von Rüdiger Henkel
Meine Frau und mich interessieren die Wahlergebnisse in Thüringen nicht nur als politisches Phänomen, denn obwohl wir seit 1958 im alten Bundesgebiet leben, haben wir dorthin noch persönliche Beziehungen zu Freunden und Verwandten, nicht sehr enge, aber immerhin. Wir besuchten uns gegenseitig, so lange es uns gesundheitlich möglich war, wir telefonieren gelegentlich und stehen im Briefwechsel zu Geburtstagen und zu Weihnachten. Wie es in Deutschland üblich ist, tauschen wir auch unsere politischen Ansichten aus. Folglich haben uns die Ergebnisse der Thüringer Landtagswahl stark berührt, aber nicht völlig überrascht.
Die Wahlbeteiligung betrug 64,9 Prozent, die Linke bekam 31 Prozent der abgegebenen Stimmen und die AfD 23,4 Prozent, das heißt: Jeder dritte Thüringer ist überhaupt nicht wählen gegangen und hat auch die Möglichkeit der Briefwahl nicht genutzt. 54,4 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf Parteien, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Bundesrepublik Deutschland äußerst skeptisch gegenüberstehen. Innerhalb der Linkspartei gibt es nach wie vor aktive Gruppierungen ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter und innerhalb der AfD gibt es waschechte Nazis.
Besteht deshalb die Mehrheit der aktiven Thüringer Wähler aus orthodoxen Kommunisten und bornierten Nationalsozialisten? Diese Schlussfolgerung wäre nicht nur zu einfach, sondern sie ist einfach falsch. Doch politische Meinungen bilden sich langfristig und sind kurzfristig nur schwer zu ändern. Sie beruhen auf wirkungsmächtigen Eindrücken, die die Leute nicht schnell wieder verdrängen. Wir alle wurden Zeugen des Wahlverhaltens zutiefst verunsicherter Menschen. Die Ursachen für das desaströse Ergebnis sind vielfältig.
Schon oft genannt wurden das niedrigere Lohn- und Rentenniveau sowie die wesentlich geringere private Vermögensbildung im Vergleich zu den alten Bundesländern. Das ist auf die Ausgangslage von 1990 zurückzuführen. Außerdem hält sich hartnäckig der falsche Eindruck von der Treuhandanstalt als Instrument zur Zerschlagung der DDR-Wirtschaft. Man muss auch deutlich sagen, dass der weitere Import von Investitionskapital aus dem Westen begrenzt bleiben wird. Der bemerkenswerte Amtsbonus für Bodo Ramelow, ironischerweise ein ›Westimport‹ aus der Zeit nach 1990, spielte ebenfalls eine Rolle. Bestimmte Ereignisse im Westen Deutschlands haben gerade die Menschen im ehemaligen DDR-Gebiet besonders verängstigt. Ich beschränke mich auf die folgenden Beispiele.
Am 18. März 2015 demonstrieren 10 000 bis 15 000 Personen aus ganz Europa in Frankfurt am Main gegen die Währungspolitik der Europäischen Zentralbank, die an diesem Tag ihren Neubau eröffnet. Es kommt zu massiven Ausschreitungen sowie weitgehenden Zerstörungen öffentlichen und privaten Eigentums. Circa 150 Polizisten werden verletzt und 525 Beschuldigte werden zeitweise festgesetzt. Die Bilanz der Justiz ist kümmerlich. Nur einzelne Straftäter konnten bis jetzt verurteilt werden.
Im Herbst und Winter 2015/2016 reisen fast eine Million Migranten ohne ausreichende Kontrolle und ohne klare Auswahlkriterien nach Deutschland ein. An den Folgen dieser Schlamperei werden Behörden und private Hilfsorganisationen noch jahrelang laborieren.
