von Lutz Götze

Das Phänomen ist nicht neu. Öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten haben sich dem seichten Dünnbrettbohren der Privaten angepasst, ›Qualitätszeitungen‹ versuchen ihr Überleben durch Übernahme von Inhalten und, gelegentlich, falschen Nachrichten der Regenbogenpresse zu sichern. Die weltweite Verbreitung der asozialen Netze Facebook und Twitter hat das Geschwätz hoffähig gemacht und Verstand und Vernunft aus dem Gespräch der Menschen vertrieben. Daran hat sich die Mehrheit der Bevölkerung in wachsendem Maße gewöhnt, genauer: Sie selbst forciert diesen Verfall. Nicht einmal die Ankündigung von Facebook und Apple, demnächst weltweit die Verbreitung aller Nachrichten zu übernehmen, schreckt sie auf.

Doch es ist inzwischen schlimmer geworden. Das globale Vordringen der digitalen Sphäre beeinflusst nicht nur Wahlen – Beispiele sind die US-Kongresswahlen, die anstehenden Europawahlen und nationale Wahlen wie in der Ukraine und in Schwarzafrika –, sondern manipuliert deren Ergebnisse und verfälscht Entscheidungen des Wählers. Damit erodiert das Fundament einer demokratischen Gesellschaft. Doch auch daran hat sich, ganz offensichtlich, die Masse bereits gewöhnt, wie die müde Reaktion auf den Mueller-Bericht über die Machenschaften des US-Präsidenten Trump zeigt.

Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um das Ganze: ein System, in dem es als normal gilt, den öffentlichen Raum als Verlängerung der Ökonomie zu betrachten. Das heißt in nuce, auch die private Sphäre und der politische Raum werden als Exerzierfeld wirtschaftlicher, mithin kapitalistischer, Interessen verstanden. Das klassische Beispiel dessen ist die angelsächsische Welt: Seit Oliver Cromwell den Niederländern 1651 die Navigationsakte aufzwang, war britische Politik immer Merkantilismus. Für den derzeitigen US-Präsidenten Trump ist jede politische Handlung ein deal, wie zuvor in der Wirtschaft. Theresa Mays Verhandlungen mit der Europäischen Union waren von Anfang an ein Geschäft, das später den Namen Brexit-deal erhielt. Angelsächsische Denker waren nie Philosophen im Sinne Platons oder Kants, also Ideenschöpfer, sondern Kommerzielle, die dem Volke das Wirken des Marktes auch in der Politik erklärten.

Seit dem Vordringen des Neoliberalismus in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und dem Verfall des vermeintlich sozialistischen Lagers gilt es als gerechtfertigt – wenn nicht logisch –, dass Manager aus rein egoistischen und raffgierigen, genannt ›erwerbsorientierten‹, Motiven öffentliche Ämter anstreben und in der Politik ihre in Unternehmen erworbenen Fähigkeiten und Aktivitäten fortsetzen. Die Methoden bleiben die gleichen. Politik ist dann kein Engagement mehr für eine Gesellschaft, sondern eine andere Form der privaten Bereicherung. Der homo oeconomicus tritt an die Stelle des homo sapiens. Lohnt sich das öffentliche Amt nicht mehr, fließt also nicht mehr genügend Geld in die Privatkasse oder wird man beim Betrug erwischt, ist ein Rückzug in die Wirtschaft, vorzugsweise auf wohldotierte und wenig Arbeit bereitende Posten wie Aufsichtsräte, empfehlenswert. Ähnliches gilt für Politiker beiderlei Geschlechtes, die nicht aus der Wirtschaft stammten, aber die Politik als Sprungbrett in die Sphäre der gigantischen Bereicherung nutzen. Beispiele gefällig? Gerd Schröder, Tony Blair, Nicolas Sarkozy, Bill und Hillary Clinton, Roland Pofalla und viele andere. Das alles gilt als normal, wenn nicht sogar moralisch gerechtfertigt. Die Hemmschwelle dessen, was erlaubt oder gar ethisch verantwortbar ist, sinkt mit jedem Tag.

In dem Maße, in dem die Masse der Bevölkerung diese Entwicklung akzeptiert, toleriert oder gar fördert, wächst ihr Zynismus. Wenn die ›da oben‹ so handeln und damit erfolgreich sind, ist es, so die communis opinio, nur richtig und der Natur entsprechend, wenn sich die Masse ebenso verhält. Die mehrheitlich in Mittelmeeranrainerstaaten wie Griechenland und Italien vorherrschende Überzeugung, der Staat betrüge den Bürger, weshalb der Bürger ein Gleiches tun müsse, um das nötige Gleichgewicht herzustellen, greift auch hierzulande um sich und führt immer häufiger zu Betrügereien, die als Kavaliersdelikt gelten: Steuerhinterziehung, als ›grenzübergreifende kreative Steuergestaltung‹ deklariert, erkaufte oder durch Plagiat ergaunerte Doktortitel, flächenweise dubios verfasste akademische Arbeiten, Bestnoten an Gymnasien, die nichts als Schwindel sind, um Lehrer vor Klagen erboster Eltern oder Gewalttaten von Schülern zu bewahren. Die Liste ist offen.

