von Lutz Götze
Der Niedergang scheint unaufhaltsam. Die verheerenden Wahlergebnisse in Bremen und bei der Europawahl haben die deutsche Sozialdemokratie in eine tiefe Krise gestürzt; der Rücktritt der Parteichefin setzte dem die Krone auf.
Seither herrscht Panik im Willy-Brandt-Haus: Ein Triumvirat aus einem Politveteranen, einer kranken Ministerpräsidentin und einer bereits in Mecklenburg-Vorpommern überforderten Regierungschefin soll es interimistisch regeln, die Bundestagsfraktion hat eine Übergangsregelung für ihren Vorsitz getroffen. Das Weitere sollen ein Sonderparteitag oder eine Mitgliederbefragung bestimmen. Einige sogenannte Führungspersonen haben bereits abgewinkt, als sie auf eine Kandidatur für den Parteivorsitz angesprochen wurden. Wann hat es das jemals in der ältesten deutschen Partei gegeben: Das Amt des Vorsitzenden findet keinen Interessenten! Hat die Gnadenlosigkeit, mit der, nach gerade mal einem Jahr, die Vorsitzende Andrea Nahles aus dem Amt gemobbt wurde, so schwere Wunden geschlagen und verheerende Nachwirkungen erzeugt?
Zweierlei rächt sich heute: der Einstieg in eine dritte Große Koalition vor Jahresfrist und, daraus folgend, die Profillosigkeit und Unerkennbarkeit dessen, was die Sozialdemokratie in Deutschland eigentlich noch will. Beide schwerwiegenden Fehler erfuhren obendrein eine dramatische Zuspitzung durch eine strukturelle Veränderung weltweiten Charakters: die Bindungslosigkeit zumal der jüngeren Generation an die eine oder andere Partei und, damit verbunden, der Niedergang der Volksparteien. Das Problem, ob sie überhaupt noch gebraucht werden, wird offen diskutiert. Schon gefällt es Kabarettisten wie Bruno Jonas, der deutschen Sozialdemokratie eine Verstaatlichung mit wöchentlich wechselnden Vorsitzenden zu empfehlen, damit auf diese Weise wahre Demokratie gelänge: Jedes Parteimitglied säße binnen überschaubarer Zeit einmal auf dem Chefsessel.
Spaß beiseite. Man meint, die europäische Sozialdemokratie hätte Grund genug, über Fehler, Ziele und Visionen nachzudenken, denn es ist ein Problem des gesamten Kontinents: Sozialdemokraten und Sozialisten haben in den vergangenen Monaten nahezu überall verloren. Frankreich, Italien, die Niederlande und Österreich sind Beispiele, dass die Sozialdemokraten jüngst in Dänemark zwar an Stimmen verloren, doch die Wahl gewonnen haben, ist lediglich ihrem strammen Rechtskurs etwa in der Asylfrage zu verdanken.
Ganz besonders die deutsche Sozialdemokratie wäre also gut beraten, radikal ihre aktuelle Situation zu überdenken, zumal sie in einem historischen Stimmungstief steckt. Nach dem Nahles-Desaster ist die SPD bei etwa 15 Prozent der Wählerunterstützung angelangt. Doch was tut die Partei? Sie kungelt weiter, redeniert über eine zukünftige Doppelspitze, bestimmt jene drei Übergangsvorsitzenden, die allesamt sogleich erklärten, sie strebten im Herbst keineswegs das Amt des Parteivorsitzenden an. Daneben werden vermeintliche Fakten aus dem Führungsgremium flott weiter an ›Influencer‹ durchgestochen, wird nach Belieben fraktioniert und bildet sich im Ruhrgebiet ein Häuflein vermeintlich Aufrechter, die von der ›wahren SPD‹ faseln, die natürlich sie selbst repräsentierten. Zwischendurch lädt, wie seit Jahren üblich, der ›Seeheimer Kreis‹ zum Intrigantentreffen namens ›Spargelausflug‹ ein, bei dem heftig jedermann mies geredet wird und, gerade deshalb, keiner oder keine der präsumptiven Kandidaten fehlen darf, also auch sogenannte parlamentarische Linke. Fraktionierung und Spaltergeist feiern fröhliche Urständ! Den Ernst der Lange hat man dort, so scheint es, nicht begriffen.
