert: »Menschen, die hier leben, sollen schnell den Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten bekommen.« (§377) Dazu gehören die erleichterte und beschleunigte Einbürgerung, die Ermöglichung von doppelter Staatsangehörigkeit und die Ausweitung des Geburtsrechts (ius soli). (§183) Das Plädoyer für mehr Einwanderung wird ergänzt durch die propagierte Förderung der Fluchtmigration, wie es in dem Lob für den sehr umstrittenen »Globalen Pakt der UN für Migration« zum Ausdruck kommt. (§376)

Dass sich mit all diesem die ethnische Zusammensetzung der »deutschen Gesellschaft« (§184) von Jahr zu Jahr mehr in Richtung von ethnisch-kulturell Fremden verschiebt, ist dem Führungspersonal der Grünen nicht nur bewusst, es ist so gewollt. So heißt es in §176: »Unser Leitbild ist das einer lebendigen, durchmischten und offenen Stadt der kurzen Wege: Dort leben Junge und Alte sowie Menschen verschiedener Herkunft gern in ihren Wohnvierteln«. Dieser sozialromantische Blick verkennt die von Jahr zu Jahr zunehmende Segregation von Straßenzügen bis hin zu ganzen Stadtvierteln in allen Groß- und Mittelstädten Deutschlands. Übrigens eine zweiseitige Segregation mit der Ausbildung von sozial-ethnischen Parallelgesellschaften: hier gutsituierte und infrastrukturell bestens ausgestattete Viertel der gehobenen, vor allem einheimischen Mittelschicht, dort pauperisierte Stadtviertel mit Mischbevölkerung aus unteren sozialen Schichten und Migrantenanteilen von 50 Prozent bis weit darüber.

Zu der Verschiebung der ethnischen Kräfteverhältnisse äußerte sich schon auf dem Höhepunkt des unkontrollierten Flüchtlingszustroms im Herbst 2015 die damalige und heutige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag Katrin Göring-Eckardt am 20.11.2015 auf dem Bundesparteitag der Grünen: »Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch, ich sag euch eins, ich freu mich drauf, vielleicht auch, weil ich schon mal eine friedliche Revolution erlebt habe. Diese hier könnte die sein, die unser Land besser macht… Diese Veränderung, dieses bessere Land, dieses neue Land, ja das wollen wir, liebe Freundinnen und Freunde, dafür kämpfen wir«. Diese schon fast programmatische Erklärung enthält eine dreifache Botschaft: 1. Der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen und Migranten hat die Wirkung einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung, für unser Land und seine ethnische Zusammensetzung. Dieser Einschätzung ist zuzustimmen. 2. Diese Revolution ist erwünscht. 3. Und warum? Weil sie unser Land besser machen soll. Also: Die massenhaft Zugewanderten, von denen die allermeisten damals und heute dauerhaft in Deutschland bleiben wollen, machen Deutschland besser. Abgesehen von der völligen Blindheit für die nach wie vor ungelösten Integrationsprobleme der meisten Zugewanderten seit 2015 spricht aus diesen Worten einer seit Jahren führenden Person der Grünen eine tiefe Verachtung für das Innovations- und Veränderungspotential der einheimischen Deutschen.

Die grüne Vision einer offenen und vielfältigen Einwanderungsgesellschaft mündet dann im Programmentwurf im Abschnitt »Einheit« in der Konstruktion eines neuen »Wir«: »Offen ist eine Gesellschaft, in der alle Bürger*innen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben« (§161). »In einer pluralistischen Gesellschaft bilden gleichberechtigte Individuen aus vielfältigen Perspektiven ein Bündnis für ein gemeinsames Wir« (§162). »›Wir‹ schließt alle ein, die in unserem Land leben. Wir sind unterschiedlich … Das macht den Reichtum unseres ›Wirs‹ aus.« Absichtsvoll wird hier der Unterschied zwischen allen gleichberechtigten deutschen Staatsbürgern und allen hier lebenden Bürgern nivelliert, als gäbe es kein Wahlrecht, das nur den Staatsbürgern zusteht, und kein differenziertes Ausländerrecht und Asylrecht, das differenzierte soziale Rechte und Bürgerrechte kennt. Es wird fernab von allen kulturellen Unterschieden und Gegensätzen und von emotionalen beidseitigen Vorbehalten von einheimischen Deutschen und hier lebenden Ausländern ein verbindendes Wir postuliert. Dabei kann sich ein Wir-Gefühl, das Gefühl solidarischer Zugehörigkeit, wenn überhaupt nur in längeren und konfliktreichen Zeiträumen entwickeln.