Damit einher geht ein allgemeiner Bildungsverfall. Was Wunder, wenn die junge Generation täglich Stunden in der Irrealität des Internet verbringt, Facebook-Informationen aufsaugt und sich ansonsten die Ohren mit gerade ›angesagter‹ Popmusik volldröhnt! Jetzt sollen per Digitalpakt auch noch die Unterrichtsstunden medial verbracht werden, als sei es mit der Verblödung per Netz am Nachmittag oder in der Nacht nicht schon schlimm genug! Fatal aber ist nicht nur diese Seite der Entwicklung: Weit schlimmer noch ist die Absenkung der Gewalt-Hemmschwelle in den Schulen als Folge des Internetkonsums: Wer andere bedroht oder sich selbst bedroht fühlt, bringt immer häufiger Waffen mit in den Unterricht. In den Pausen dann eskaliert die Gewalt. Forscher des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen haben dramatisch steigende Zahlen von Raubdelikten, Erpressung, sexueller Gewalt und Körperverletzung ermittelt – weit entfernt von den Schönfärbereien offizieller Bundesstatistik. Anerkennung, so die Forscher, erlange danach ein Schüler, der andere terrorisiere oder zusammenschlage. Dass er die Schule schwänze oder in der siebten Klasse ›abgegangen‹ sei, tue nichts zur Sache.

Das alles, so die Schönredner, gab es auch früher schon, allenfalls vielleicht nicht in dem Ausmaße wie heute. Hinzu aber kommt, und das ist neu, die alltägliche Gewalt im Internet: Schulkameraden werden gemobbt, Schülerinnen sexuell bedroht oder verunglimpft. Zwanzig Prozent der Schülerinnen und Schüler erleben ›Cyberbullying‹, so die Studie: Darunter versteht man die Verbreitung entblößender Fotos, Videos oder die Aufforderung zu sexuellen Handlungen durch Mitschüler. Die Opfer leiden immer häufiger an Depressionen.

Die Absenkung der ethischen Hemmschwelle freilich betrifft auch die ältere Generation, etwa jene Sechzigjährigen und älteren Senioren, die noch in Konzerte der sogenannten ernsten Musik oder in Theater gehen. Jüngstes Beispiel in München: Da wird eine Revue im Residenztheater aufgeführt, einem Staatstheater, das einstmals zu den führenden Schauspielhäusern der Republik gehörte. Der Titel: Eine göttliche Komödie. Dante-Pasolini. Der Zuschauer erwartet eine Aktualisierung der divina commedia mit Blick auf das Wirken des großen Regisseurs Pier Paolo Pasolini. Gezeigt freilich wird eine sado-masochistische Schau am Strande von Ostia mit einer Gruppe von homosexuellen Männern, die aufeinander einschlagen, sich an die Genitalien fassen und brutal ihre Nacktheit prostituieren. Einige wenige Zuschauer verlassen den Saal vorzeitig; die Mehrzahl, zumal Frauen, betrachtet hingegen interessiert die nackten Körper, telefoniert zwischendurch ihre neuesten Erkenntnisse an Freundinnen irgendwo und applaudiert dem ekligen Schwachsinn am Ende vehement. Die Verrohung schreitet voran. »Hier wendet sich der Gast mit Grausen«, heißt es im Ring des Polykrates bei Schiller.

Die Künstliche Intelligenz (KI) gebe dem Menschen die Möglichkeit, die Welt neu zu ordnen, so Daniel C. Dennett, einer ihrer eher zurückhaltenden Apologeten. Doch er verweist zumindest auf die nicht mehr latente Gefahr, dass in absehbarer Zeit der Computer den Menschen steuere und nicht umgekehrt. Freilich ist sein Ratschlag für die Zukunft fatalistisch: Die Menschen sollten überhaupt nicht erst versuchen, den Maschinen Bewusstsein oder gar Ethik anzutrainieren, sondern sie als eine vollkommen neue Spezies begreifen: wie ein Orakel, ohne Gewissen, ohne Gefühle wie Liebe oder Hass, ohne Persönlichkeit und Charakter. Gelänge dies, hätte die Menschheit eine Überlebenschance. Zwei Welten mithin.

Die Wirklichkeit sieht bereits heute anders aus. Da werden an den Universitäten Generationen von hochqualifizierten Physikern, Informatikern und Cyberexperten ausgebildet, die freilich später Arbeiten verrichten, für deren Ausübung ein Realschulabschluss ausreichte. Sie sind Sklaven der Maschinen, die Dummheiten generieren, Chauvinismus und Hassstrategien weltweit verbreiten und die Menschen in fiktionale Welten entführen, aus denen die kritische Vernunft vertrieben worden ist. Das ist heute im Überwachungsstaat China bereits Realität; Russland, Saudi-Arabien und ähnliche Diktaturen folgen auf dem Fuße.

Was Hoffnung stiftet in diesem apokalyptischen Szenario, sind die Proteste junger Leute, die für ein menschenwürdiges Leben der Zukunft demonstrieren. Sie wissen, dass es ihr Klima ist, das sie retten müssen. Die überqualifizierten Dummköpfe in Wirtschaft und Politik tun seit Jahrzehnten das Gegenteil.

 

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