Da erklärt mancher Neunmalkluge, Streit sei in dieser ältesten Partei Deutschlands schon immer an der Tagesordnung gewesen und verweist auf die Lassalleaner und die Eisenacher im 19. Jahrhundert, auf die SPD und die USPD zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf die Jungsozialisten und den Sozialistischen Deutschen Studentenbund in der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts und noch manches mehr. Das freilich waren handfeste und fundamentale politisch-ideologische Auseinandersetzungen, häufig auf hohem theoretischem Niveau bei gleichzeitiger geringer Bodenhaftung. Heute hingegen geht es, passend zum Zeitgeist – also einer Zeit, der der Geist abhandengekommen ist – im Wesentlichen um Eitelkeiten, extrem Persönliches, um Machtgier und Machiavellismus. Es geht um Personen, die einander nicht leiden können und die das Chatten, Twittern und Versenden von SMS-Nachrichten gegeneinander gegenüber dem Gesprächs miteinander bevorzugen. Und im medialen Raum wird bekanntlich gegeifert und gehetzt nach Belieben; vom Thymos des Platon, also den drei Grundlagen menschlichen Gemüts: dem Begehren einerseits, der Vernunft andererseits und, drittens der blinden emotionalen Leidenschaft, mithin der Wut, der Raserei und dem Zorn, bleiben am Ende nur Wut und Hass übrig.
Marc Jongen, Schüler Peter Sloterdijks, hat dessen Dualismus von Zorn und Zeit (2006) zum politischen Kampfbegriff umgemünzt. Er fordert, Vernunft und Verstand in der politischen Auseinandersetzung, mithin die ›logos-zentrierte Mäßigung des Deutschen‹, zurückzudrängen und die thymotische Energie zu einer erfolgreichen Verteidigung des ›Eigenen‹ und zum Kampf gegen das ›Fremde‹ zu forcieren. Seine Reflexionen haben das ›Wörterbuch des Unmenschen‹ neuerer Prägung, also die Sprache der Rechtsradikalen und Populisten, seit Jahren wesentlich beeinflusst. Es besteht heute freilich Anlass zur Vermutung, dass diese Diktion der Irrationalität, des Ausgrenzens und des Hasses via Internet und (anti)soziale Medien bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Was ist das Gebot der Stunde für die deutsche Sozialdemokratie? Der kleine Stadtstaat Bremen gibt eine überaus plausible Antwort. Statt hinter vorgehaltener Hand oder öffentlich übereinander herzuziehen, wird das seit Jahren propagierte Mitte-Links-Bündnis von SPD, Grünen und der Partei Die Linke in praktische Politik umgesetzt. Koalitionsverhandlungen mit dem Ziel einer neuen Politik stehen an; es bleibt zu hoffen, dass eine neue Mitte-Links-Koalition zustande kommt. Sie wäre die erste ihrer Art in Westdeutschland und könnte Auswirkungen auf die Große Koalition in Berlin haben, denn deren Tage sind gezählt. Ähnlich, wie ich vor Jahresfrist vor der Großen Koalition mit dem Verweis auf den Untergang Karthagos (Wider eine Große Koalition) gewarnt hatte, sehen es heute viele Beobachter: Die Große Koalition ist am Ende, es eint sie nur noch die gemeinsamen Fehler der sie tragenden Parteien.
Was bleibt? Ein radikaler Neuanfang anstelle des bereits von den Koalitionsfraktionen beschlossenen ›Weiter so!‹. Dahinter steckt naturgemäß die Angst der Abgeordneten vor dem Verlust der satten Diäten, denn sie wissen, dass ein gutes Drittel von ihnen es bei Neuwahlen nicht mehr in den Bundestag schaffte, also erhebliche finanzielle Einbußen erlitte. Inhaltlich hingegen gibt es nichts, was eine Fortführung rechtfertigte: Die Koalition ist konzeptionell ausgelaugt.
Eine neue Koalition, bestehend aus Sozialdemokratie, den Grünen und der Partei Die Linke, ist das Gebot der Stunde, mithin die Verbindung der Grundideen dreier Parteien. Sie wäre die vernünftige Antwort auf die Grundtorheit unserer Epoche, nämlich die ›Ökonomisierung‹ des gesamten Lebens. Angefangen hatte es mit der Forderung keineswegs lediglich der Kanzlerin, die Bundesrepublik Deutschland brauche eine ›marktkonforme Demokratie‹, also die Indienstnahme aller politischen und privaten Entscheidungen durch wirtschaftliche Interessen. Damit wäre konsequenterweise das demokratische Gemeinwesen unmittelbar bedroht.