Beispiel Islam: Dem Programmentwurf ist zuzustimmen, wenn er angesichts der Millionen in Deutschland lebender Muslimas und Muslime feststellt: »Der Islam gehört damit selbstverständlich zu Deutschland«; dann befürwortet der Entwurf – scheinbar konsequent – »Staatsverträge mit islamischen Religionsgemeinschaften«. (§187) Umgekehrt gilt: Gerade wenn man den Islam als zu Deutschland gehörig anerkennt, ist eine sehr kritische Auseinandersetzung mit den konservativ-patriarchalischen Islamverbänden, insbesondere der DITIB, und Moscheevereinen geboten. Kein Wort davon im Programmentwurf. Dagegen heißt es an gleicher Stelle: »Antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft.« Den Vorwurf des Rassismus – auch ohne Rassen – handeln sich auch all diejenigen leicht ein, die zwar vor Islamfeindlichkeit warnen, aber gleichzeitig eine fundierte Kritik des real existierenden Islam weltweit und in Deutschland vorlegen wie der niederländische Soziologe Ruud Koopmans mit seinem jüngsten Buch Das verfallene Haus des Islam (2020).

Das gebrochene bzw. Nichtverhältnis des grünen Programmentwurfs zur deutschen Nation zeigt sich auch darin, dass selbst der Nationbegriff vermieden wird, allerdings mit einer Ausnahme, nämlich der Roma und Sinti. Auch hier ist dem Programmentwurf vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er eingedenk des Völkermordes an den Roma und Sinti durch die Nationalsozialisten fordert: »Kultur und Sprache der nationalen Minderheit der Sinti und Roma sind vom Staat zu schützen und zu fördern.« (§188) Aber warum wird nicht an passender Stelle auch von der nationalen Mehrheit der deutschen Staatsbürger und der einheimischen Deutschen gesprochen ? Warum nicht davon, dass auch sie ein Recht hat, ihre Mehrheitskultur zu pflegen und zu schützen vor dem Zurückgedrängt-werden durch die Doktrin und die fortgesetzte Praxis der Einwanderungsgesellschaft?

Eine Antwort darauf gibt Robert Habeck, Vordenker und heute Co-Parteivorsitzender der Grünen. In seinem Buch Patriotismus – Ein linkes Plädoyer (2010) schrieb er: »Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.« Dass man heute ein deutscher Patriot sein kann, ohne emphatisch von der Liebe zu Deutschland erfüllt zu sein, hat schon der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann zum Ausdruck gebracht. In seinem Buch bringt Habeck sein Unbehagen und seinen Unwillen zu Deutschland mehrfach zum Ausdruck: Er will die deutsch dominierte Gesellschaft transformieren in eine multi-ethnische, europäisch ausgerichtete Gesellschaft. Dazu dienen die Doktrin vom Einwanderungsland Deutschland, die vollständige Teilhabe aller Bürger*innen und das Ausländerwahlrecht. Im Kapitel »Wahlrecht für alle?!« fordert er ein kommunales Ausländerwahlrecht für alle, über die EU-Bürger*innen hinaus. »Aber ein Ausländerwahlrecht muss keineswegs bei den Kommunen haltmachen. Letztlich müssen auch Bundes- und Landtagswahlen allen offenstehen.«

