von Ulrich Schödlbauer

Als Angela Merkel antrat, das politische Koordinatensystem der Bundesrepublik zu verschieben, da konnte sie nicht wissen, welche Katastrophe sie für die bis dahin im bunten Wechsel regierenden Volksparteien heraufbeschwor. Sie führte ja nur aus, was Parteistrategen seit langem im Auge hatten: die schwarze Null an die neuen demographischen Gegebenheiten heranzuführen. Weiblicher, grüner, weltoffener sollten die Werte der Union künftig sein. Man wollte in fremden Revieren wildern, um nicht auf dem eigenen Hinterhof zu vergammeln. Als der Hinterhof rebellierte und eine neue Partei ausspuckte, da war es Merkels Genie, darin nicht, wie die verblendeten Genossen, Gefahr von Rechts, sondern die Seligkeit einer immerwährenden Kanzlerschaft mit wechselnden Komparsen zu erkennen – Hauptsache, es gelang, den eben erst abgehängten, ehemals ehernen Stamm der eigenen Anhängerschaft als eine Gefahr für das Gemeinwesen zu verunglimpfen und in die parteipolitische Quarantäne zu schicken.

Der bemerkenswerteste Satz des Rundschreibens, in dem die Kanzlerin dem Parteivolk ihren geplanten Abgang auf Raten erklärt, steht im letzten Absatz: »Ich bin mir bewusst, dass ein solches Vorgehen in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel ist.« Man weiß nicht genau, ob er sich auf den geplanten Verzicht auf den Parteivorsitz oder auf das Auslaufenlassen der Kanzlerschaft mit dem Ende der Legislaturperiode bezieht. Ersteres wäre, siehe Schröder, falsch, letzteres in der Tat eine Novität, sofern es gelänge. So, als Verfahrensplan, ist es ein weiteres Beispiel für jene Hybris, die peu à peu zum Markenzeichen dieser Kanzlerschaft geworden ist. Eine Regierungschefin konstatiert das Scheitern der von ihr angeführten Regierung in Worten, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen – obwohl sie immer noch hinter der Realität, die länger zurückreicht und andere remedia erforderte, zurückbleibt –, und wünscht es über die Runden der angebrochenen Legislaturperiode zu bringen, mit einem Evaluationstermin zur Halbzeit, der ihr vom Koalitionspartner aufs Auge gedrückt wurde, als handle es sich beim Regieren um die Abarbeitung eines in fixe Termine eingebundenen DFG-Projekts an der Humboldt-Universität.

Der absurdeste Satz des Schreibens aber lautet: »Ganz egal, ob man immer an allem Schuld ist: Aber als Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende trage ich schon qua Amt die Verantwortung für alles.« Das erinnert ans TINA (»There Is No Alternative«) der seligen Margaret Thatcher und ihr Merkelsches Pendant der ›Alternativlosigkeit‹, mit dessen Hilfe sie all ihre großen Entscheidungen durchzog, vor allem weil, angesichts der übergroßen Fügsamkeit des deutschen Parlaments, ein ›Durchpeitschen‹ nicht vonnöten war: Bankenrettung, Euro-Rettung, vorgezogene AKW-Abschaltung, Energiewende, Verzicht auf Grenzkontrollen in der Flüchtlingskrise. Nicht umsonst heißt die AfD, als ehemalige Euro-Protestpartei, Alternative für Deutschland, sehr zum Ärger der Parteien des Spektrums links von der CDU, die damit ihres Alleinstellungsmerkmals verlustig gingen und nolens volens den Zusatz ›für Deutschland‹ aus ihren Programmen streichen mussten, um sich überhaupt von der entstandenen Hybridformation aus neuen und alten Mitte-Rechts-Kräften abzusetzen. Was Merkel wohl zuerst nicht verstand und später rücksichtslos auszunützen lernte, war der gut verborgene Umstand, dass die gemäßigte bundesdeutsche Linke bis heute niemals zu einer eigenen Statur gefunden hat, sondern, verglichen mit den von den C-Parteien vorgelegten Standards, sich darauf beschränkte, etwas anderes oder einfach nur mehr zu fordern: im Ernstfall mehr Sozialstaat, aber es fällt auch anderes darunter.