Im Juli 2017 findet der G20-Gipfel in Hamburg statt. Zum Schutz des Treffens der Staats- und Regierungschefs werden circa 20 000 Polizisten aufgeboten, denen es vor allem auf Grund von Führungsfehlern nicht gelingt, massive Gewalttaten von ungefähr 1500 militanten Störern zu verhindern. Der damalige Regierende Hamburger Bürgermeister und heutige Finanzminister Olaf Scholz erklärt anschließend vor einem Untersuchungsausschuss, seine Hoffnung sei, dass eine der Konsequenzen sein werde, dass die Gewalttäter, die gefasst wurden mit sehr hohen Strafen rechnen müssten. Diese Hoffnung hat getrogen, denn die juristische Aufarbeitung der Straftaten steckt immer noch in den Anfängen, und es besteht keine Aussicht mehr auf spürbare Erfolge.
Erinnert sei außerdem an die vorschnelle Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft an schwerkriminelle Clanmitglieder sowie an die milden Strafen für junge Autofahrer, die sich in den Innenstädten illegale Rennen lieferten und dabei andere Verkehrsteilnehmer bedenkenlos töteten oder schwer verletzten. Wenn dazu (bei stetiger Abnahme der Polizeipräsenz) die hohe Zahl der Einbrüche und Diebstähle im deutschen Grenzgebiet zu Polen und Tschechien kommt, darf man sich nicht wundern, dass sich in großen Teilen der Bevölkerung Angst und Mutlosigkeit breitmachen, das Gefühl der Schutzlosigkeit zunimmt, der Wert einer demokratischen Grundordnung in Zweifel gezogen wird und die Neigung wächst, falschen Propheten nachzulaufen. Mut und Entschlossenheit der Regierenden und konsequente Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols sind geboten, um weitere Fehlentwicklungen zu verhindern und andere zu korrigieren.
Natürlich gibt es auch noch andere Gründe für den Erfolg politischer Extremisten. Genannt sei nur die mangelnde Bereitschaft, sich gründlich zu informieren, zu lernen selbst Verantwortung für die Gestaltung des politischen und wirtschaftlichen Alltags zu übernehmen, in Parteien und Organisationen mitzuarbeiten, anstatt sich lediglich auf allen Ebenen verwalten zu lassen und ... und ... und ...
Aber vergessen wir bitte nicht: Thüringen ist das grüne Herz Deutschlands. Eine Reise nach Weimar, Rudolstadt und Saalfeld ist nach wie vor ein kulturelles Erlebnis. In diesem Bundesland begegnet uns die deutsche Geschichte. Wenn wir über die Autobahn von Hessen aus über die ehemalige Demarkationslinie fahren, sehen wir den Hörselberg, um den die Sage vom Ritter Tannhäuser spielt. Wir erblicken die Wartburg, in der Martin Luther Teile der Bibel in die deutsche Sprache übersetzte. In Weimar lebten und wirkten unsere nach wie vor größten deutschen Dichter: Goethe, Schiller und Herder. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wie die Menschen in diesem Bundesland künftig denken und handeln.
Im Zeitalter von Donald Trump ist es unpopulär geworden, ausgerechnet einen prominenten Amerikaner zu zitieren, aber vielleicht hilft uns allen, Thüringern und Nichtthüringern, was Abraham Lincoln einmal gesagt hat:
»Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, wenn ihr die Starken schwächt.
Ihr werdet denen, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, indem ihr die ruiniert, die ihn bezahlen.
Ihr werdet keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr den Klassenhaß schürt.
Ihr werdet den Armen nicht helfen, indem ihr die Reichen ausmerzt.
Ihr werdet mit Sicherheit in Schwierigkeiten kommen, wenn ihr mehr ausgebt, als ihr verdient.
Ihr werdet kein Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten und keinen Enthusiasmus wecken, wenn ihr dem einzelnen seine Initiative und seine Freiheit nehmt.
Ihr könnt Menschen nie auf Dauer helfen, wenn ihr für sie tut, was sie selber für sich tun sollten und könnten.«