Von diesen Wahlrechtsforderungen steht zwar nichts im Entwurf des Grundsatzprogramms; aber die Richtung in den Köpfen führender grüner Politiker wird klar. Im Gewande der demokratischen Teilhabe für alle wird eine Schwächung der einheimischen Mehrheit des Demos, des Staatsvolkes, angestrebt. Als hätte sie mit ihrer jahrhundertealten Geschichte vor allem Unheil und Menschheitsverbrechen in ihren Kolonien und im Dritten Reich im Gepäck. So notwendig eine deutsche Erinnerungskultur sich diesen Schattenseiten der deutschen Geschichte immer aufs Neue stellen muss, so darf sie nicht darauf reduziert werden, wie es der Programmentwurf tut (§§ 189 f.). Erinnerungswürdig sind auch die konfliktreichen Erfahrungen, die in unserer Geschichte zur Herausbildung von religiöser Toleranz, der Achtung von Menschenrechten und Demokratie, zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts und des Sozialstaats geführt haben, wovon wir in der Bundesrepublik Deutschland heute profitieren und was den Reiz unseres Landes ausmacht.

Die Vorbehalte gegenüber dem eigenen Land haben in der Geschichte der Grünen Tradition. In ihnen lag im Herbst 1989 bis Anfang 1990 begründet, dass die übergroße Mehrheit der Grünen strömungsübergreifend die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten ablehnte. Erst und eher widerwillig schwenkten die Grünen um, als der Wunsch der DDR-Bevölkerung nach Wiedervereinigung überdeutlich wurde (›Wir sind ein Volk‹) und nicht mehr zu übergehen war. Es lohnt sich, hier in Erinnerung zu rufen, was in dieser Zeit Joschka Fischer, seinerzeit Fraktionsvorsitzender der Grünen im Hessischen Landtag und damals schon Möchtegern-Bundesaußenminister eine Woche nach dem Fall der Mauer in einem Strategiepapier »zu einer neuen grünen Deutschlandpolitik« den Grünen ins Stammbuch schrieb (taz v. 16.11.1989):

»Bei aller neugrünen Leidenschaft für nationale Tabubrüche … müssen die unverrückbaren Grundsätze einer politischen Neubestimmung historisch und moralisch unzweideutig klargestellt werden: Wir leben und machen Politik als Linke in jenem Land, das die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau errichtet und betrieben hat und das seinem Führer Adolf Hitler bis zur Selbstvernichtung treu gefolgt ist … Dies ist der eigentliche Grund der deutschen Frage und der deutschen Spaltung. Die Rote Armee kam nicht von selbst nach Berlin. Souveränität und Selbstbestimmung haben hierzulande ihre begründbaren Grenzen, die Nation hat eine nur schwer und über Generationen zu tilgende Schuld, und ein deutscher Nationalismus bringt keine Zukunft mehr für unser Land. In Deutschland 45 Jahre nach Auschwitz auf alles Nationale panisch zu reagieren, ist kein Anlaß zur Scham und Kritik, sondern eine überlebensnotwendige Demokratenpflicht für mindestens weitere fünfundvierzig Jahre.«

In diesen Sätzen ist gleichsam die nach wie vor wirksame DNA der Grünen und der politischen Linken in diesem Land in Bezug auf das Nationale zum Ausdruck gebracht:

1. Die deutsche Spaltung ist nicht nur historisch die Folge, sondern auch moralisch die gerechtfertigte Strafe für die deutsche Schuld an Auschwitz und Hitlertreue.
2. Von deutscher Nation dürfe nur noch im Zusammenhang mit dieser Schuld, und zwar über Generationen hinweg gesprochen werden. Die Kollektivschuldthese bezieht damit auch nachgeborene Generationen mit ein.
3. Nation und Nationalismus werden in einem Atemzug genannt, faktisch gleichgesetzt. Eine Differenzierung ist nicht möglich.
4. Auf alles Nationale ›panisch zu reagieren‹, ist ›Demokratenpflicht‹.
5. Nationale Souveränität und Selbstbestimmung haben in der moralischen Schuld ›ihre begründbaren Grenzen‹. Daher also das Plädoyer für eine Überwindung der Nation in einem supranationalen Europa.