Inzwischen werden weltweit alle Entscheidungsprozesse ökonomisch formuliert, begründet und verwirklicht: Interessenkonflikte, etwa die zwischen den USA und China, den USA und dem Iran oder zwischen Russland und der Europäischen Union, werden auf der Grundlage ökonomischer Zielsetzungen getroffen. Es geht um Exporte und Importe, Börsenkurse, Wachstumsraten, feindliche Übernahmen und Handelskriege als Vorbote militärischer Auseinandersetzungen – derzeit am brutalsten zu erkennen im USA-Iran-Konflikt. Alle anderen Fehler der Moderne folgen daraus und auf dem Fuße: Die De-Humanisierung des Mittelmeers mit freien Häfen für Waffenexporte und geschlossenen für Flüchtlinge, Waffenexportgenehmigungen für Lieferungen in Krisenzonen, Hinauszögern einer Digital-und Transaktionssteuer auch durch die Bundesregierung, Aufkündigung der Pariser Klimavereinbarung durch die USA, Verschleppen einer Reduzierung des Kohlendioxyd-und Stickstoffdioxyd- Ausstoßes, Mittäterschaft der Bundes-und anderer Regierungen bei der Sicherung von ›Steuerparadiesen‹ für Großinvestoren und auch bei Cum-Ex und Cum-Cum-Geschäften der Großbanken, Dieselbetrug und vielem mehr.
Die dabei benutzte Sprache ist verräterisch: Die Börse ›steigt‹ oder ›fällt‹, heißt es in den Nachrichten, als handele eine Instanz Börse und nicht Menschen mit konkreten Interessen. Andererseits wird Adam Smith bemüht mit seiner Hypothese von der ›unsichtbaren Hand‹, die den Markt lenke. Richtig ist freilich vielmehr, dass der Markt kein Abstraktum ist, sondern Angebot und Nachfrage – wenn es sie bei steigender Monopolisierung überhaupt noch gibt – von Menschen und Interessenverbänden formuliert und nach Belieben und Vorteilssuche manipuliert werden. Ein anderer, die Köpfe vernebelnder Spruch lautet: ›Wenn jeder an sich denkt, wird an alle gedacht‹. Auf diese Weise sollen der hemmungslose Egoismus und die Raffgier des Einzelnen sozial verbrämt und die Strategie des Neoliberalismus hoffähig gemacht werden. Den Vogel aber dürfte wohl das Neuwort ›grenzübergreifende kreative Steuergestaltung‹ für den kriminellen Tatbestand des Steuerbetrugs abgeschossen haben. Ich schlage hiermit diese ›Neuschöpfung‹ für das Unwort des Jahres 2020 vor.
Unter das Joch des Vermarktungs-und Mehrwertprinzips aber sind auch alle Bereiche der Kultur, der Freizeitgestaltung und des Kaufverhaltens der Menschen von einer ›Freizeitindustrie‹, neudeutsch: ›Event-Culture‹ gezwängt worden. Die Vermarktung der Künste wie Literatur, Musik und Malerei hat gigantische Ausmaße angenommen: Was einzig zählt, ist der Verkaufswert der Ware. Der Rest ist Schweigen.
Der Massentourismus führt zu seit Jahren steigenden Vernichtungszahlen von Natur und Umwelt, wird aber trotzdem, genauer: eben deshalb, von ›Analysten‹ als ausbaufähig angesehen.
Das Kaufverhalten der Menschen hat zu Riesenbergen weggeworfener Güter und Lebensmittel, die noch genießbar sind, geführt: Während, glücklicherweise, langsam ein Umdenken der Bevölkerung etwa bei der Benutzung von Plastiktüten erkennbar ist, erfahren wir, dass Großhändler wie Amazon mindestens ein Drittel aller retournierten Sendungen, obwohl noch brauchbar, sofort vernichten.
Eine radikale Neuorientierung
Alle diese Fehler, Missstände und Verbrechen folgen dem Prinzip der Ökonomisierung des gesamten Lebens rund um den Globus. Vorgegeben von der kapitalistischen Welt, folgen ihr gläubig und interessengeleitet China, Russland und alle anderen nicht-demokratischen Staaten. Ein Umdenken und Umlenken kann nur in Europa geschehen – wenn der Kontinent fähig wäre, mit einer Stimme zu sprechen. Danach sieht es freilich derzeit keineswegs aus: Großbritannien führt täglich seine Unberechenbarkeit und seine Isolation vor, die östlichen Staaten der Union – Ungarn, Tschechien und Polen – sowie Österreich und Italien driften in nationalistische Großfantasien ab. Umso wichtiger ist ein radikaler Neuanfang in Deutschland mit einer Rot-Grün-Roten Koalition auf der Grundlage eines ethischen Wertekonzepts, vereinigend die Fähigkeiten der Sozialdemokratie mit ihrem Grundanliegen der sozialen Gerechtigkeit und der Friedenspolitik nach innen und außen, sodann der Grünen mit ihrer ökologischen Kompetenz und schließlich der Partei Die Linke mit ihrem sozialen Anliegen und frei von außenpolitischen Traumtänzereien wie dem Austritt aus EU und Nato. Der Versuch muss gewagt werden. Die Zeit verlangt es.