Willy Brandts Ostpolitik, der einzige genuine, von der übergroßen Mehrheit der Partei getragene Beitrag der SPD zur westdeutschen Politik, hob diese Partei in die durch das lange Kohlsche Interregnum unterbrochene Regierungsverantwortung, Schröders von der Partei niemals akzeptierte Hartz IV-Gesetze beendeten sie. Was sich unter Merkel Große Koalition nennt, ist eine Art Treuhandtätigkeit zur Verwaltung der Alternativlosigkeit, für die Merkel, siehe oben, ganz und gar die Verantwortung trägt. Das klingt hart, aber es ist vermutlich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wie das Abtauchen des ›Partners‹ der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage ebenso lebhaft bezeugt wie der fleißig mitgetragene Einstieg in die Zensurgesellschaft und das seither grassierende, einer liberalen Gesellschaft unwürdige Aufpasserwesen. Dass heute die Grünen auf dem Vormarsch sind, verdanken sie, neben den Fehlern der Regierungsparteien und den Erfolgen der AfD, dem Umstand, dass die Regierungspolitik in punkto Luftreinheit und Grenzenlosigkeit seit Jahren irrealisiert: Wer maßlose Hoffnungen weckt, wird zur Geisel derer, die mit Maßlosigkeit am geschicktesten zu jonglieren verstehen.

Katastrophen kommen nicht immer über Nacht, manche von ihnen kommen schleichend, sie haben sich lange angekündigt, zu lange, um noch ernst genommen zu werden. Von dieser Art sind die von Merkel zu verantwortenden Katastrophen, gleich ob finanzieller, energiewirtschaftlicher, bevölkerungspolitischer, ordnungspolitischer, europapolitischer oder parteipolitischer Natur. Es geht den Bewohnern dieses Landes mit ihnen wie den frühen Christen mit dem Reich Gottes: Gleichgültig, ob man der Auffassung ist, sie seien bereits eingetreten oder sie stünden erst noch bevor, werfen die Folgen dessen, was doch erst morgen und übermorgen auf der Agenda stehen soll, bereits hier und jetzt einen übergroßen Schatten. Merkels Angebot an alle, ihr an allem die Schuld zu geben, enthält die klare Aufforderung, sie zum Sündenbock der deutschen Politik und der durch sie zu verantwortenden Verhältnisse zu erklären. Damit gibt sie unumwunden den AfD-Rednern und -Wählern recht, die seit Jahr und Tag nichts anderes behaupten, und setzt all jene Unterstützer im eigenen Lager und dem der paralysierten ›Partner‹ ins Unrecht, die in ihr, ebenfalls seit Jahr und Tag, einen ›Glücksfall für Deutschland‹ zu sehen sich angewöhnt haben. Das ist allerdings ein ungewöhnlicher, um nicht zu sagen ungeheuerlicher Vorgang.

Es geht den Parteien links von der CDU wie den Europäern mit Trumps Amerika: Sie haben sich in ihren Abhängigkeiten eingerichtet und reagieren mit schülerhafter Panik, seit der Stützbalken weggezogen wurde. Was ist links? Mit dem Verlangen nach ein bisschen mehr Gerechtigkeit wird man es ebenso wenig erjagen wie mit dem Verlangen nach ein bisschen mehr Grenzoffenheit oder Rücksichtnahme für straffällig gewordene Migranten oder ein bisschen weniger NOx in der Luft oder ein bisschen mehr Sozialverträglichkeit bei etwas schnellerem Stellenabbau im ohnehin abzubauenden Tagebau. Das freut die Leute, die dem Links-Rechts-Gegensatz in der Politik seit langem nichts abzugewinnen wissen, weil er die wirklichen Probleme vernebelt. Sie übersehen dabei, dass die parlamentarische Sitzordnung, durch wen auch immer, gefüllt werden muss. Linke und rechte Parteien wird es geben, solange die parlamentarische Demokratie besteht und solange konkurrierende Programme helfen werden, das Dickicht des Möglichen zu lichten. Wer alles Mögliche will und allerlei Unmögliches dazu, ist mit Sicherheit weder links noch rechts, sondern töricht. Wer gewählt werden will, ›damit die Rechten nicht das Sagen haben‹, um anschließend, unter welchem Etikett auch immer, ihre Politik zu betreiben, der ist vielleicht nicht töricht, aber er spekuliert auf die Torheit der Zeitgenossen. Wer nicht mehr gewählt werden will, weil die Abonnements in der ersten Reihe noch nicht aufgebraucht sind, der darf sich ab jetzt als Merkel-Opfer ausgeben und Wiedergutmachung verlangen. Dagegen hilft nur eins: Schuld für alle!

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