Treffender als Fischer es hier formuliert, kann man das Neurotische an der Haltung der Grünen und der politischen Linken zur eigenen Nation und den moralisch begründeten Selbsthass als Deutsche kaum zum Ausdruck bringen. Konsequent ist es aus dieser Sicht, das Heil von außen her zu erwarten: von Flüchtlingen und Migranten und von einer supranationalen EU.

In einem Interview mit der WELT (v. 22.12.2017) erläuterte Habeck sein ›linkes‹ Verständnis von Patriotismus:

»Linker Patriotismus bezieht sich auf eine Gesellschaft, die nicht ethnisch definiert, sondern Prinzipien verpflichtet ist… Das sind zum Beispiel die Ideen der Moderne, die Werte unserer Verfassung, also Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit, die ja zunehmend ausgehöhlt werden. Und diese lassen sich in einem transnationalen, europäischen Rahmen besser, ich würde sagen: ausschließlich verwirklichen. Also muss doch der Patriotismus größer sein als Deutschland.«

Kein Demokrat wird sich nicht zu diesen Werten eines Verfassungspatriotismus bekennen. Allerdings ist der euphorische Bezug auf den transnationalen europäischen Schutzrahmen illusionär, wie die derzeitigen Brüche und Erosionstendenzen in der EU zeigen (siehe Brexit, mitteleuropäische Staaten). Und dafür ist nicht zuletzt die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung Merkel, von den Grünen im Herbst 2015 stürmisch begrüßt, mitverantwortlich. Und so schließt sich der Kreis zum Entwurf des Grundsatzprogramms.

Im Schlusskapitel »International zusammenarbeiten« wird eine stetige Vertiefung und Weiterentwicklung der EU, perspektivisch hin zu einer Föderalen Europäischen Republik, also zu einem Bundesstaat, gefordert. (§317) Plädiert wird für eine EU-Erweiterung, das Vertrauen in Beitrittsversprechen dürfe nicht enttäuscht werden (§ 327), freie Binnengrenzen und europäische Freizügigkeit seien als Meilensteine der europäischen Einigung zu bewahren (§ 320). Zur Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU soll das Prinzip der Einstimmigkeit durch Mehrheitsentscheidungen in diesem Bereich ersetzt werden. (§ 326) Abgesehen davon, dass mit der Orientierung auf einen EU-Bundesstaat die Funktionen des Nationalstaates zur Sicherung von Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und innerstaatlicher Solidarität geringgeschätzt werden, tragen die grünen Vorstellungen kontraproduktiv den Keim für eine weitere Erosion der EU in sich.

Eine EU-Erweiterung um alle Balkanstaaten, eventuell noch um die Türkei, bei Beibehaltung der EU-Freizügigkeit (Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit) wird die zentrifugalen Kräfte in der EU weiter stärken: Die dadurch ausgelöste EU-Binnenwanderung, noch nicht einmal nur die Armutswanderung, wird den Unmut der einheimischen Bevölkerungen anfachen. Das Beispiel Brexit könnte hier Warnung sein. Die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips in der Außen- und Sicherheitspolitik würde bei den jeweils überstimmten Nationen zu Stürmen der Entrüstung führen, die sich gegen das Projekt der Europäischen Einigung selbst richten würden. Man stelle sich nur einmal vor, dass sich die EU 2003 mehrheitlich für einen Einsatz im völkerrechtswidrigen Irakkrieg entschieden und die Bundeswehr damit in die Pflicht genommen hätte. Ein Aufflammen von Nationalismen in der EU wäre die absehbare Folge gewesen. Wie schnell so etwas auch in Europa geschehen kann, haben die Bürgerkriege beim Auseinanderfallen Jugoslawiens gezeigt.